zurück zum Artikel

"Wie kommen wir dazu, Thyssen-Krupp die Gerüstbauhelfer zu finanzieren?"

Rita Knobel-Ulrich über Hartz IV als lukratives Geschäftsfeld und Renten-Zeitbombe

Seit über zehn Jahren recherchiert die Fernsehjournalistin Rita Knobel-Ulrich zum Thema Hartz IV, wobei sie auf verdeckte Unterstützungsleistungen des Staates für Unternehmen und irrsinnige Beschäftigungsmaßnahmen gestoßen ist. Ihre Erfahrungen mit der Armutsindustrie schildert sie in dem Buch Reich durch Hartz IV [1], in dem sie auch von lernresistenten Jung-Arbeitslosen berichtet.

Frau Knobel-Ulrich, wer profitiert am meisten von Hartz IV?
Rita Knobel-Ulrich: Einmal ziehen von Hartz IV Arbeitgeber Nutzen, die Hartz IV als willkommene Gelegenheit sehen, die Arbeitnehmer nicht anständig zu bezahlen und sie mit dem Argument vertrösten, dass sie bereits über Hartz IV abgesichert wären und ihnen deswegen kein voller Lohn ausbezahlt werden müsse. Hier profitieren die Arbeitgeber massiv von den sogenannten Aufstockern. Weiter haben die Heerscharen fragwürdiger Kursanbieter davon einen immensen Vorteil, deren Weiterbildungsmaßnahmen teuer, aber oft vollkommen unsinnig sind und Menschen nicht, wie sie gerne behaupten, in den Ersten Arbeitsmarkt bringen.
Drittens nutzen aber auch Menschen die Grundsicherung durch Hartz IV als willkommene Möglichkeit, um sich auf einem niedrigen Niveau abzusichern und verweigern Jobs, die sie eigentlich annehmen könnten. Das sind nach meiner Beobachtung vor allem Leute, die weder einen Abschluss noch eine Ausbildung gemacht haben, aber - weil es eine finanzielle Unterstützung gibt - sich nicht aktiv um einen Job bemühen, sondern oft sich mit der Grundsicherung plus ein wenig Zuverdienst zufrieden geben. Alle drei Gruppen profitieren gleichermaßen von Hartz IV.

"Die Sozialabgaben sind ausgesprochen niedrig"

Mit welchen Tricks können sich Arbeitgeber über Hartz IV Ausbildungskosten und Sozialabgaben sparen und auf den Staat umwälzen?
Rita Knobel-Ulrich: Nach meiner Beobachtung läuft das folgendermaßen: Ein Arbeitgeber bietet dem Arbeitnehmer einen Vertrag über 100 bis 400 Euro an. Dies macht er, weil 100 Euro der Betrag ist, bis zu dem Hartz IV-Empfänger ohne Abschlag hinzuverdienen können. Auch bei den sogenannten 400-Euro-Jobs sind die Sozialabgaben pauschal abzuführen und ausgesprochen niedrig. In Wirklichkeit arbeitet der Arbeitnehmer aber Vollzeit und bekommt den Rest schwarz ausgezahlt, oft mit dem Argument, dass sich beide Parteien damit die Sozialabgaben sparen könnten. Für beide Seiten hat das den Vorteil, dass ein Vertrag existiert.
Der ist nämlich wichtig, wenn zum Beispiel die Gaststätte oder die Baustelle durch die "Finanzkontrolle Schwarzarbeit" geprüft wird. Den Beamten wird dann erklärt, das Arbeitsverhältnis sei vertraglich abgesichert. Der kontrollierte Arbeitnehmer arbeite aber nur wenige Stunden pro Woche, habe gerade eben erst mit der Arbeit begonnen oder sei nur heute da. Auf den ersten Blick scheint alles in Ordnung. Allerdings : Dem System dahinter käme man nur auf die Schliche, wenn mehrfache Kontrollen durchgeführt werden würden und damit herauskäme, dass die entsprechende Person dauerhaft und nicht nur ein paar Stunden arbeitet, wie behauptet. Gerade im Bereich der Gastronomie sind solche Arbeitsverhältnisse gang und gäbe.

