Wiederaufbau Ukraine: Wie "neoliberal" wird er?

Kanzler Scholz spricht von einer Generationenaufgabe und einer großen wirtschaftlichen Transformation mit dem Ziel der Ukraine als EU-Mitglied. Er fordert viele Reformen. Aus Kiew kommen erste Deregulierungsvorschläge.
Bundeskanzler Scholz sprach heute Mittag von einer "Generationenaufgabe". Bei seiner Rede zum 5. Deutsch-Ukrainischen Wirtschaftsforum in Berlin ging es um den Wiederaufbau der Ukraine.
Mit dem Begriff der "Generationenaufgabe" zeigte Scholz die Dimensionen an, die sich mit dem Wiederaufbau des kriegsgeschädigten Landes für die EU, für Deutschland, für Unternehmen und für Investoren eröffnen sollen.
Zwar müsse man sich zunächst auf die Nothilfe konzentrieren, darauf, dass die von russischen Angriffen zerstörte Infrastruktur wieder instandgesetzt werde, der Bevölkerung geholfen werde und der Ukraine mit Waffenlieferungen ein Schutz gegen weitere Zerstörungen zukomme, aber der Horizont, den Scholz aufspannte, erstreckte sich, wie schon bei der "Zeitenwende" in historische, beinahe epische Dimensionen.
Die Veranstaltung heute und die Internationale Expertenkonferenz zum Wiederaufbau der Ukraine, die für morgen in Berlin angesetzt ist, sind nach den Worten des Kanzlers "der Beginn einer Wirtschafts- und Transformationspartnerschaft", die die Ukraine zu einem "Teil der europäischen Familie" macht. Ein großes Ziel ist, dass der Beitrittskandidat Ukraine Mitglied der EU wird.
"Marshallplan des 21. Jahrhunderts"
Diese Zeitenwende und der ganz große Rahmen, der für die Wirtschafts- und Transformationspartnerschaft aufgezogen wird - Scholz und EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen fordern einen internationalen "Marshallplan des 21. Jahrhunderts" für den Wiederaufbau in der Ukraine – wurde vom deutschen Kanzler mit dem beschwörenden Satz unterlegt: "Putins Krieg hat uns zusammengeschweißt."
Wie stark die Front halten wird, wenn die Energiekrise und die Wirtschaftsrezession noch deutlicher zu spüren sein werden, etwa auf den Arbeitsmärkten infolge von Produktionsdrosselungen, ist nicht die geringste Unwägbarkeit bei dieser Partnerschaft. Wie viel Geld wird für die Ukraine bereitgestellt, wenn es zu Hause knapp wird?
Laut Präsident Selenskyj brauche das Land im nächsten Jahr insgesamt 55 Milliarden US-Dollar, um das Haushaltsdefizit zu decken und Infrastruktur wieder aufzubauen. [Einfügung: "Schmyhal bezifferte den Finanzbedarf für den Wiederaufbau auf 750 Milliarden Dollar. Er betonte, dass die Ukraine der EU künftig Strom und Gas liefern wolle." (Tagesschau)]
Scholz machte darauf aufmerksam, wie wichtig private Investitionen sind. Mehrmals betonte er, dass es bei den Arbeiten am Rahmen der Partnerschaft darum gehe, Vertrauen für die Investoren herzustellen.
Korruption und Investoren
Dabei spielte er in relativ diskreter Weise, aber für das Publikum – darunter der ukrainische Premier Denys Schmyhal, Spitzenvertreter des Ost-Ausschusses der Deutschen Wirtschaft und des Deutschen Industrie- und Handelskammertags – deutlich genug, das Problem der Korruption in der Ukraine an.
Das Thema, das vor dem Krieg noch Arte-Dokumentationen mit einer Wortwahl beschäftigte, die seither leise aus der öffentlichen Konsens-Debatte über Hilfen zur Ukraine verschwunden ist, wurde vom Kanzler in Begriffe eingeordnet wie "Rechtsstaat", "Achtung vor Grundrechten" und besonders dort, wo es um das Vertrauen der Investoren ging. Da sei noch einiges zu tun, so der Kanzler in einer kurzen Adresse an den ukrainischen Premierminister.
