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Wie die Ukraine-Solidarität Putin in die Hände spielt

Themen des Tages: Frontale Kritik an einer Partei in Österreich. Der Krieg gegen Flüchtlinge. Und die deutsche Propagandahilfe für Wladimir Putin.

Liebe Leserinnen und Leser,

1. Warum der Satz "Wehret den Anfängen" in Wien wie Berlin ernst genommen werden sollte.

2. Wer den Soziologen Harald Welzer aufgrund dessen Medien-Kritik kritisiert – und ihn damit bestätigt.

3. Und auf Seite 2 lesen Sie: Weshalb sich der Kreml-Chef über das Berliner Oberverwaltungsgericht freuen dürfte.

Doch der Reihe nach.

Antidemokraten konfrontieren

Wenige Tage vor den Gedenktagen zum Ende des Zweiten Weltkriegs in Europa Anfang dieser Woche hatte das österreichische Parlament am vergangenen Freitag bereits der Opfer des Nationalsozialismus gedacht. Im Mittelpunkt der Veranstaltung stand das ehemalige Konzentrationslager Gusen östlich von Linz, deren Gebäude heute eine Gedenkstätte beherbergen.

Mit deutlichen Worten wandte sich der deutsch-französische Jurist, Philosoph und Publizist Michel Friedman an die Parlamentarier, allen voran die rechte FPÖ, deren Namen er nicht aussprach:

Friede, Freude, Eierkuchen herrscht deswegen noch lange nicht. Noch lange nicht! Auch in diesem Land nicht! Und um das in diesem Parlament zu machen, ist es mir als Demokrat und Parlamentarier die höchste Ehre, Ihnen, die sie Antidemokraten sind, das ins Gesicht zu sagen.

Michael Friedman

Telepolis hat sein Statement dokumentiert [1].

Flüchtlinge abwehren

"Die Europäische Union führt Krieg gegen Flüchtlinge", schreibt Telepolis-Redakteur David Goeßmann am heutigen Mittwoch [2]: "Nicht erst seit heute. Sondern schon lange." Begonnen habe dieser Krieg spätestens mit den militärischen Tragödien auf dem Balkan in den 1990er-Jahren Flüchtlinge abwehren

Damals wurde das sogenannte Dublin-System aus dem Boden gestampft und der deutsche Asylschutz abgewrackt, inklusive Grundgesetzänderung, um sich gegen die von dort Fliehenden zu "schützen". Seitdem hat Deutschland das restriktivste Asylrecht aller europäischen Staaten.

David Goeßmann

Am heutigen Mittwoch kommen Bund und Länder zu einem sogenannten Flüchtlingsgipfel zusammen. Telepolis wird das Thema in mehreren Beiträgen verfolgen.

Kontroversen verteidigen

Mit der jüngsten Kontroverse mit und um den Soziologen Harald Welzer [3] befasste sich am Dienstag Telepolis-Redakteur Thomas Pany.

Er befindet: In einem Punkt treffe Welzer voll ins Schwarze, wobei ihm auch seine Kritiker recht geben: Wer abweichende Lesarten veröffentliche oder versuche, "den beschränkten Diskurs zu erweitern", riskiere, "mit einer geradezu schäumenden Diskreditierung belegt" zu werden. Das schreibe Welzer in einem Beitrag über die deutsche Medienberichterstattung zum Ukrainekrieg.

Ende April wurden Kritiker Welzers auf seine "Inhaltsanalyse", erschienen in der Zeitschrift Neue Rundschau des Fischer Verlags, aufmerksam. "Wir können es kurz machen", kommentierte das Leitmedium FAZ: "Es ist nicht mehr als die Karikatur einer Studie." Carlo Masala, Politikwissenschaftler an der Universität der Bundeswehr in München, bekannt als engagierter Befürworter der Waffenhilfe für die Ukraine, hält Welzer Laientum, Unkenntnis, Ignoranz, Abkanzeln vor. Dessen Zeitschriftenbeitrag sei ein "weiteres, relativ mieses Stück der ad hominem Verleumdung".

Wie deutsche Justiz und Polizei Putin helfen

Der Tag der Befreiung vom NS-Regime – oder eben der Tag der Niederlage, wie ihn weniger demokratisch gesinnte Zeit- bis Volksgenossen nennen – wurde in der Bundeshauptstadt Berlin von einem seltsamen Flaggenstreit begleitet. Dem Disput lag ein skurriles Urteil des Berliner Oberverwaltungsgerichtes zugrunde, das von der Polizei auf noch skurrilere Weise umgesetzt wurde.

Die Sache könnte nun als Berliner Provinzpose abgetan werden, wenn sie nicht einen ernsten Hintergrund hätte. Doch der Reihe nach.

