Die Deutschen sind kränker denn je
- Die Deutschen sind kränker denn je
- Wirklichkeitsverleugnung fürs Establishment
- Vergleich der Jahrzehnte
- Schlussfolgerung
- Auf einer Seite lesen
Im 21. Jahrhundert gab es noch nie so viele Krankheitstage und Krankenhausaufnahmen wie heute
Im ersten Teil "Gesellschaftskritik und psychische Gesundheit" haben wir die Grundlagen diagnostischer Gespräche von Psychologen und Psychiatern besprochen. Diese wurden dann mit der Arbeit von Epidemiologen verglichen. Letztere berichten, dass jährlich rund 40% der Menschen in Europa mindestens einmal an einer psychischen Störung leiden.
Der Vergleich zeigte, dass die Gültigkeit individueller Diagnosen über derjenigen der Fragebogenstudien in Massenuntersuchungen steht. Auch konnten häufige Relativierungen, mit denen der starke Anstieg psychiatrisch-psychologischer Diagnosen wegerklärt werden soll, widerlegt werden: Psychische Störungen sind weder ein Schnupfen noch eine andere Form von Rückenschmerzen.
Insbesondere verfangen die Interpretationen von Martin Dornes nicht: Der Psychologe, Psychotherapeut und Soziologe vertritt in seinem Buch "Macht der Kapitalismus depressiv? Über seelische Gesundheit und Krankheit in modernen Gesellschaften", die These, dass Kapitalismus zu keiner Zunahme von Depressionen führe. Am stärksten stützt er sich dabei aber auf die epidemiologischen Studien, die, wie wir gesehen haben, seine Schlussfolgerungen gar nicht stützen können. Damit steht wieder die Frage im Raum, ob die wirtschaftlich-sozialen Verhältnisse nicht doch die psychische Gesundheit der Menschen beeinflussen.
Mit den Füßen abstimmen
Als man die Lebensqualität in Ost- und Westdeutschland miteinander verglich, sagte man, die Menschen hätten "mit den Füßen abgestimmt": Viel mehr Menschen gingen beziehungsweise flohen von Ost nach West, zum Teil unter Einsatz ihrer Freiheit oder ihres Lebens, als in die umgekehrte Richtung. Darum war nicht alles in der DDR schlecht, doch vieles im Argen.
Wie könnte es analog auf dem Gebiet der psychischen Gesundheit aussehen, wenn "mit den Füßen" abgestimmt wird? Menschen gehen eben zum Arzt oder Psychotherapeuten, weil sie ein psychisches Hilfsbedürfnis haben. Jetzt kann es durchaus so sein, dass sie dies häufiger als früher als ein psychisches Problem begreifen, weil es in den Medien mehr Aufmerksamkeit für diese Themen gibt oder weil es heute als gesellschaftlich akzeptierter gilt; und dass auch Hausärzte mehr für diese Kategorien sensibilisiert sind.
Man kann plausibelerweise also davon ausgehen, dass zumindest ein Teil des Anstiegs der Diagnosen auf diese Effekte zurückzuführen ist. Wie viel genau, das weiß aber kein Mensch. Daher steht aber auch derjenige auf spekulativem Grund, der behauptet, dass der Anstieg überhaupt nicht mit gesellschaftlichen Veränderungen zusammenhängt.
Zunehmende Arbeitsunfähigkeitstage
Nun sind die Diagnosezahlen aber nicht die einzigen Daten, die uns Aufschluss geben könnten. Die Krankenkassen erheben nämlich auch die Arbeitsunfähigkeitstage für verschiedene Störungsbilder und Krankheiten. Und diese zeigen unmissverständlich einen dramatischen Anstieg: Laut DAK Gesundheitsreport stieg der Wert für die psychischen Störungen von 0,8 pro Versichertem im Jahr 1997 auf 2,5 im Jahr 2017, also auf das mehr als Dreifache innerhalb der letzten 21 Jahre!
Wer jetzt wieder mit den Pseudo-Rückenschmerzen kommt, die man heute korrekt als psychische Störung identifiziere, der sollte wirklich noch einmal einen Blick auf die Daten werfen: Ich erwähnte im ersten Teil schon kurz Zahlen des Robert-Koch-Instituts und der Gesundheitsberichterstattung des Bundes. Ein deutliches Bild zeichnet aber auch diese Grafik des BKK Gesundheitsreports 2017:
Man sieht sehr deutlich, dass die Arbeitsunfähigkeitstage wegen Erkrankungen des Muskel-Skelett-Systems in den letzten elf Jahren nicht nur nicht abgenommen, sondern sogar sehr deutlich zugenommen haben. Das gilt in noch größerem Maße für die psychischen Störungen. Insgesamt gilt: Die deutschen Arbeitnehmer werden seit vielen Jahren kränker. Wenn bestimmte epidemiologische Studien diesen deutlichen Trend nicht abbilden können, dann liefern sie schlicht keine gesellschaftspolitisch relevanten Ergebnisse.
Steigende Krankenhausbehandlungen
Ähnlich kann man auch mit Blick auf Krankenhausdiagnosen wegen psychischer Störungen argumentieren, die von 2000 bis 2016 von rund 911.000 auf 1,2 Millionen stiegen, also um 33%. Es ist nicht anzunehmen, dass Menschen jetzt massenweise ins Krankenhaus rennen, bloß weil sie sich ein bisschen müde oder gestresst fühlen.
Dass sie dort durchschnittlich 25 Tage lang behandelt werden, spricht auch für die Ernsthaftigkeit der Probleme. Der Durchschnittswert blieb trotz des Anstiegs der Fälle von 2000 bis 2016 übrigens relativ konstant. Auch dies widerspricht der alternativen Erklärung, dass es beim Anstieg bloß um immer leichtere Fälle geht. (Für die Muskel-Skelett-Erkrankungen stieg die Zahl übrigens im selben Zeitraum von rund 1,2 auf 1,8 Millionen, also um 45%, die durchschnittlich elf Tage lang im Krankenhaus behandelt werden.)