Wie gefährlich ist Alkohol nun wirklich?

Prost! Auf den ersten Blick haben die meisten hier ein Standardglas. Bild: Jakob Montrasio, CC BY 2.0

Gibt es kein "gefahrloses Trinken"? Was die wissenschaftlichen Daten sagen und wie wir sie bewerten müssen.

Seit einer sowohl in wissenschaftlichen Kreisen wie in den Medien viel zitierten Studie aus der medizinischen Fachzeitschrift Lancet aus dem Jahr 2018 scheint festzustehen: Einen risikolosen Konsum von Alkohol gibt es nicht.

Auch der Gedanke, geringe Mengen Alkohols könnten die Gesundheit sogar fördern, wurde als Mythos abgetan: "Keine Menge des Alkoholkonsums verbessert die Gesundheit", lautete der Titel eines begleiteten Kommentars in der Fachzeitschrift.

Noch letztes Jahr strahlte Deutschlandfunk Kultur eine Diskussion mit dem Titel "Alkoholkonsum: Risikoloses Trinken gibt es nicht" aus. Nun war ich selbst in der ZDF-Sendung 13 Fragen zu Gast, als diese mehr Regulierung des beliebten Genussmittels thematisierte.

Dafür musste ich über 1.200 Bahnkilometer zurücklegen. Das Risiko dieser Reise war mit Sicherheit größer als null. Allein all die Koffer der Mitreisenden, die mir auf den Kopf hätten fallen können! Und doch lebe ich noch, um diesen Artikel zu schreiben.

Vom Suff zur Askese?

In einer SWR-Sendung vom 14. Mai dieses Jahres erklärte Hasso Spode, Professor für Historische Soziologie an der Universität Hannover und Kenner der Kulturgeschichte des Alkohols wie kaum ein anderer, dass sich der gesellschaftliche Blick auf die Substanz mit der Zeit verändere. Alle 20 bis 40 Jahre kippe die Stimmung vom "fröhlichen Suff" zum "schlechten Gewissen" oder, wissenschaftlicher formuliert, vom Hedonismus zum Asketismus.

Man kann aber hinterfragen, wie enthaltsam und entsagend dieser angebliche Asketismus wirklich ist. Traditionell zogen sich die religiös-spirituellen Asketen nämlich von allem Weltlich-Materiellen zurück, insbesondere dem eigenen Körper. Dieser wurde oft als Quelle von Sünde und Leiden gesehen. Auch aus Christentum und dann insbesondere dem Protestantismus ist uns dies bekannt.

Unsere heutige Kultur huldigt aber dem gesunden, schönen und idealerweise ewig jungen Körper. Das ist also gerade kein Entsagen, sondern im Gegenteil ein krampfhaftes Festhalten an dem, was sich permanent ändert, älter wird und schließlich stirbt.

Daher sollten wir meiner Meinung nach eher von einer Gesundheitskultur sprechen – die übrigens oft in sich widersprüchlich ist. Beispielsweise dort, wo sie einerseits vom Individuum gesunde Entscheidungen erwartet, dann in seiner Umgebung aber überall ungesunde Produkte anbietet.

Außerdem scheinen immer mehr Menschen krank zu sein, je mehr wir uns mit Gesundheit beschäftigen – sowohl bei psychischen Störungen als auch bei körperlichen Erkrankungen.

Die Gesundheitskultur erkennt man auch am Erfolg von Produkten, die uns für höhere Preise allerlei Gesundheitsvorteile versprechen. Häufig geschieht das allerdings ohne sichere wissenschaftliche Grundlage.

In der Wissenschaft entstanden neuen Disziplinen wie die "Health Psychology" und "Public Health". Gesundheit wird so zunehmend eine öffentliche Frage, mit der sich immer mehr staatliche Maßnahmen beschäftigen und zu der immer mehr Forscherinnen und Forscher arbeiten.

In diesen Bereich fällt die – übrigens von der Bill-und-Melinda-Gates-Stiftung finanzierte – eingangs erwähnte bahnbrechende Studie im Lancet. So schreiben die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler denn auch: "Alkohol ist ein führender Risikofaktor für die globale Krankheitslast." Die Sterblichkeit und insbesondere Krebserkrankungen nähmen mit dem Alkoholkonsum zu.

Und weiter: "Diese Ergebnisse deuten darauf hin, dass eine Überarbeitung der weltweiten Maßnahmen zur Alkoholkontrolle nötig sein könnte. Diese sollten sich auf Bemühungen fokussieren, den allgemeinen Konsum in der Gesamtbevölkerung zu verringern."