"In der Praxis geht der Schuss nach hinten los"

Wissen Sie, in welchem Ausmaß dies geschieht?
Rita Knobel-Ulrich: Nein. Aber ich habe für eine Dokumentation mehrere Wochen Kontrolleure der sogenannten "Finanzkontrolle Schwarzarbeit" begleitet, und dergleichen ist oft passiert. Immer wieder hieß es: "Der ist gerade erst gekommen" oder "die arbeitet nur heute hier." Die Beamten sagten, ihnen werde das so oft erzählt, so dass der Verdacht naheliege, dass von Arbeitgebern und Arbeitslosen systematischer Betrug vorliege und die Möglichkeit des Zuverdienstes ausgenutzt werde. Dies geschehe nicht nur im Gastronomiebereich, sondern auch auf dem Bau, in Taxiunternehmen oder in Gebäudereinigungen. Ihnen seien aber oft die Hände gebunden, denn nachweisen ließe sich das nur durch mehrmalige Überprüfung von Betrieben, also nicht wie üblich durch eine einmalige, sondern fünfmalige Kontrolle in der Woche, was wegen der geringen Personaldecke unmöglich ist.
Eigentlich hatte es der Gesetzgeber mit den Zuverdienstmöglichkeiten gut gemeint: Langzeitarbeitlose sollten in geringem Maße zum Hartz IV Satz etwas dazuzuverdienen können, um sie wieder behutsam in Lohn und Brot zu bringen, sie daran zu gewöhnen, den Alltag zu strukturieren, einer regelmäßigen Tätigkeit nachzugehen, ohne sie mit einem Vollzeitjob zu überfordern. In der Praxis aber geht der Schuss nach hinten los. Durch Schwarzarbeit gehen dem Staat Steuern und Sozialabgaben in Milliardenhöhe verloren, und auch für den Langzeitarbeitslosen ist das Ganze eine Milchmädchenrechnung, denn weil in die Rentenversicherung viel zu wenig eingezahlt wird, ist für ihn die Alterarmut vorprogrammiert.
Ein zweiter übler Trick ist, dass sich viele Arbeitgeber inzwischen Ausbildungskosten sparen: Sie melden beim Job-Center offene Stellen, zum Beispiel als LKW-Fahrer, Gerüstbauhelfer oder im Einzelhandel und wenn das Jobcenter keine geeigneten Arbeitslosen hat, bietet der Arbeitgeber an, Arbeitslose auszubilden und zu übernehmen, aber nur, wenn das Jobcenter alle Kosten dafür übernimmt. Die Job-Center veranstalten dann eine Art Casting: Der Arbeitgeber sucht sich passende Leute aus und lässt sie sich in Zusammenarbeit mit einem sogenannten Bildungsträger passend ausbilden.

"Wie kommen wir dazu, Thyssen-Krupp die Gerüstbauhelfer zu finanzieren?"

Wie geht das konkret vonstatten?
Rita Knobel-Ulrich: Die Kosten für die Ausbildung (bei einem LKW-Führerschein sind das etwa 10.000 Euro), auch für das Praktikum im Anschluss an die Ausbildung, trägt das Jobcenter, also der Steuerzahler, denn natürlich bleibt der "Praktikant" im Hartz IV –Bezug. Dafür bietet der Arbeitgeber oft noch nicht einmal eine unbefristete Anstellung, sondern nur Zeitverträge. Es ist also keineswegs sicher, dass der Arbeitslose nicht nach einer gewissen Zeit wieder im Jobcenter auf der Matte steht. Das finde ich das Letzte, ist aber vollkommen legal. Wie kommen wir als Steuerzahler dazu, zum Beispiel Thyssen-Krupp die Gerüstbauhelfer, der Speditonsbranche LKW-Fahrer oder dem Einzelhandel, Verkäufer zu finanzieren?
Ich habe dazu einmal Frau von der Leyen befragt, als sie noch Arbeitsministerin war. Ihre Antwort beschränkte sich darauf, dass Arbeitgeber eben auch in die Arbeitslosenversicherung einzahlen und dafür auch etwas zurück bekommen müssten.

"Eine Art Beschäftigungstherapie"