Vor dem Hintergrund des russischen Krieges gegen die Ukraine waren erst ukrainische und russische Fahnen verboten, die Symbole der Konfliktseiten also. Die Berliner Polizei wollte so verhindert, dass sich Vertreter der Kriegsparteien beim Weltkriegsgedenken an den Ehrenmalen für die Rote Armee in die Haare bekommen.

Dann aber wurde die ukrainische Fahne erlaubt und die russische verboten. Doch nicht nur das: Untersagt war auch die Fahne der Sowjetunion – rot, bekanntlich, mit Hammer und Sichel. Zur UdSSR kann und sollte man im Jahr 2023 ein kritisches Verhältnis haben. Dass damit aber das zentrale Symbol der Anti-Hitler-Koalition mit den meisten zivilen und militärischen Opfern von Justiz und Sicherheitsorganen der Hauptstadt der Täter verboten und einkassiert wird – das kann nicht ohne Widerspruch stehen bleiben.

Dazu trägt auch die Umsetzung bei. Weil die Einsatzkräfte an den Berliner Ehrenmalen, allen voran dem Komplex im Treptower Park im Osten der Stadt, wenig differenziert vorgingen, wurden gleich auch andere rote Fahnen linker europäischer Parteien einkassiert, die überdies Nachfolger derjenigen sind, die Widerstand gegen die Angriffskrieger der deutschen Wehrmacht geleistet haben, die griechischen Kommunisten etwa.

Dass 2023 Fahnen von Widerstandsgruppen und ihren Nachfolgern in Berlin heruntergerissen werden, ist Ausdruck der ideologischen Zäsur, die sich – über den rhetorischen Umweg der Ukraine-Solidarität – Bahn bricht: Mit der Front gegen Putins Russland kann endlich, wenn auch posthum, mit der Sowjetunion abgerechnet werden. Die staatlich geförderte wie geforderte Ukraine-Solidarität, die durch die Flaggenurteile durchschimmert, führt damit gewollt oder ungewollt zu einem politischen Ergebnis, das den Ewiggestrigen der letzten fast 80 Jahre Freudentränen in die Augen getrieben hätte.

Aber es geht noch bizarrer: Das Verbot der Fahne der sowjetischen Befreier kommt dem obersten Angriffskriegsherrn Wladimir Putin gerade recht. Denn während in Berlin Polizistinnen und Polizisten historische rote Fahnen herunterrissen und auf den Boden ihrer Mannschaftswagen warfen, inszenierte sich Putin gut 20 Autostunden östlich, in Moskau also, als Nachfolger der antifaschistischen Roten Armee.

Man kann zu dem Schluss kommen, dass sich die deutsche Justiz und Polizei unter dem moralischen Druck, der die Ukraine-Debatte bestimmt, zu willigen Propaganda-Vollstreckern Putins haben machen lassen.

Das Argument, der Angriffskrieg Russlands könne nicht ignoriert werden, könnte gelten, wenn alle Angriffskriege entsprechend geahndet würden und worden wären; denn das nach den Schrecken des Hitlerfaschismus etablierte Völkerrecht ist eben universell oder gar nicht. Wo aber war das US-Fahnenverbot während des verlogenen und geradezu völkermörderischen Irak-Krieges? Argument entkräftet.

Es kursiert die These, vor allem die USA versuchten, Russland durch die Expansionspolitik der NATO zu schwächen, die zum Angriff auf die Ukraine beigetragen habe. Zumindest was die identitätsstiftende und damit politikgestaltende Erinnerungskultur betrifft, ist schon jetzt klar, dass ein tiefer Keil in die postsowjetische Gemeinschaft getrieben wurde.

Ein gemeinsames Erinnern der einstigen Waffenbrüder (und -schwestern) gegen Hitler wird es nicht mehr geben. Auch das ist eine historische Zäsur.

Artikel zum Thema:

Claudia Wangerin: Russland, Ukraine, Sowjetunion: Streit um Flaggen am Tag der Befreiung [4]
Jens Mattern: Sirenen gegen russischen Botschafter in Warschau [5]
Reinhard Jellen: Antisemitismus in Deutschland [6]


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-8991935

Links in diesem Artikel:
[1] https://www.telepolis.de/features/Partei-des-Hasses-gekoschert-8991815.html
[2] https://www.telepolis.de/features/Der-Krieg-Europas-gegen-Fluechtlinge-8991754.html
[3] https://www.telepolis.de/features/Ukraine-Krieg-Welzer-wirft-Leitmedien-Aktivismus-vor-8991498.html
[4] https://www.telepolis.de/features/Russland-Ukraine-Sowjetunion-Streit-um-Flaggen-am-Tag-der-Befreiung-8989909.html
[5] https://www.telepolis.de/features/Sirenen-gegen-russischen-Botschafter-in-Warschau-8991736.html
[6] https://www.telepolis.de/features/Antisemitismus-in-Deutschland-7517145.html