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Wie wird der Internationale Gerichtshof auf Südafrikas Klage gegen Israel reagieren?

Anhörung zum Israel-Krieg vor dem IGH. Bild: icj-cij.org

Anklage aus Pretoria mit beunruhigenden Daten und schockierenden Zitaten. Herausforderung für internationale Gemeinschaft. Was das Gericht nun leisten muss. Ein Gastkommentar.

Ich schreibe die folgenden Zeilen, um auf ein wirklich wichtiges Dokument hinzuweisen, das von jedem, der sich für den andauernden Gaza-Krieg interessiert, weiterverbreitet und sorgfältig gelesen werden sollte.

Anklage gegen Israel: Völkermord im Gazastreifen

Konkret beziehe ich mich auf die 84-seitige Klageschrift, die Südafrika am 29. Dezember 2023 beim Internationalen Gerichtshof (IGH) eingereicht hat und in dem Israel beschuldigt wird, Völkermord an den Palästinensern in Gaza zu begehen [1].

Darin heißt es, dass die Handlungen Israels seit Beginn des Krieges am 7. Oktober 2023 "auf die Vernichtung eines wesentlichen Teils der palästinensischen nationalen, rassischen und ethnischen … Gruppe im Gazastreifen abzielen". Dieser Vorwurf fällt eindeutig unter die Definition von Völkermord in der Genfer Konvention, die Israel unterzeichnet hat [2].

Eine umfassende und gründlich dokumentierte Klageschrift

Die Klageschrift ist eine genaue und hervorragende Beschreibung dessen, was Israel in Gaza tut. Es handelt sich um eine umfassende, gut geschriebene, überzeugend argumentierende und gründliche Dokumentation, die aus drei Hauptkomponenten besteht.

Zunächst werden die Schrecken, die die IDF (Israel Defence Forces) den Palästinensern seit dem 7. Oktober 2023 zugefügt hat, detailliert beschrieben und erklärt, warum den Palästinensern zukünftig noch viel mehr Tod und Zerstörung bevorstehen wird.

John Mearsheimer ist US-Politikwissenschaftler und Experte für Internationale Beziehungen. Bild: privat, CC BY-SA 3.0

Zweitens liefert der Antrag eine große Menge an Beweisen, die zeigen, dass israelische Führer von völkermörderischen Absichten gegenüber den Palästinensern geleitet werden (Anklageschrift, S. 59 bis 69).

Führende israelische Politiker und ihre schockierenden Kommentare

In der Tat sind die Kommentare israelischer Führer – die alle peinlich genau dokumentiert sind – schockierend. Man fühlt sich daran erinnert, wie die Nazis über den Umgang mit Juden sprachen, wenn man liest, wie Israelis in "Positionen der höchsten Verantwortung" über den Umgang mit den Palästinensern sprechen (S. 59)

Im Wesentlichen wird in dem Dokument argumentiert, dass Israels Vorgehen in Gaza in Verbindung mit den Absichtserklärungen seiner Führer deutlich macht, dass die israelische Politik "darauf abzielt, die physische Vernichtung der Palästinenser in Gaza herbeizuführen" (S. 39).

Historischer Kontext: Israel und die Behandlung der Palästinenser

Drittens unternimmt das Dokument beträchtliche Anstrengungen, um den Gaza-Krieg in einen breiteren historischen Kontext zu stellen, indem es deutlich macht, dass Israel die Palästinenser in Gaza seit vielen Jahren wie eingesperrte Tiere behandelt.

Das Dokument zitiert aus zahlreichen UN-Berichten, in denen Israels grausame Behandlung der Palästinenser detailliert beschrieben wird. Kurz gesagt, der Antrag macht deutlich, dass das, was die Israelis seit dem 7. Oktober in Gaza getan haben, eine extremere Version dessen ist, was sie lange vor dem 7. Oktober schon getan haben.

Israelische Regierung: Vorwürfe sind "Verleumdung"

Es steht außer Frage, dass viele der in dem südafrikanischen Dokument beschriebenen Fakten bereits zuvor in den Medien berichtet wurden. Was die Darstellung jedoch so wichtig macht, ist, dass sie alle diese Fakten an einem Ort zusammenführt und eine übergreifende und gründlich auf Fakten gestützte Beschreibung des israelischen Völkermords liefert. Mit anderen Worten: Sie liefert das große Ganze, ohne die Details zu vernachlässigen.

Es überrascht nicht, dass die israelische Regierung die Anschuldigungen als "Verleumdung" bezeichnet hat, die "keine faktische und juristische Grundlage hat". Ferner behauptet Israel, dass "Südafrika mit einer Terrorgruppe kollaboriert, die zur Zerstörung des Staates Israel aufruft".