Viele Menschen werden in unsinnigste Maßnahmen-Jobs und Weiterbildungs-Seminare gesteckt. Können Sie uns Beispiele nennen und welches Kalkül steckt hier dahinter?
Rita Knobel-Ulrich: Ich fange mit dem Letzten an: Die Job-Center stehen unter dem Druck, Erfolgszahlen zu liefern und wer in einer sogenannten Maßnahme ist, verschwindet aus der Arbeitslosenstatistik. Insofern bemühen sich die Mitarbeiter der Jobcenter, die Leute so schnell wie möglich in irgendwelche Kurse zu stopfen. Was aber fehlt, ist das Bemühen, genau hinzuschauen, ob die Maßnahme auch zu dem Menschen passt. Ich habe unzählige Kurse besucht, die nach meiner Einschätzung vollkommener Unfug waren, in denen etwa Menschen Topflappen häkelten, Puzzles zusammensetzten, Puppen reparierten, in einem Pseudosupermarkt Gummigemüse abstaubten et cetera - also lauter Dinge taten, die eine Art Beschäftigungstherapie waren, aber nicht in den Ersten Arbeitmarkt führten.
Dann gibt es Kurse, die vielleicht sinnvoll sind, aber nicht zur jeweiligen Person passen: Zum Beispiel Bürokurse und Telephonierkurse für Bauarbeiter, die gar nicht die Absicht haben, später im Büro oder Call-Center zu arbeiten. Ich verstehe nicht, warum dergleichen nicht vorher vom Job-Center abgeklärt worden ist.

"Kurse als eine Art Bestrafung sind der falsche Weg"

Ist es nicht so, dass Arbeitslose, die beim Job-Center ihren Unwillen zum Besuch einer bestimmten Maßnahme bekunden, sehr schnell Ärger bekommen?
Rita Knobel-Ulrich: Selbstverständlich ist es so, und viele Arbeitslose fürchten die Kürzungen der Job-Center, wenn sie gegen solche "Maßnahmen" aufbegehren. Doch Menschen gegen ihren Willen etwas beibringen zu wollen, ist vollkommen sinnlos. Die Leute sitzen in solchen Kursen - so habe ich es jedenfalls mehrfach erlebt - uninteressiert herum, lesen ihre Morgenzeitung und kauen ihr Käsebrot, während sich vorne ein Dozent abarbeitet.
Eine Dozentin erzählte mir, sie habe einige Leute schon zum achten oder neunten Mal in ihren Bewerbungskursen, die aber daran keinerlei Interesse zeigten. Fragt man im Jobcenter nach, heißt es, solche Kurse seien zur "Aktivierung" gedacht. Sie, die Job-Center-Mitarbeiter seien überfordert, könnten oft nicht einschätzen, wozu die Arbeitslosen fähig und ob diese in der Lage seien, einen Arbeitstag durchzuhalten, pünktlich zu kommen, Pausenzeiten einzuhalten.
Also schickt man Arbeitslose in Kurse, die 6 Monate dauern und ein geregeltes Leben erfordern, um dann auf die Rückmeldung der Kursleiter zu warten und danach zum Beispiel zu entscheiden, ob es sich lohnt, eine Berufsausbildung zu finanzieren, ohne befürchten zu müssen, dass der Arbeitslose nach kurzer Zeit aufgibt. Auch das halte ich für vollkommenen Unfug, weil die Kosten für solche "Aktivierungsmaßnahmen" horrend hoch sind und es andere Mittel und Weg geben muss, herauszufinden, wen man vor sich hat. Kurse als eine Art Bestrafung sind der falsche Weg.

"Es gibt Weiterbildungskurse, bei denen eine Vermittlungsquote von fünf Prozent als Erfolg gilt"

Bei Bildungsträgern wird nicht danach gefragt, wie viele Menschen nach Abschluss einer Maßnahme in ein festes Arbeitsverhältnis übernommen werden. Warum ist das so?
Rita Knobel-Ulrich: Das genau habe ich die Arbeitsagentur in Nürnberg auch gefragt. Dort antwortete man mir, es gebe Langzeitarbeitlose mit "multiplen Vermittlungshemmnissen", also Menschen, die etwa Schulden oder ein Alkohol- oder Drogenproblem haben, die noch nie dauerhaft gearbeitet, keinen Schulabschluss und keine Ausbildung haben. Die "Aktivierungskurse" dienten also dazu, solche Hemmnisse abzubauen. Bei diesen Kursen werde eine anschließende Vermittlung in den ersten Arbeitsmarkt weder vorausgesetzt noch erwartet. Das sind die vorhin beschriebenen Kurse, die im Grunde nur dazu dienen, herauszufinden, ob der Arbeitslose den Kurs regelmäßig und pünktlich besucht.
Es gibt Weiterbildungskurse, bei denen schon eine Vermittlungsquote von fünf Prozent der Absolventen in den Arbeitsmarkt als Erfolg gilt. Die Frage aber ist, ob es die Aufgabe der Job-Center sein kann, Sozialarbeit zu leisten.
Aber für die Politik hat es die praktische Konsequenz, dass diese Leute nicht mehr in der Arbeitslosenstatistik erscheinen und somit Hartz IV als Motor des "Job-Wunders" gelten kann ...
Rita Knobel-Ulrich: Das sind zwei unterschiedliche Konsequenzen. Klar erscheinen diese Menschen nicht in der Statistik und die Arbeitslosenzahlen gehen herunter.
Zweifellos hat aber Hartz IV mit den verschärften Zumutbarkeitskriterien und auch der verkürzten Dauer des Bezuges von Arbeitslosengeld I dazu geführt, dass Menschen sich schneller um einen Job bemühen, als vor der Einführung von Hartz IV.