In einer Antwort auf Kritik mehrerer Kolleginnen und Kollegen an ihrer Studie heißt es noch deutlicher: "Die Public Health Community hat eine große Pflicht, sich der massiven Krankheitslast im Zusammenhang mit Alkohol zu widmen."

Zu den Gesundheitsrisiken durch Alkohol

Das klingt recht dramatisch. Wenn man einen Blick auf die Studie wirft, fällt in der zusammenfassenden Grafik der eher moderate Anstieg der Geraden auf.

Will heißen: Bei ein oder zwei "Standardgläsern Alkohol" pro Tag ist das Krankheitsrisiko zwar statistisch erhöht. In der Praxis bedeutet das aber nur einen geringen Anstieg im Mittelwert, wenn man eine sehr große Gruppe von Personen betrachtet. Ein Standardglas ist definiert als zehn Gramm Alkohol, also beispielsweise 250 ml Bier (mit fünf Prozent Alkohol) oder 125 Milliliter Wein (mit zehn Prozent Alkohol)

Was das in konkreten Zahlen bedeutet, schauen wir uns gleich an. Bleiben wir noch einen Moment bei der Grafik: Denn selbst bei neun Standardgläsern pro Tag (!) ist das Krankheitsrisiko gerade einmal verdoppelt. Und wer trinkt schon über zwei Liter Bier am Tag? Mit dieser Menge dürften die meisten Menschen schon einen ordentlichen Rausch erleben, der auch mit den bekannten Funktionsausfällen einhergeht.

Ein differenzierteres Bild ergibt sich, wenn man die Ergebnisse für einzelne Krankheiten betrachtet. Bei Diabetes und Herzerkrankungen nimmt das Risiko nämlich erst einmal ab. Erst bei vier Gläsern am Tag (bei den Männern) oder sechs (Frauen) steigt das Risiko wieder über den Wert bei völliger Abstinenz, der hier als Grundlinie definiert ist.

Bei Herzerkrankungen liegt das Risiko für beide Geschlechter erst wieder ab dem siebten täglichen Standardglas über dem Wert der Abstinenzler. Damit ist auch die Botschaft des oben erwähnten begleitenden Kommentars in Zweifel gezogen, die dem Genussmittel jegliche Gesundheitsverbesserung absprach.

Bei näherer Betrachtung zeigt sich also, dass die Antwort von der konkreten Frage und Auswertung abhängt.

Allerdings fällt das Ergebnis nicht für jede Erkrankung positiv aus. So ist das Risiko für Krebs im Mund-Rachenbereich bei Männern schon bei zwei bis drei täglichen Standardgläsern verdoppelt, bei sieben mehr als vervierfacht. Solche relativen Risiken (also z.B. Verdopplung, im Vergleich zu einer bestimmen Gruppe) eignen sich hervorragend für Dramatisierungen, die laut Pressekodex des Presserats bei Medizinberichterstattung aber vermieden werden sollen.

Harte Zahlen

Wichtiger ist es daher, sich absolute Zahlen anzuschauen. Das ist besonders dann von Bedeutung, wenn eine Erkrankung sehr selten ist. Nehmen wir einmal an, sie beträfe bei Abstinenzlern eins von 1.000, bei Menschen mit mäßigem Alkoholkonsum zehn von 1.000. Das wäre zwar relativ gesehen eine Verzehnfachung.

Dann würden aber 990 von 1.000 derjenigen mit mäßigem Konsum nicht erkranken. Sollte man all diese Menschen mit Schreckensmeldungen über dramatisch höhere Krankheitsrisiken verunsichern?

Absolute Zahlen erfordern zusätzliche Recherchearbeit, doch gehören für die richtige Einordnung der Risiken in die Originalpublikation und Medienberichte. Bei einer sehr ähnlichen Veröffentlichung zu den Risiken von Alkohol im Lancet im selben Jahr musste die Redaktion hinterher einräumen, dass die absoluten Zahlen vergessen wurden – und zwar im Widerstreit mit den eigenen Richtlinien! Das war allerdings nicht den wissenschaftlichen Fachleuten, sondern der Pressestelle der bedeutenden medizinischen Zeitschrift aufgefallen.

Das merkte beispielsweise "Statistik-Papst" Gerd Gigerenzer an, Professor am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin. Dieser Studie widmete er im August 2018 die Unstatistik des Monats.

Dabei besprach er absolute Zahlen: Demnach hatten bei den Abstinenzlern 914 von 100.000 ein Jahr später ein Gesundheitsproblem. Bei einem Standardglas pro Tag waren es 918 und bei zweien 977. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass bei den mäßigen Alkoholkonsumenten über 99.000 von 100.000, also über 99 Prozent kein Gesundheitsproblem hatten.

