Wie kommunistisch ist Fußball?
Angriff ist die bessere Verteidigung: Pier Paolo Pasolini und Fußball als letztes heiliges Ritual einer verdammten Welt.
Schade, dass alle mich nur als Vertreter der Kultur sehen. Von mir will man nichts als kulturelle Rechtfertigungen, vielleicht, weil die Kultur heutzutage ein hervorragendes Alibi bietet. Nie lädt man mich ein, einen Vortrag über Fußball zu halten, obwohl ich dafür doch bestens gewappnet bin.
Pier Paolo Pasolini
Die Opposition gegen die neue Macht kann nur eine Opposition sein, die auch religiösen Charakter hat.
Pier Paolo Pasolini
Pier Paolo Pasolini (1922-1975) war ein Antifaschist und Provokateur, ein großer Filmregisseur und Denker – und er war Fußballfan und -spieler. Und zwar unbedingt. Für ein Fußballspiel verschob er sogar Dreharbeiten.
Bei 3sat-Kulturzeit ging es am Freitagabend um Pasolini und seine Liebe zum Fußball.
"Jedes Tor ist eine für sich stehende Erfindung, es unterwandert den Code: Jedes Tor ist Unausweichlichkeit, Geistesblitz, Staunen, Irreversibilität. Genau wie das dichterische Wort. Der Torschützenkönig einer Meisterschaft ist stets der beste Dichter des Jahres", sagte Pasolini einmal, um die poetische Dimension des Fußballs zu verdeutlichen.
Er wollte stürmen
Selber war der erklärte Kommunist, der auch als Sportreporter arbeitete, Fan des FC Bologna, über den er 1963 sogar einen Film gemacht hat – in seiner Jugendzeit war Bologna italienischer Serienmeister, ein Team, das in den Vorkriegsjahren in Europa gefürchtet war, und für das es immer nur nach vorne ging. Es war eine Seelenverwandtschaft.
Der deutsche Dokumentarfilm-Regisseur Pepe Dankwart, der über Pasolini den Film "Vor mir der Süden" gemacht hat, erklärt in dem Beitrag:
"Er wurde von allen Seiten angegriffen. Aber er hat nicht zurückgezogen. Diese Mentalität hat er auch auf dem Platz gebracht. Er wollte stürmen. Ohne taktische Spielchen."
Ein Stürmer – was sonst? Von ihm konnte man schon immer lernen, dass Angriff die bessere Verteidigung ist. Aber der Mann des Volkes hat den Volkssport Fußball nicht nur geliebt, er hat in ihm auch eine Verheißung gesehen und hatte einen quasi religiöses Verhältnis zu ihm.
Fußball war für Pasolini "das letzte sakrale Schauspiel unserer Zeit", der einzige Ort, an dem sich noch alle Schichten und Klassen und Ideologien versammeln und wie einst das Kirchgängervolk zu einer Masse verschmelzen.
Er [Calcio i.e. Fußball] mag der Zerstreuung dienen, doch im Kern handelt es sich um einen Ritus. Während andere sakrale Schauspiele, selbst der Gottesdienst, bereits im Niedergang begriffen sind, ist uns der Fußball als einziges geblieben. Er hat den Platz des Theaters eingenommen.
Pier Paolo Pasolini
Auf gesellschaftlicher Ebene definiert er den Fußball damit als die letzte heilige Darbietung unserer Zeit. Das heißt, für ihn ist die Masse an Zehntausenden Fans, die sich in einem Stadion versammeln, eine potenziell revolutionäre Masse.
"Fußball ist eine Metasprache"
Beim Verlag "edition converso", das auch die großartigen politischen Texte des Sizilianers Leonardo Sciasca auf Deutsch verlegt, ist jetzt ein Buch von Valerio Curcio über Pasolini und den Fußball erschienen. Es heißt "Der Torschützenkönig ist unter die Dichter gegangen. Fußball nach Pier Paolo Pasolini" und legt dar, dass Fußball für Pasolini aber nicht nur dieser quasi-religiöse Ort war, sondern eine der wenigen Situationen, die dem menschlichen Leben noch einen Sinn geben.
In denen man die Last der spätkapitalistischen Konsumgesellschaft für ein paar freie, unbefangene Stunden abschütteln konnte:
Die zwei Stunden Mitfiebern (Aggression und Verbrüderung) im Stadion sind befreiend: auch wenn darin aus Sicht einer politischen Moral oder moralistischen Politik eine Verweigerungshaltung oder Weltflucht zum Ausdruck kommt.
Pier Paolo Pasolini
Eine physische wie existenzielle Notwendigkeit, Weltflucht und Befreiung. Im Fußball kann man Kraft und Inspiration schöpfen, Freiheit, Sorglosigkeit und Geselligkeit erleben.
Zugleich sei Fußball auch eine universelle Sprache, ein Mittel des Austauschs und der sozialen Teilhabe:
Fußball ist ein System von Zeichen wie eine Metasprache. Es ist der letzte heilige Ritus unserer Zeit. Während andere heilige Riten wie die Messe im Niedergang begriffen sind, steht der Fußball bei den Massen hoch im Kurs. Er ist die Schauspielkunst, die das Theater ersetzt hat.
Pier Paolo Pasolini
Pasolini würde Katar schauen
Wie kommunistisch ist Fußball heute noch? Ist im Fußball die letzte revolutionäre Masse anwesend?
Der deutsche Autor Moritz Rinke breitet in dem Beitrag seine Wunschphantasien aus: "Es müsste jemanden wie Pasolini jetzt geben. Der würde diesen Infantino eigenhändig zur Strecke bringen." Andererseits: "Er würde gegen die völlige Entmoralisierung und Vermarktung dieses Sports wettern. Ich bin aber überzeugt, dass er dann heimlich denn noch die Spiele schauen würde."
Fußball war eben auch für Pasolini Regression und Transgression, nicht Moralisierung, sondern Ästhetisierung des Lebens
Literatur: Valerio Curcio: "Der Torschützenkönig ist unter die Dichter gegangen. Fußball nach Pier Paolo Pasolini." Mit einem Vorwort von Moritz Rinke. Edition Converso, Karlsruhe 2022, 192 S.