"Die Vermittler müssten mehr Möglichkeiten haben"

Wie beurteilen Sie generell die Arbeit der Arbeitsagentur?
Rita Knobel-Ulrich: Ich denke, die Arbeitsagenturen müssten viel flexibler werden und dürften auch nicht unter Druck gesetzt werden, eine bestimmte Anzahl von Arbeitslosen zu vermitteln. Man müsste ihnen die Möglichkeit geben, auf den einzelnen Menschen einzugehen.
Aber wir haben viel zu wenig Arbeitsvermittler für viel zu viele arbeitslose Menschen, von denen manche eine Reihe von Problemen haben : unzulängliche Deutsch-Kenntnisse, Alkohol- oder Drogensucht, Schulden, keinen Schulabschluss, keine Berufsausbildung. Viele Mitarbeiter von Jobcentern schaffen es nicht, sich in der ihnen zur Verfügung stehenden Zeit um diese Probleme zu kümmern. Das ist in anderen europäischen Ländern anders.
In Österreich werden Arbeitslose zum Beispiel einmal pro Woche zum Arbeitsamt einbestellt, und es wird gemeinsam überlegt, welche Maßnahme man ergreifen müsste, um den Arbeitslosen wieder in Lohn und Brot zu bekommen. Und es gibt dort auch klare Ansagen an den Arbeitslosen, sich zu bewegen. Ich halte es für falsch, jemanden der schon lange Zeit arbeitslos ist, nur alle 6 bis 8 Wochen zu einem zwanzigminütigen Gespräch einzuladen.
Die Arbeit der Job-Center müsste also effektiver werden, und die Vermittler müssten mehr Möglichkeiten haben, auch was Sanktionen anbelangt. Wenn deutlich wird, dass sich ein Arbeitloser nicht bewegt, nicht bereit ist, zumutbare (vielleicht auch unattraktive ) Arbeit anzunehmen, obwohl er oder sie weder einen Schulabschluss noch eine Ausbildung hat, muss es für den Jobberater Möglichkeiten geben, schnell mit deutlichen Sanktionen klar zu machen, dass diese Verweigerungshaltung nicht hingenommen wird.

"Solidarität kann keine Einbahnstraße sein"

Bei den Sanktionen [2] ist es nach meiner Erkenntnis allerdings so, dass hier eine juristisch äußerst verworrene Situation [3] vorliegt und offenkundig die Job-Center freie Hand [4] haben, um sie gegen Arbeitslose richten zu können, die nicht in sinnlose Maßnahmen gesteckt werden oder zu einem Wucherlohn arbeiten wollen. Die meisten Sanktionen werden eben nicht [5] wegen Arbeitsverweigerung ausgesprochen. Außerdem sind viele Sanktionen rechtswidrig und gehen an das Existenzminimum der Betroffenen. Sollte die bisherige Sanktionspraxis also nicht eher zurückgenommen werden?
Rita Knobel-Ulrich: Die meisten Sanktionen werden ausgesprochen, weil Arbeitslose einer Aufforderung, ins Jobcenter zu kommen und ein Arbeitsangebot durchzusprechen, nicht Folge leisten. Ich habe das mehrmals erlebt: Mal wurden zehn Arbeitslose eingeladen, mal fünfzig. Der Rücklauf war ernüchternd. Eine Handvoll kam, um sich anzuhören, welche Angebote es gab.
Dass dann eine junge Frau im Ernst sagt, sie habe sich gerade neue Fingernägel im Nagelstudio machen lassen und könne deswegen nicht im Imbiss arbeiten, dass einer findet, um sechs Uhr morgens, auf dem Feld Salat zu pflücken sei unzumutbar und ein Dritter erzählt, als Vegetarier sei es für ihn völlig unmöglich, bei McDonalds zu arbeiten, halte ich für skandalös und Sanktionen für richtig. Ist es unwürdig, einen Putzjob, etwa in der Gebäudereinigung anzunehmen, wenn man nie einen Beruf erlernt hat? Bei "Menschen für Maischberger" trat ein Hartz IV-Bezieher auf, der Arbeitsangebote generell für "Zwangsarbeit" hält und stolz erzählte, er sei arbeitslos "aus Überzeugung".
Ich halte in all diesen Fällen Sanktionen für richtig. Solidarität kann ja keine Einbahnstraße sein. Für viele Steuerzahler sind die Jobs, die sie machen, etwa an der Supermarktkasse, auch nicht immer die Verkörperung eines Kindheitstraums. Im übrigen wird einem Hartz IV Empfänger das Geld erst nach dreimaliger Pflichtverletzung total gestrichen. Das Sanktionssystem ist dreistufig gegliedert: Bei einer ersten Pflichtverletzung wird der Leistungsanspruch um 30% des Regelbedarfs, bei einer wiederholten Pflichtverletzung um 60%, und bei jeder weiteren Pflichtverletzung entfällt der Leistungsanspruch komplett.
Bei einer Minderung von mehr als 30% des Regelbedarfs hat der Gesetzgeber Sachleistungen als Ausgleich vorgesehen. Mit der gesetzlich vorgeschrieben Anhörung vor der Sanktionsentscheidung werden den Leistungsberechtigten immer Lebensmittelgutscheine angeboten.

