Will "die Ukraine aufgeben", wer gegen eine "Eskalation der Waffenlieferungen" ist?
Eine Petition gegen das "Manifest für Frieden" wurde gestartet. Sie soll den bisherigen Regierungskurs unterstützen. Das Textverständnis der Autoren wirft Fragen auf.
Nachdem das "Manifest für Frieden" von Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer auf der Kampagnenplattform Change.org mehr als eine halbe Million mal unterzeichnet wurde und "Gegenmanifeste" von weniger bekannten Einzelpersonen oder anonymen Gruppen sowohl dort als auch bei Campact kursieren, hat der Münchner Politikwissenschaftler Alexander Stephans einen professionelleren Versuch gestartet.
Die "Gegenrede" zum Wagenknecht-Schwarzer-Manifest trägt die Überschrift "Die Ukraine jetzt aufgeben? Nicht in unserem Namen!" und wurde ebenfalls auf Change.org veröffentlicht. Neben Initiator Stephans, dem CDU-Politiker Roderich Kiesewetter und dem Ex-FDP-Politiker Hildebrecht Braun gibt es sieben weitere Erstunterzeichner, die überwiegend in Politikwissenschaft und Militärforschung tätig sind. Spiegel Online hat bereits darüber berichtet.
Stein des Anstoßes: Im "Manifest für Frieden" wird Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) aufgefordert, "die Eskalation der Waffenlieferungen zu stoppen". Er solle sich "auf deutscher wie europäischer Ebene an die Spitze einer starken Allianz für einen Waffenstillstand und für Friedensverhandlungen setzen" heißt es dort. Jeder verlorene Tag koste "bis zu 1.000 weitere Menschenleben" und erhöhe die Gefahr eines dritten Weltkriegs.
Daraus wird in der Gegenrede der Vorwurf, die "Friedenskünstler um Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer" wollten die Ukraine "aufgeben".
Was im "Manifest für Frieden" tatsächlich (nicht) gefordert wird
Es ist allerdings kein Zufall, dass in dem Manifest nicht der sofortige Stopp aller Waffenlieferungen gefordert wird. Das hätten wohl auch manche Erstunterzeichner nicht unterschrieben. Vermutlich wurde hier bewusst eine konsensfähige Formulierung gewählt – und keine, die nur radikale Pazifisten unterschreiben könnten. Unter "Eskalation der Waffenlieferungen" ist der Übergang von Defensivwaffen zu immer mehr Offensivwaffen zu verstehen.
Der Politikwissenschaftler Hajo Funke betonte am Dienstag gegenüber Telepolis, ihm sei genau diese Formulierung wichtig gewiesen, als die Debatte um Kampfpanzer nahtlos in eine über Kampfjets überging. Funke selbst hatte sich zu Beginn des Krieges auch für militärische Unterstützung der Ukraine ausgesprochen.
Natürlich brauche die Ukraine Waffen, um ihr legitimes Selbstverteidigungsrecht wahrzunehmen, sagt Funke auch heute. "Ohne westliche Unterstützung wäre sie zusammengebrochen, aber jetzt haben wir eine andere Situation." Es gebe inzwischen "ein Patt" mit immer mehr Toten, aber keine wesentlichen Veränderungen im Frontverlauf. Auch Militärexperten wie Ex-Nato-General Harald Kujat und Erich Vad würden sagen, dass eine Eskalation der Waffenlieferungen den Krieg nur verlängern werde.
Unter diesen Bedingungen sei statt einer Eskalation der Waffenlieferungen eine Friedensinitiative für einen Waffenstillstand angesagt, so Funke. Die Formulierung im Manifest sei eigentlich unmissverständlich.
Furchtlos oder gratismutig?
In der "Gegenrede" zum Friedensmanifest sind aber Differenzierungen und Zwischentöne nicht vorgesehen. "Sie wollen die bisherigen Anstrengungen der Bundesregierung und das Engagement von Millionen Deutschen unterminieren", heißt es darin. Dem stellen sich die Unterzeichner nach eigenen Worten "furchtlos" entgegen, indem sie den Ukraine-Kurs der Regierung unterstützen.
Warum sollten sie auch Angst haben, wenn sie gar nicht der Meinung sind, dass die Bundesregierung mit den Waffenlieferungen eine Ausweitung des Krieges bis nach Deutschland riskiert? Wer meint, dass diese Gefahr nicht besteht, kann auch vollkommen gratismutig den Regierungskurs unterstützen. Das Wörtchen "furchtlos" wäre dann an dieser Stelle nur peinliche Selbstbeweihräucherung.
Schließlich kostet es dann nichts und ruiniert nicht die eigene Karriere, für Panzerlieferungen zu sein und unsachliche Kritik an Gruppen oder Personen zu äußern, die sich für Deeskalation im Ukraine-Krieg einsetzen.
Wer aber meint, diese Gefahr einer Ausweitung des Krieges bestehe schon, doch das müsse – für welches hehre Ziel auch immer – in Kauf genommen werden, sollte erklären, warum es das wert ist; und warum es aus seiner Sicht der Ukraine hilft, wenn am Ende europaweit Krieg ist.
Tatsächlich pazifistische Strategien wurden bisher kaum diskutiert – jedenfalls nicht in einem größeren öffentlichen Rahmen. So findet sich auch im "Manifest für Frieden" nicht der Vorschlag, Deserteuren und Kriegsdienstverweigerern unkompliziert Asyl anzubieten, um die russische Kriegsmaschinerie zu schwächen.
Stattdessen läuft die Auseinandersetzung weitgehend auf der Basis von Unterstellungen. Auch der Philosoph Jürgen Habermas wurde teils besonders heftig von Leuten attackiert, deren Einlassungen die Frage aufwerfen, ob sie von seinem "Plädoyer für Verhandlungen" in der Süddeutschen Zeitung mehr als die Überschrift gelesen hatten. Habermas stehe "unverschämt in Putins Diensten", twitterte etwa der frühere ukrainische Botschafter in Deutschland, Andrij Melnyk.
Tatsächlich hatte Habermas sogar betont, der Ukraine seien "aus guten Gründen" Waffen geliefert worden. Allerdings hatte auch er sich besorgt über die Dynamik der Waffenlieferungen und das aggressive Debattenklima in dieser Frage geäußert – und für "rechtzeitige" Verhandlungen geworben.