Wie viele Russen unterstützen den Ukraine-Krieg?
Russische Fachleute haben begründete Zweifel, ob die Zustimmung für den russischen Krieg in der Ukraine im Land so groß ist, wie offizielle Umfrageergebnisse suggerieren
Geht man nach den Erhebungen großer russischer Umfrageinstitute, ist die Kriegsmoral in der russischen Bevölkerung und ihre Unterstützung für den Feldzug in der Ukraine sehr hoch. Eine Erhebung des Lewada-Zentrums vom April 2022 ergab – ähnlich wie vorangegangene Befragungen – eine Gesamtunterstützung der in Russland offiziell "Spezialoperation" genannten Invasion von 74 Prozent der Befragten, wobei 45 Prozent sie "voll und ganz" und 29 Prozent "eher" unterstützen.
Auf der anderen Seite gaben sich auch 82 Prozent der Umfrageteilnehmer besorgt über die Ereignisse in der Ukraine, vor allem wegen des Todes von Menschen, der verursachten Zerstörung und der Unsicherheit über die Zukunft.
Bereits seit einiger Zeit stellen russische Fachleute wie Soziologen und Politologen angesichts des innenpolitischen Klimas die Aussagekraft derartiger Umfrageergebnisse in Frage. Denn andererseits ergaben laut der Moskauer Tageszeitung Kommersant andere Befragungen, dass das Vertrauen gegenüber den staatlichen TV-Medien, die den Krieg kritiklos unterstützen, seit Februar stark abgenommen hat und nur noch bei 23 Prozent liegt.
Stattdessen suchen die Menschen gemäß der Zeitung vermehrt Informationen in Sozialen Netzwerken wie Telegram, wohin sich gerade in Russland die kritischeren Stimmen zurückgezogen haben.
Die Angst vor der "falschen" Antwort
Der Moskauer Soziologe Boris Kagarlizky, Direktor des dortigen Instituts für Globalisierung und Soziale Bewegungen, äußerte gegenüber den Blättern für Deutsche und Internationale Politik, dass meist nur diejenigen an den offiziellen, meist telefonischen Befragungen zum Krieg teilnehmen, die das "erwünschte Ergebnis von vorneherein unterstützen:
Eine häufige Aussage der Nicht Einverstandenen war, dass sie Angst vor Haftstrafen hätten, wenn sie etwas "Falsches" antworten, weshalb sie lieber vor dem Start der Umfrage auflegen.
Boris Kagarlizky / Blätter für Deutsche und Internationale Politik 4/2022
Die gleiche Meinung vertritt Margarita Sawadskaja, Wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Politologischen Fakultät der Europa-Universität Sankt Petersburg. Russen hätten Angst, offen zu antworten oder antworteten nicht, wenn es um heikle Themen gehe, erklärt sie gegenüber Telepolis. Das gelte insbesondere bei Telefonbefragungen, wie sie häufig von den großen russischen Instituten durchgeführt werden. Die Bürger hätten unter dem Eindruck der Repressalien gegen oppositionelle Medien gelernt, sich selbst zu zensieren und gefährliche Themen und Verhaltensweisen zu vermeiden.
Kaum ein Thema ist in Russland so heikel wie der Ukraine-Krieg – der ja bereits unter Strafandrohung nicht als solcher bezeichnet werden darf, auch nicht von Umfrageinstituten, die sich bei den Menschen nach ihrer Meinung dazu erkundigen. So werden durch generelle Verhaltensweisen genau bei diesem Thema die Ergebnisse am stärksten verzerrt. Dass diese Verzerrung durch den Kriegsbeginn stark zugenommen hat, davon geht etwa das russische Marktforschungsinstitut Russian Field aus.
