"Wir Muslime müssen Extremisten isolieren"

Ahmad Milad Karimi. Foto: Elif Kücük

Ist der Islam nun eine Religion des Friedens oder eine Ideologie der Unterdrückung? Ein Gespräch mit dem Islamforscher Ahmad Milad Karimi, der für eine differenzierte Sicht plädiert

Irak, Iran, Mali, Syrien, Libyen, jetzt wieder Afghanistan: Es gibt kaum ein muslimisches Land, in dem die Menschen in den letzten Jahrzehnten nicht die rückwärtsgewandte und gewalttätige Seite ihrer eigenen Religion zu spüren bekamen. Islamische Fundamentalisten weltweit berufen sich auf den Propheten, wenn sie Ungläubige töten, Frauen einsperren und Andersdenkende verfolgen. Wie ist das möglich? Gehört Gewalt etwa doch zum Islam? Oder lässt sich diese Religion leichter als andere von Tyrannen vereinnahmen? Ahmad Milad Karimi, Religionsphilosoph und selbst Muslim, stellt sich im Interview heiklen Fragen.

Oft wird der Islam als "Religion des Friedens" bezeichnet. Fakt ist, dass der Islam von Staaten und Individuen aber auch benutzt wird, um die Tötung von Menschen zu rechtfertigen, so etwa in Fällen von Apostasie. Gehört auch das zum Islam?

Ahmad Milad Karimi: Die Behauptung, dass der Islam eine Religion des Friedens sei, ist genauso schwer anzunehmen wie die Aussage, dass der Islam eine Religion der Gewalt oder Unterdrückung sei. Ich glaube, dass solche Zuschreibungen zu vereinfachend sind, um eine Religion, die über 1.400 Jahre alt ist und so viele verschiedene Auslegungen und Realitäten kennt, adäquat zu beschreiben.

Warum gehen diese Interpretationen zum Teil so extrem auseinander?

Ahmad Milad Karimi: Weder Gott noch der Koran noch die Prophetenüberlieferung sind handelnde Subjekte, die etwas tun oder unterlassen. Es sind immer Menschen, die eine Religion auslegen. Verschiedene Faktoren sind ausschlaggebend: Welches Wissen haben diese Menschen? Über welche Bildung verfügen sie? Und in welchem Kontext leben sie?

Die Lebensumstände des 7. Jahrhunderts auf der arabischen Halbinsel sind mit denen im heutigen Europa nicht zu vergleichen. So gesehen, gehört Gewalt unweigerlich zur Geschichte des Islams, im Namen des Islams wurden Menschen getötet, verfolgt und diskriminiert. Aber es wurden im Namen des Islam auch Menschen gerettet, barmherzig behandelt, in ihrem Anderssein toleriert.

Und wer steht dem "wahren Islam", den ja jeder für sich beansprucht, näher?

Ahmad Milad Karimi: Das ist eine theologische Frage. Und in theologischer Hinsicht muss man klar sagen: Eine aktive Gewaltausübung, eine diskriminierende und menschenverachtende Religionsausübung sind im Islam inakzeptabel. Wer dennoch eine solche Auslegung des Islam praktiziert, könnte sie argumentativ nicht durchsetzen.

Angesicht der Machtübernahme der Taliban haben Sie in einem Interview gefragt, wo der Aufschrei in der muslimischen Welt bleibt. Zweifellos genießen die Taliban auch Sympathien, nicht nur unter militanten Islamisten. Wie weit haben es heute extremistische Positionen bis in die Mitte der muslimischen Gesellschaften geschafft?

Ahmad Milad Karimi: Die Taliban sind im Gegensatz zum IS oder Al-Qaida eine lokale Gruppierung, die keine globalen Machtansprüche stellt. Vielleicht gab es auch deshalb keinen Aufschrei, weil sich niemand direkt bedroht fühlte? Das Bedauerliche an diesem lauten Schweigen ist ja, dass so viel Raum für Spekulationen bleibt. Sehen einige Muslime etwa ihre eigenen Fantasien in Afghanistan verwirklicht? Solche Gedanken kommen auf, weil islamische Institutionen noch immer keine klare Haltung gegenüber menschenverachtenden Tendenzen gefunden haben.

"Sympathien, Opportunismus, aber auch Überforderung"

Was steckt Ihrer Ansicht nach hinter diesem Schweigen?