Die Studie wurde und wird, wohlgemerkt, als Beleg dafür zitiert, dass es keinen risikolosen Alkoholkonsum gebe. Wenn man minimale Risiken einschließt, ist das zwar strenggenommen nicht falsch. Allerdings ist die Information ohne weitere Angaben irreführend, insbesondere mit Blick auf Gelegenheitstrinker. Ähnlich informativ könnte man auch in der Welt verbreiten: "Es gibt kein risikoloses Leben!"

Als die Zeit das Thema Anfang 2019 diskutierte, ließ sie immerhin David Spiegelhalter zu Wort kommen, Professor für Risikokommunikation an der Universität Cambridge.

Dieser errechnete aus den Ergebnissen, dass 25.000 Menschen pro Jahr 16 Flaschen Gin – das wäre ziemlich genau ein Standardglas am Tag – trinken müssten, damit ein einziger Mensch ein zusätzliches Gesundheitsproblem bekommt.

Vor- und Nachteile

Damit soll Alkohol natürlich nicht verharmlost werden. Immerhin handelt es sich bei der Substanz um ein Zellgift. Doch noch immer scheint Paracelsus damit recht zu haben, dass die Dosis das Gift macht. Und mit der Dosis ändern sich auch die psychologischen Effekte:

Irgendwann schlägt der sogenannte Erregungszustand mit – bei vielen Menschen – Heiterkeit, Offenheit sowie reduzierter Nervosität und Ängstlichkeit nämlich in den Rauschzustand um. Dieser bringt mehr Nachteile mit sich, die sich beispielsweise beim Steuern von Maschinen oder Fahrzeugen verheerend auswirken können.

Auf Dauer kommt dazu natürlich die Suchtproblematik. Einerseits kann die Gewöhnung an die Substanz dazu führen, dass man für denselben Effekt immer größere Mengen konsumieren muss, die dann mit einem größeren Risiko für Nebenwirkungen einhergehen.

Andererseits kann hier ein gefährlicher Lerneffekt entstehen, wenn man Alkohol zu lange als Bewältigungsstrategie verwendet: Wer etwa das Mittel nutzt, um mehr Anschluss an andere zu finden oder mit Stress umzugehen, lernt vielleicht auf Dauer, es ohne diese Hilfe nicht mehr zu schaffen.

Die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen hat erst im März dieses Jahres einen neuen Bericht über Alkoholabhängigkeit herausgegeben. Demnach gelten bei Frauen bis zu einem und bei Männern bis zu zwei Standardgläser pro Tag als "risikoarmer Konsum".

Dabei soll aber an zwei Tagen pro Woche gar kein Alkohol getrunken werden. Mit dieser Obergrenze kommen laut dem Bericht über 80 Prozent der Deutschen zurecht.

Suchtverhalten und Epidemiologie

Aufgrund epidemiologischer Daten aus dem Jahr 2018 heißt es in dem Bericht über problematischen Alkoholkonsum weiter:

Legt man die Daten des Epidemiologischen Suchtsurveys aus dem Jahr 2018 zugrunde, so haben 12,4 % der Männer und 12,8 % der Frauen im Alter zwischen 18 und 64 Jahren, also insgesamt ca. 6,7 Millionen Menschen, einen riskanten Umgang mit Alkohol. 4,0 % der Männer und 1,5 % der Frauen, also ca. 1,4 Millionen Menschen, treiben Missbrauch und 4,5 % der Männer und 1,7 % der Frauen, also ca. 1,6 Millionen Menschen, sind abhängig.

Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen, 2022

Dazu sollte man aber ergänzen, dass etwa laut dem Alkoholatlas des Deutschen Krebsforschungszentrums, auf den auch der Drogenbeauftragte der Bundesregierung verweist, der Pro-Kopf-Konsum in Deutschland Mitte der 1970er noch über 17 Liter reinen Alkohols betrug. Das waren fast vier Standardgläser pro Tag. Bis Mitte der 2010er nahm dies auf rund elf Liter, also um rund 35 Prozent ab.

Damit einher geht laut dem Atlas eine kontinuierliche Abnahme der Personenschäden bei Verkehrsunfällen und krankheitsbedingten Todesfälle im Zusammenhang mit Alkohol. Allein das stellt schon Dramatisierungen und Forderungen nach mehr Regulierung oder gar einem Alkoholverbot infrage.

Wir müssen aber noch auf etwas anderes achten: Wenn der Trend ohnehin zu weniger Alkohol geht, könnten neue Regulierungs- und Kontrollmaßnahmen irrtümlich als wirksam dargestellt werden. Man muss daher immer überprüfen, ob die Abnahme nicht auch ohne die Maßnahmen weitergegangen wäre.