Fakten vs. Israelische Behauptungen

Eine genaue Lektüre des Dokuments macht jedoch klar, dass es für diese Behauptungen keine Grundlage gibt.

In der Tat ist es schwer vorstellbar, wie Israel in der Lage sein wird, sich auf rational-legale Weise zu verteidigen, wenn das Verfahren beginnt. Schließlich sind brachiale und gut dokumentierte Fakten schwer zu bestreiten.

Lassen Sie mich einige zusätzliche Bemerkungen zu den südafrikanischen Vorwürfen machen.

Die Besonderheiten des Völkermords

Erstens betont das Dokument, dass sich Völkermord von anderen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit unterscheidet, obwohl "oft ein enger Zusammenhang zwischen all diesen Taten besteht".

Es ist etwa ein Kriegsverbrechen, eine Zivilbevölkerung ins Visier zu nehmen, um einen Krieg zu gewinnen – wie es der Fall war, als Großbritannien und die Vereinigten Staaten im Zweiten Weltkrieg deutsche und japanische Städte bombardierten. Das war ein Kriegsverbrechen, aber kein Völkermord. Großbritannien und die Vereinigten Staaten versuchten nicht, "einen wesentlichen Teil" oder alle Menschen in den angegriffenen Staaten zu vernichten.

Ethnische Säuberungen, ausgeführt durch selektive Gewalt, sind ebenfalls ein Kriegsverbrechen, wobei sie aber noch kein Völkermord sind, eine Handlung, die Omer Bartov, der in Israel geborene Holocaust-Experte, als "das Verbrechen aller Verbrechen" bezeichnet [3].

An dieser Stelle möchte ich bekennen: Ich habe zunächst geglaubt, dass Israel sich in den ersten zwei Monaten des Krieges zwar schwerer Kriegsverbrechen schuldig gemacht hatte – aber nicht des Völkermords –, obwohl es immer mehr Beweise für das gab, was Bartov als "völkermörderische Absicht" seitens der israelischen Führung [4] bezeichnet hat.

Aber als Israel dann nach dem Ende des Waffenstillstands vom 24. bis 30. November 2023 wieder in die militärische Offensive ging, wurde mir klar: Die israelische Führung hat tatsächlich versucht, einen beträchtlichen Teil der palästinensischen Bevölkerung des Gazastreifens physisch zu vernichten.

Biden und die US-Mitschuld am israelischen Völkermord

Zweitens: Obwohl sich der südafrikanische Antrag auf Israel konzentriert, hat er enorme Auswirkungen auf die Vereinigten Staaten, insbesondere für Präsident Biden und seine wichtigsten Mitarbeiter. Warum? Weil kaum ein Zweifel daran besteht, dass die Biden-Regierung am Völkermord durch Israel mitschuldig ist, was nach der Völkermordkonvention ebenfalls strafbar ist.

Trotz seines Eingeständnisses, dass Israel "wahllose Bombardierungen" betreibt, hat Präsident Biden auch erklärt, dass "wir nichts anderes machen werden, als Israel zu beschützen" [5].

Er hat sein Wort gehalten und ist sogar so weit gegangen, den Kongress zweimal zu umgehen, um schnell zusätzliche Waffen nach Israel bringen zu können.

Abgesehen von den rechtlichen Implikationen seines Verhaltens wird Bidens Name – und Amerikas Name – für immer mit dem in Verbindung gebracht werden, was wahrscheinlich als einer der klassischen Fälle aus dem Lehrbuch für versuchten Völkermord anerkannt werden wird.

Israel vor dem IGH: Ein historischer Wendepunkt

Drittens hätte ich mir nie vorstellen können, dass ich den Tag erleben würde, an dem Israel, ein Land voller Holocaust-Überlebender und ihrer Nachkommen, ernsthaft wegen Völkermords angeklagt werden würde.

Unabhängig davon, wie dieser Fall vor dem IGH ausgeht – und hier bin ich mir der Manöver bewusst, die die Vereinigten Staaten und Israel anwenden werden, um ein faires Verfahren zu hintertreiben – wird Israel in Zukunft weltweit als Hauptverantwortlicher für einen der kanonischen Fälle von Völkermord angesehen werden.

Endloser Völkermord: Ein düsterer Ausblick

Viertens betont das südafrikanische Dokument, dass es keinen Grund zu der Annahme gibt, dass dieser Völkermord bald enden wird, wenn der IGH nicht erfolgreich interveniert.

Zweimal werden in der Klageschrift die Worte des israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu vom 25. Dezember 2023 zitiert, um diesen Punkt zu verdeutlichen: "Wir hören nicht auf, wir kämpfen weiter, und wir vertiefen die Kämpfe in den kommenden Tagen, und dies wird ein langer Kampf sein, und er ist noch lange nicht vorbei" (Anklageschrift, S. 8 und 82).