Ahmad Milad Karimi: Es ist ein Sammelsurium von allem: Sympathien, Opportunismus, aber auch Überforderung. Die islamische Welt liegt ohnehin geistig und kulturell brach. Die islamische Religion hat ihre Hochkultur in der Gegenwart verloren.

Woran liegt das? In der Vergangenheit, vor allem in der Zeit zwischen dem 8. und 13. Jahrhundert, brachte die islamische Welt noch berühmte Philosophen, Dichter und Wissenschaftler hervor.

Ahmad Milad Karimi: Unter anderem hat die Kolonialzeit zu diesem Niedergang beigetragen. Die europäischen Kolonialherren haben die arabische Welt nicht nur selbst beherrscht, sondern auch lokalen Despoten zur Macht verholfen und willkürlich Grenzen gezogen, ihre materiellen und geistigen Schätze ausgeplündert, mit gravierenden Folgen bis heute. Das hat viel Selbstbewusstsein und Entwicklungspotenzial zerstört. Der Kampf um Selbstbestimmung äußerte sich zunächst in sozialistischen Widerstands- und Nationalbewegungen. Sobald auch die zerschlagen wurden, kam die extremistische, die totalitäre Variante.

Müssen sich Muslime überhaupt distanzieren, wenn irgendwer in ihrem Namen einen Anschlag verübt oder Menschen unterdrückt?

Ahmad Milad Karimi: Mir geht es nicht um Distanzierung - wenn man von mir erwartet, dass ich mich distanziere, unterstellt man mir dadurch schon automatisch eine gewisse Nähe zu den Terroristen; und das wäre beleidigend - sondern um eine Isolierung. Das ist etwas völlig anderes.

Die Taliban zu isolieren, bedeutet klarzumachen, dass das, was sie im Namen des Islams tun - die Verachtung menschlichen Lebens, drakonische Körperstrafen, Unterdrückung der Frauen - nicht auch eine Lesart des Islams ist, sondern gar kein Islam mehr. Der Vorteil einer Isolierung ist, dass die Fundamentalisten wie die Taliban nicht mehr behaupten könnten, sie seien auch Muslime. Derzeit fällt es ihnen aber allzu leicht, sich als Muslime zu verkaufen.

Die Taliban sind nur eines von vielen Beispielen. Es gibt heute kaum ein muslimisches Land, in dem eine institutionelle Trennung zwischen Staat und Religion praktiziert wird. Warum?

Ahmad Milad Karimi: Indem wir diese Länder als islamisch bezeichnen, durchbrechen wir schon die Trennung zwischen Staat und Religion. Wobei ein politischer Islam nicht per se schlecht sein muss. Ein Mensch, der sich aus religiöser Überzeugung politisch engagiert und sich um das Gemeinwohl sorgt, ist für die Gesellschaft eine Bereicherung.

Der Missstand entsteht, wenn die Religion zum Mittel der politischen Machtergreifung pervertiert wird. Mir ist auch nicht verständlich, weshalb auf der afghanischen Flagge das muslimische Glaubensbekenntnis steht. Es geht doch nicht um den Islam, sondern um die Menschen in Afghanistan. Dazu gehören auch Hindus, Sikhs und Christen und Juden.

Wenn man die Religionsgründer miteinander vergleicht, dann war Jesus ein radikaler Pazifist, der seine Mission von Anfang an jenseits irdischer Politik gesehen hat, während Mohammed ein Feldherr war; nicht umsonst beziehen sich einige Passagen im Koran auf konkrete historische Begebenheiten, etwa die Feindschaft zwischen Mekka und Medina. Ist die Vermischung von Religion und Politik eine Art Geburtsfehler des Islam?

Ahmad Milad Karimi: Ich glaube nicht, dass man Jesus und Mohammed vergleichen kann, schon allein wegen des Kontexts, in dem sie gelebt und gewirkt haben. Da vertauschen Sie Jahrhunderte miteinander. Hätte Jesus im selben Zusammenhang wie Mohammed gelebt, wäre er mit seiner ganzen Gemeinde von Feinden militärisch angegriffen worden, dann wäre es sein menschliches Recht gewesen, sich zu verteidigen.

Es ging mir nicht darum, die beiden Religionsgründer moralisch zu vergleichen. Aber wenn der eine Religionsgründer sagt "Du sollst beide Wangen hinhalten" und der andere Tötungsbefehle gibt, hat das auf die jeweiligen Glaubensgemeinschaften doch bestimmte Auswirkungen.

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