Meinem Eindruck nach feiern darum Drogen- und Gesundheitspolitiker ihren angeblichen Erfolg beim Zurückdrängen des Rauchens mitunter vorschnell. Auf globaler Ebene sieht das Bild ohnehin anders aus: Während der Konsum in Europa rückläufig ist, nimmt er auf anderen Kontinenten erheblich zu. Doch das ist ein Thema für sich.

Fazit

Die in wissenschaftlichen Fachartikeln und den Medien immer wieder vorkommenden Dramatisierungen des Alkoholkonsums entsprechen vielleicht dem Zeitgeist einer Gesundheitskultur. Doch sie passen nicht so recht zu den klinischen Daten und widersprechen sogar der Epidemiologie.

Wenn Suchtmediziner einen anderen Standpunkt vertreten, sollte man bedenken, dass diese Tag für Tag Extremfälle sehen, die jedoch nicht repräsentativ für die Gesamtbevölkerung sind.

Zudem profitieren Sie zusammen mit den Public-Health-Forschern von dramatischen Berichten, weil sich damit der Ruf nach mehr Fördermitteln begründen lässt. Damit ist natürlich nicht der wichtige Beitrag geschmälert, den diese Fachleute tagtäglich für alkoholabhängige Menschen und deren Umfeld bedeuten.

Und wo wir schon bei den Kosten sind: Gerne werfen Gesundheitsökonomen hier mit Milliardenbeträgen um sich, die ein dringliches Alkoholproblem dokumentieren sollen. Wie ich schon einmal am Beispiel der psychischen Störungen nachrechnete, beruhen diese Zahlen aber auf Schätzungen und abstrakten Annahmen über die ideale Produktivität der Menschen. Die klinischen Kosten sind zudem gleichzeitig der Umsatz des Gesundheitssystems.

Außerdem sind die Gleichungen unvollständig: So räumt Annika Herr, Professorin für Gesundheitsökonomie an der Universität Hannover, in der Diskussion "Alkoholkonsum: Risikoloses Trinken gibt es nicht" offen ein, dass man den positiven Nutzen des Substanzkonsums nicht wirklich erfassen könne.

Damit sind die Ergebnisse der Gesundheitsökonomen aber einseitig gegen den Alkoholkonsum voreingenommen und sollte man sie gerade nicht für gesellschaftspolitische Entscheidungen heranziehen.

Anders formuliert: Kein Alkohol verursacht auch Kosten! Abgesehen von der psychologischen Seite könnte ganz konkret etwa das Diabetesrisiko steigen, wenn die Menschen dann statt des Alkohols mehr Süßigkeiten und zuckerhaltige Getränke konsumieren, von Drogen ganz zu schweigen!

Wer gesundheitsbewusst ist und Alkohol mit seinen Effekten genießen will, fand in diesem Text Empfehlungen für risikoarmen Konsum. Das Deutsche Krebsforschungszentrum nennt im Alkoholatlas zudem sechs Kriterien für das Vorliegen einer Abhängigkeit. Wenn mindestens drei davon vorliegen, empfiehlt sich ein Gespräch bei der Suchtberatung oder mit dem Hausarzt:

Erstens ein starkes Verlangen oder gar Zwang, Alkohol zu trinken. Zweitens die bereits erwähnte Toleranzentwicklung: Man muss immer größere Mengen für denselben Effekt konsumieren. Drittens ein fortgesetzter Alkoholgebrauch, obwohl es zu Folgeschäden kommt.

Das vierte Kriterium bezieht dich auf die Schwierigkeiten, Anfang, Ende und Menge des Konsums zu kontrollieren; man trinkt also länger und mehr, als man eigentlich will. Das Fünfte sind Entzugserscheinungen, wenn man keinen oder nur wenig Alkohol trinkt. Sechstens und letztens vernachlässigt man immer mehr andere Interessen und Hobbys im Leben für den Alkoholkonsum.

Zum Schluss will ich noch auf den zwiespältigen Umgang unserer Gesellschaft mit dem Genussmittel (und übrigens auch manchen Drogen) hinweisen: Die Substanzen sind leicht verfügbar, werden mehr oder weniger direkt beworben, teilweise besteht sogar vielleicht sozialer oder Gruppenzwang zum Mitmachen. Wer die Kontrolle verliert, wird dann aber schnell als Alkoholiker oder "Junkie" stigmatisiert und ausgegrenzt. Das führt vor allem zur Vergrößerung der Probleme.

Sollte man also gar nichts am Status quo ändern? Bei 13 Fragen haben wir einen Kompromissvorschlag gemacht. Interessierte können sich dafür am besten die Sendung selbst anschauen.

Dieser Artikel erscheint ebenfalls im Blog "Menschen-Bilder" des Autors.