Es ist zu hoffen, dass Südafrika und der IGH die Kämpfe in Gaza beenden können, aber letztlich ist die Macht internationaler Gerichte, Länder wie Israel und die Vereinigten Staaten unter Druck zu setzen, äußerst begrenzt.

Das Versagen der sogenannten Menschenrechtsexperten

Und zum Schluss sei noch auf Folgendes hingewiesen: Die Vereinigten Staaten sind eine liberale Demokratie, die durch viele Intellektuelle, Zeitungsredakteure, politische Entscheidungsträger, Experten und Wissenschaftler geprägt ist, die ständig ihr tiefes Engagement für den Schutz der Menschenrechte auf der ganzen Welt verkünden.

Diese Personen neigen dazu, sich immer sehr lautstark zu äußern, wenn andere Länder eventuelle Kriegsverbrechen begehen, insbesondere, wenn die Vereinigten Staaten oder einer ihrer Verbündeten davon betroffen sind.

Im Fall des israelischen Völkermords haben die meisten Menschenrechtsexperten im liberalen Mainstream jedoch wenig über Israels brutales Vorgehen in Gaza oder die völkermörderische Rhetorik seiner Führer berichtet. Hoffentlich erklären sie ihr beunruhigendes Schweigen eines Tages.

Unabhängig davon glaube ich, dass die Geschichte es nicht gut mit ihnen meinen wird, denn sie haben kaum ein Wort dazu gesagt, dass ihr Land an einem schrecklichen Verbrechen beteiligt gewesen ist, das für alle in Echtzeit sichtbar war.

John Mearsheimer ist ein US-amerikanischer Politikwissenschaftler und international anerkannter Experte für Internationale Beziehungen. Er wurde am 14. Dezember 1947 geboren. Mearsheimer ist insbesondere für seine Arbeiten im Bereich der Neorealistischen Schule der Internationalen Beziehungen bekannt.

Sein einflussreichstes Werk ist wahrscheinlich das Buch "The Tragedy of Great Power Politics" (Die Tragödie der Großmachtpolitik), das im Jahr 2001 veröffentlicht wurde. In diesem Buch argumentiert er, dass die Struktur des internationalen Systems dazu neigt, Großmächte zu Konflikten und Wettbewerb zu drängen.

Mearsheimer hat auch zu verschiedenen anderen Themen im Bereich der Internationalen Beziehungen geschrieben, darunter die Rolle von Nuklearwaffen, die Beziehungen zwischen den USA und China sowie den Nahostkonflikt. Er lehrt an der University of Chicago, wo er die R. Wendell Harrison Distinguished Service Professor of Political Science ist.

Am 04.01.2024 hat er auf der US-Website Substack einen Bericht über den jetzigen erneuten Krieg in Gaza und deren katastrophale Auswirkungen für die Palästinenser mit dem Titel "Death and Destruction in Gaza" (deutsch: Tod und Zerstörung in Gaza) veröffentlicht. Klaus-Dieter Kolenda hat diesen Text mit Genehmigung von John Mearsheimer ins Deutsche übertragen.

Übersetzung: Klaus-Dieter Kolenda, Prof. Dr. med., Facharzt für Innere Medizin – Gastroenterologie, Facharzt für Physikalische und Rehabilitative Medizin/Sozialmedizin, war von 1985 bis 2006 Chefarzt einer Rehabilitationsklinik für Erkrankungen des Herz-Kreislaufsystems, der Atemwege, des Stoffwechsels und der Bewegungsorgane.

Seit 1978 ist er als medizinischer Sachverständiger bei der Sozialgerichtsbarkeit in Schleswig-Holstein tätig. Zudem arbeitet er in der Kieler Gruppe der IPPNW e. V. (Internationale Ärztinnen und Ärzte für die Verhütung des Atomkriegs und für soziale Verantwortung) mit. E-Mail: klaus-dieter.kolenda@gmx.de


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-9596843

Links in diesem Artikel:
[1] https://www.icj-cij.org/sites/default/files/case-related/192/192-20231228-app-01-00-en.pdf
[2] https://www.un.org/en/genocideprevention/documents/atrocity-crimes/Doc.1_Convention%20on%20the%20Prevention%20and%20Punishment%20of%20the%20Crime%20of%20Genocide.pdf
[3] https://www.timesofisrael.com/blood-libel-israel-slams-south-africa-for-filing-icj-genocide-motion-over-gaza-war/
[4] https://www.telepolis.de/features/Israel-Krieg-Tod-und-Zerstoerung-in-Gaza-9574864.html
[5] https://www.motherjones.com/politics/2023/12/how-joe-biden-became-americas-top-israel-hawk/