Immerhin seien jetzt schon 2.000 deutsche Unternehmen in der Ukraine tätig, die die "guten Bedingungen dort loben", so etwa die gute Fachausbildung vieler Ukrainer. Zusammen mit der Zukunftsausrichtung vieler Unternehmen, die in der IT beschäftigt sind, und mit dem ukrainischen Agrarsektor sehe er da viele gute Aussichten, so Scholz.
Aber er sehe auch die Notwendigkeit vieler Reformen. Die Investoren sollen Sicherheit haben.
Deregulierungen zugunsten von Unternehmen
Wie die Reformen aussehen sollen, ist schon seit 2014, seit der damaligen Diskussion über einen EU-Beitritt der Ukraine, Gegenstand skeptischer Äußerungen über eine Westanbindung der Ukraine, wonach sie, um ein Kampfwort zu verwenden, auf "neoliberale Reformen" hinauslaufen würde: Deregulierungen zugunsten von Unternehmen, zum Nachteil von Arbeitnehmern und sozialer Absicherungen.
Schaut man auf die Agenda des morgigen internationalen Expertentreffens zum Wiederaufbau der Ukraine, das Deutschland wegen der G7-Präsidentschaft ausrichtet, so findet diese Skepsis schon Begründungen.
Arbeitsrecht ändern, Privatisierung vorantreiben
Aufgeführt wird etwa der ukrainische Präsidentenberater Alexander Rodnyansky jr., Wirtschaftsprofessor in Cambridge, der eine prominente Figur ist, wenn es um Reformpläne geht. Der britische Guardian hat seinen Vorstellungen Anfang Oktober einen eigenen Beitrag gewidmet. Die Überschrift sagt schon einiges über den Kurs, der dem Wirtschaftsberater von Präsident Selenskyj vorschwebt: Die Ukraine müsse ihr Arbeitsrecht überarbeiten und Privatisierung vorantreiben, um die Wirtschaft zu sanieren.
Man kann sich gut vorstellen, dass westliche Investoren und Unternehmer wenig gegen Reformideen einzuwenden haben, die vorhaben, "einen liberaleren Ansatz" zu versuchen, mit einem flexiblen Arbeitsmarkt, der das Modell Dänemark nachahmt, "weil wir aufholen müssen". Die entbürokratisieren wollen, wenn es um Arbeitnehmerrechte geht: "Es gibt auch konventionellere Dinge zu reformieren: einfache Einstellung, einfache Entlassung, Abfindungen, flexible Arbeitszeiten und befristete Verträge."
Auch die Einführung eines Null-Stunden-Vertrags ist laut Guardian in der Diskussion wie auch die Abschaffung des Mindestlohns in einigen Branchen, "in denen sie nicht zu mehr Beschäftigung führen".
Wir müssen sicherstellen, dass er (der Mindestlohn, Einf. d. A.) nicht zu hoch ist, weil unsere Wirtschaft kollabiert und wir müssen sicherstellen, dass er die Arbeitslosigkeit nicht in die Höhe treibt.
Alexander Rodnyansky jr.
Intelligenter Plan: "Nachhaltigkeit" und ein schleichender Prozess
Geht es nach Michael Harms, Geschäftsführer des Ost-Ausschusses der Deutschen Wirtschaft (OA), so heißt das erste Gebot für den längerfristigen Wirtschaftsaufbau "Nachhaltigkeit". Die Bevölkerung müsse schnelle Ergebnisse beim Wiederaufbau zerstörter Infrastruktur sehen. Gleichzeitig gelte für einen intelligenten Plan, dass "Grundlagen für nachhaltiges Wachstum" geschaffen werden. Dazu gehört auch die Kontrolle der Mittel. Wer viel gibt, fordert auch.
"Jedes Geberland solle die Aufsicht über eigene Projektmittel behalten, um Transparenz und Rechenschaftspflicht zu gewährleisten", wird Harms von der SZ zitiert. Solange der Krieg weitergeht, sei "nicht mit einer riesigen Investitionswelle deutscher Firmen in der Ukraine zu rechnen". Harms sprich von einem "schleichenden" Prozess, den man nun vorbereiten muss.