Die Zahl der Interview-Ablehnungen und Abbrüche steigt
Es registrierte bei seiner jüngsten Erhebung zur Kriegsstimmung für 1.651 Befragungen 29.000 Ablehnungen eines Interviews. Das sei viel mehr als vor dem Kriegsausbruch und gegenüber dem ersten Kriegsmonat Februar eine Steigerung von 25,4 Prozent bei den von vorneherein abgelehnten Gesprächen und um 34,1 Prozent bei den von den Teilnehmern abgebrochenen Befragungen. Abbrüche erfolgten besonders häufig bei der Frage nach der Unterstützung der Militäraktion, weniger als halb so häufig bei der Frage nach den Informationsquellen, denen die Menschen vertrauen. Russian Field merkt dazu an:
Es ist davon auszugehen, dass durch die zunehmende Anzahl der Verweigerung der Teilnahme an einer Umfrage verbunden mit einer möglichen Abnahme der Aufrichtigkeit die Daten möglicherweise nicht mehr das tatsächliche Bild der (Nicht-)Unterstützung der Maßnahmen auf dem Territorium der Ukraine widerspiegeln.
www.russianfield.com
Das Unternehmen, das sich ebenfalls an offizielle Sprachregelungen halten muss, legt das offen, um den Kunden selbst die Möglichkeit zu geben, die Aussagekraft ihrer Untersuchung zu hinterfragen. Diese ergab übrigens eine mehrheitliche Unterstützung des Kriegseinsatzes unter den Befragten – mit Ausnahme der jüngsten Altersgruppe der 18- bis 29-jährigen. Vor allem die befragten Rentner und Behördenbeschäftigten erwiesen sich unter denen, die antworten wollten, als Sympathisanten der russischen Militäraktionen im Nachbarland.
Margarita Sawadskaja sieht weitere Verfälschungen solcher Ergebnisse durch die Tatsache, dass der Krieg auch bei der Umfrage nicht als solcher bezeichnet werden darf.
Formulierungen beeinflussen direkt das erzielte Ergebnis. Daher versuchen Soziologen, sich an bestimmte Standardformulierungen und Regeln zu halten.
Margarita Sawadskaja gegenüber Telepolis
Viele Befragte sind nach Sawadskajas Auffassung politisch auch kaum interessiert – sie gäben gewünschte Antworten ohne tieferes Nachdenken und würden zum aktuellen Zeitpunkt die Auswirkungen des Krieges noch nicht am eigenen Leib spüren. Auch hätten sie die Einstellung, dass ihre Meinung im Bezug auf die Handlungen der Regierung nicht zähle.
Die Rolle von Umfragen in Russland
Weshalb spielt aber die Meinungsforschung in Russland trotz dieser aktuell geringeren Aussagekraft eine so große Rolle, während zum Beispiel im benachbarten Belarus derartige Erhebungen von Präsident Alexander Lukaschenko aktiv blockiert werden? Für Sawadskaja liegt das an der Wirkung der aktuellen offiziellen Ergebnisse.
Unabhängige Meinungsforscher können arbeiten, so lange sie Zahlen zeigen, die mit dem Wunsch des Kreml übereinstimmen. Sobald Lewada und andere anfangen, andere Ergebnisse zu veröffentlichen, werden sie Probleme bekommen.
Margarita Sawadskaja gegenüber Telepolis
Der Kreml betreibt hierbei auch eigene Meinungsforschung über eine spezielle soziologische Abteilung des Präsidentengeheimdienstes FSO, dem Gegenstück zum US-amerikanischen Secret Service. Ob diese bessere Ergebnisse liefern, ist unbekannt, da diese unter Verschluss bleiben und einer öffentlichen Untersuchung nicht zur Verfügung stehen.
Bessere Ergebnisse lassen sich dabei laut Sawadskaja durch genauere Fragemethoden und längere Interviews mit mehr offenen Fragen erzielen, wie sie etwa Russian Field bevorzugt einsetzt. Es bleibt somit unklar, ob Putin und sein Umfeld über eine potenzielle Unzufriedenheit mit dem Kriegsgeschehen informiert sind oder sich ebenso täuschen lassen, wie es die Kreml-Medien aktiv mit offiziellen Umfrageergebnissen in Russland tun. In jedem Fall verwendet man aber "passende" Umfrageergebnisse gerne aktiv für eigene Zwecke:
Die Verbreitung von Umfrageergebnissen mit Pro-Kriegs-Mehrheit sendet ein Signal an die Bürger Russlands, dass, was auch immer sie denken, bereits alles entschieden ist. Das hat etwas von einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung. Die Meinung des Volkes hat ein vernachlässigbares Gewicht und man lässt sich kaum von ihr leiten. Vielmehr richtet sich das Volk nach der offiziellen Darstellung.
Margarita Sawadskaja in einer Analyse auf Riddle