Wie kriegsmüde sind die Russen?
Täglich grüßen die Spekulationen. Nun gibt es auch eine Studie des Kreml: Demnach sind nicht die militärischen Niederlagen das Problem. Viel Protest kommt von Frauen.
Auf welche Unterstützung kann Putin in der Bevölkerung und im russischen Machtapparat noch zählen? Beinahe täglich gibt es dazu Antworten von Experten. Das Feld ist ergiebig und wird nachgefragt, es sprießen die Spekulationen. Sogar die buntesten schaffen es bis in die Qualitätsmedien. Selbst wenn sie Purzelbäume schlagen, die früher einem "Wunderland" vorbehalten waren.
So berichtet das respektable Redaktionsnetzwerk Deutschland heute davon, dass der russische Präsident Putin "offenbar" einen Angriff auf das eigene Land plane.
Ein Propagandatrick, so klärt RND auf, der letztlich dazu dienen soll, "die öffentliche Unterstützung für den Krieg in der Ukraine zurückzugewinnen". Quelle der Nachricht sind Militärexpertinnen und -experten des Washingtoner Thinktanks Institute for the Study of War (ISW), informiert das Redaktionsnetzwerk.
Warum wird diese Hypothese verbreitet, wo doch die Annahme von sogenannten False-Flag-Operationen eigentlich zum Kanon eines Lagers gehört, dem der Konspirationisten, von dem sich die seriösen Medien unterschieden wollen?
Man hätte die politische Position des ISW hinzufügen können, seinen Hintergrund, die Haltung des ISW, wenn es um militärische Interventionen der USA in andere Länder geht, um zu kennzeichnen, dass dies keine neutrale Expertise ist. Der ISW ist ein Think-Tank mit einem Kernpersonal, dessen Nähe zu neokonservativen Ideen eindeutig ist.
Diese Ideen spielten eine maßgebliche Rolle beim US-Angriff auf den Irak, 2003. Und diese Ideen spielen eine maßgebliche Rolle für den Dominanzanspruch der USA, für die Porträts der geopolitischen Gegner oder Rivalen der USA, ob sie nun Iran heißen oder Russland. Auf der Achse der Bösen ist alles möglich.
So ist auch alles möglich, wenn es um die Zukunft Russlands geht. "Putins Ende" ist ein zugkräftiges Thema für Experten: Was kommt nach Wladimir Putin? Europa müsse sich auf dunkle Stunden gefasst machen, so der Osteuropa-Experte Alexander Dubowy am vergangenen Wochenende in der Berliner Zeitung. Schon Ende September stellte er fest, dass sowohl die Eliten in Russland als auch die Bevölkerung bereits kriegsmüde seien und nicht mehr weiter wüssten. (Die Red.)
"Nicht sonderlich optimistisch"
Das von früheren Lenta.ru-Journalisten gegründete oppositionelle russische Online-Magazin Meduza, das seinen Sitz in Lettland hat und gut vernetzt ist, berichtet, dass der Kreml im Rahmen einer Studie in mehreren Regionen Fokusgruppen eingerichtet habe, um die Einstellung der Menschen zum Krieg bzw. der "militärische Sonderoperation" zu erkunden. Meduza hat die Informationen angeblich von zwei dem Kreml nahestehenden und mit der Studie vertrauten Informanten erhalten.
Die Russen, so die Studie, würden die Zukunft des Landes und ihre persönliche nicht sonderlich optimistisch sehen. Aber die Menschen würde deswegen nicht in die Opposition gehen oder den Krieg gänzlich ablehnen, sie scheinen sich einzukapseln und in Apathie oder Gleichgültigkeit verfallen. "Lasst mich in Ruhe", so schilderte einer der Informanten die verbreitete Stimmung.
Das scheint Umfragen zuwiderzulaufen. Nach einer Umfrage von VTSIOM, die zwischen 7. November und 13. November durchgeführt wurde, waren 73,7 Prozent der Befragten mit der Arbeit von Präsident Putin zufrieden, 2,1 Prozent weniger als eine Woche zuvor. 78 Prozent vertrauen Putin, 1,5 Prozent weniger.
Das ist weit entfernt von einem Einbruch des Vertrauens nach dem Rückzug der russischen Truppen aus dem eigentlich annektierten Cherson. Das als unabhängig geltende Levada-Institut kam, allerdings im Oktober, auf 79 Prozent, die mit Putins Arbeit zufrieden waren.
Allerdings könnten die kontinuierlich hohen Zustimmungswerte doch auch signalisieren, dass man "die da oben" einfach machen lässt, solange sie nicht lästig werden, beispielsweise durch Mobilisierung.
Nach der Studie sollen die Russen "kriegsmüde" sein, was aber nicht von ukrainischen Erfolgen und russischen Niederlagen der letzten Zeit wie in Cherson bedingt sei, auch wenn mehr Fragen zu den Ursachen des Kriegs und den Problemen der Kriegsführung aufkommen. Zu den größten, durch den Krieg verursachten Problemen seien die Mobilmachung, die wirtschaftlichen Folgen der Sanktionen und Instagram-Sperren genannt worden.
Nach den Informanten glaube niemand im Kreml, dass es zu großen Antikriegsprotesten kommen wird: "Die Leute gewöhnen sich an alles", sagte nach Meduza einer der dem Kreml nahestehender Informant. Das könnte sich aber ändern, wenn es zu einer zweiten, vielleicht noch größeren Mobilisierungswelle kommt, also mehr Russen und ihre Familien direkt in den Krieg hineingezogen werden.
Noch gibt es nur kleinere Proteste der Familienangehörigen von Eingezogenen. Es gibt Gerüchte, dass eine zweite Mobilisierung im Winter geplant sein könnte.
Protest der Frauen
Der Kreml wird das aber vermutlich nur machen, wenn es unbedingt notwendig wird und die russischen Truppen in der Ukraine und auf der Krim überrollt werden sollten. Ein wenig beunruhigt scheint man aber schon zu sein. Am 27. November, dem Muttertag, will sich Putin mit Müttern von Mobilisierten treffen, allerdings offenbar nur mit ausgewählten.
So beschwerte sich Olga Tsukanova vom Rat der Mütter und Ehefrauen in einem gestern veröffentlichten Video, dass sie nicht eingeladen wurden und die Eingeladenen nur vorher abgesprochene Fragen stellen würden. "Hast du den Mut, uns offen von Angesicht zu Angesicht zu treffen? … Wir warten auf eine Antwort. Wirst du dich wieder verstecken?"
Und sie fährt fort: "Wir haben nur Männer im Verteidigungsministerium, Männer in der Militärstaatsanwaltschaft, Männer in der Präsidialverwaltung, der Präsident ist ein Mann. Und Mütter auf der anderen Seite. Nun, Männer, kommt ihr zu einem Dialog heraus oder versteckt ihr euch?"
Kreml-Gegner sehen eher eine Palastrevolte als möglich an, um Putin zu stürzen, der wegen der militärischen Rückschläge an Rückhalt bei der Elite verloren hat. Manche denken, dass sich der tschetschenische Präsident Kadyrow mit seinen Kämpfern und Prigoschin ("Putins Koch"), der seine Söldnertruppe Wagner seit kurzem auch mit Häftlingen ausbaut, in Stellung bringen könnten, um einen Putsch durchzuführen.
Der Beitrag entstand in Kooperation mit dem Overton-Magazin.