"Eine Zeitbombe, die uns irgendwann einmal um die Ohren fliegt"

Haben Sie einen Vorschlag, wie man junge Arbeitslose mit Migrationshintergrund aus der Armutsfalle helfen könnte?
Rita Knobel-Ulrich: Bei jungen Leute muss man mit sehr klaren Ansagen arbeiten: es gibt Schüler, die die Schule unregelmäßig besuchen, keinen Abschluss machen und auf die Frage, was sie einmal werden wollen: "Ich werde Hartz IV" antworten, weil sie auch nichts anderes kennen, denn schon Mama und Papa bekommen "Stütze". Inzwischen gibt es ganze Hartz-Dynastien. Hier müsste das Jobcenter schnell klar machen, dass weder Geld noch eine Wohnung auf Kosten des Steuerzahlers gezahlt wird, wenn der junge Mensch nicht bereit ist, seine Situation zu ändern, also den Schulabschluss nachzuholen oder einen Beruf zu erlernen.
Ich habe einmal vier Wochen in einem Kurs für junge Leute, davon viele mit Migrationshintergrund, verbracht, die den Hauptschulabschluss nachholen sollten. Viele kamen unpünktlich, telefonierten, aßen, unterhielten sich lautstark, konzentrierten sich auf alles andere, außer auf den Unterricht und dehnten auch Pausen nach Belieben aus. Als ich die Lehrerin fragte, warum sie sich das bieten lasse, meinte sie, mit Kritik und Argumenten erreiche sie gar nichts. Das einzige, was ihre Schüler verstünden, sei die Drohung, die Unterstützung zu entziehen.
Im liberalen Skandinavien, auch in Holland macht man das genau so, und ich halte das auch für richtig. Nach meiner Erfahrung nützt es nichts, wenn man jungen Leuten Geld in die Hand drückt. Ich würde sicherstellen, dass sie ein Dach über dem Kopf haben und Essen bekommen, aber Geld sollte es nur für eine Gegenleistung geben, also: wenn sie einen Deutschkurs besuchen, einen Schulabschluss oder eine Ausbildung machen. Wenn man dieses Problem nicht in den Griff bekommt, wird man für die nächsten 30 bis 40 Jahre dauerhaft Arbeitslose mit Migrationshintergrund haben. Das ist eine Zeitbombe, die uns irgendwann einmal um die Ohren fliegt.

"Man betrachtet es als Gottesurteil, dass alleinerziehende Mütter arbeitslos sind"

Müssten dazu nicht auch Job-Center und Arbeitgeber flexibler werden?
Rita Knobel-Ulrich: Natürlich. Ich habe zum Beispiel einmal eine Dokumentation über eine 29jährige alleinerziehende, arbeitslose Mutter gedreht, die keinen Beruf erlernt hatte. Sie wollte das nachholen, allerdings in Teilzeit wegen ihrer beiden kleinen Kinder. Das gibt es aber nur vereinzelt, und so blieb die junge Frau eben arbeitslos. Auch das ist eine Zeitbombe: das Heer alleinerziehender Mütter, die dann, wenn ihre Kinder groß sind, zu alt sind, um noch einen Beruf zu erlernen oder in einen Job einzusteigen.
Auch sie vergrößern das Heer der Langzeitarbeitslosen. Es muss doch möglich sein, solchen Menschen die Chance zu geben, eine Lehre halt nicht in drei, sondern in vier Jahren abzuschließen, damit eine alleinerziehende Mutter sich auch um ihre Kinder kümmern kann. So etwas ist in Deutschland vollkommen unterentwickelt, und man betrachtet es als eine Art Gottesurteil, dass alleinerziehende Mütter arbeitslos sind und es auch bleiben.
Welche Dimensionen wird die Altersarmut erreichen, wenn all die, die jetzt chronisch unterbezahlt sind, altersbedingt aus dem Arbeitmarkt ausscheiden?
Rita Knobel-Ulrich: Ich bin kein Statistiker, aber sie wird nach meiner Einschätzung enorm sein, wenn Menschen, die dauerhaft arbeitslos sind oder in prekären Teilzeitjobs arbeiten, in Rente gehen. Es gibt ja jetzt bereits viele ältere Menschen, die auf die Zuwendungen von Tafeln nicht verzichten können, weil sie große Lücken in ihrer Arbeitsbiographie haben (Frauen etwa, die ihre Kinder großgezogen haben oder die lange arbeitslos waren). Dieses Problem wird eine riesige Dimension erreichen. Deswegen meine ich, dass man so viele Menschen wie möglich dazu befähigen muss, sich selbst ernähren zu können. Das bedeutet, dass die Möglichkeiten zur Schwarzarbeit, wie wir sie anfangs besprochen haben, eingedämmt werden müssen, weil dies zielsicher in die Altersarmut führt.

"Man muss niemanden abschreiben"

Man kann also schlussfolgern, dass, wenn sich die Situation nicht drastisch ändert, die Hartz-Reformen auch in der Zukunft eine unglaubliche Armutsspirale auslösen werden?
Rita Knobel-Ulrich: So ist es zweifellos. Wir haben keine Alternative als jeden dazu zu befähigen, sich selber zu ernähren und aus der Hartz IV-Falle herauszukommen. Ich bin davon überzeugt, dass jeder Mensch irgendetwas kann. Wir müssen flexibler werden und dahin kommen, auch Menschen, die keinen Abschluss und/oder noch nie gearbeitet haben, eine Ausbildungsmöglichkeit anzubieten, auch wenn sie nicht mehr achtzehn sind und nicht frisch von der Schule kommen.
Ich habe zum Beispiel die "Frankfurter Werkstatt" besucht, wo Leute noch im Erwachsenenalter einen Beruf lernen können, eine gute Sache. Dort machen Leute über 35 noch eine Ausbildung als Koch, Restaurant- und Hotelfachfrau, erlernen also Berufe, die bei uns dringend nachgefragt werden. Irgend etwas kann jeder. Auch Gebäudereiniger ist ein Lehrberuf. Man muss niemanden abschreiben. Solche Ausbildungsmöglichkeiten müssten flächendeckend angeboten werden.
Der Untertitel Ihres Buches lautet: "Wie Abzocker und Profiteure den Staat plündern." Hätten Sie da nicht auch ein paar Seiten über Banken, Unternehmen und Wohlhabende schreiben müssen?
Rita Knobel-Ulrich: Natürlich haben Sie recht. Man könnte sehr wohl ein Buch schreiben über Banker, Unternehmer und Wohlhabende, die sich an diesem Staat schadlos halten. In meinem Fall war der Weg ein anderer: Meinem Verlag war aufgefallen, dass ich zum Hartz IV-Thema eine Reihe von Filmen gemacht hatte und hat mich deswegen wegen eines Buches über meine zehnjährige Erfahrungen darüber angesprochen. Sie argumentieren ja ganz öffentlich-rechtlich, ausgewogen ... Klar müsste man die eine und die andere Seite thematisieren, aber das hat sich bislang bei mir noch nicht ergeben. Ich nehme Ihre Anregung aber gerne auf.

URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-3363637

Links in diesem Artikel:
[1] https://www.m-vg.de/redline/shop/article/3094-reich-durch-hartz-iv/
[2] https://www.heise.de/tp/features/Aushungern-und-Fordern-3382678.html
[3] https://www.heise.de/tp/features/Materielle-Not-bis-hin-zur-Todesangst-3382680.html
[4] https://www.heise.de/tp/features/Sparen-statt-foerdern-3382682.html
[5] https://www.heise.de/tp/features/Eine-Erpressungsmaschine-3396109.html