"Wir Muslime müssen Extremisten isolieren"
Seite 2: "Verfehlte und lebensferne Sexualmoral"
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Ahmad Milad Karimi: Denken wir an die Kreuzzüge, an das Unheil, das damals im Namen des Christentums gestiftet wurde; da hat man wohl auch nicht sonderlich an Jesus gedacht. Oder vielleicht doch, sagte er nicht: "Ihr sollt nicht meinen, dass ich gekommen bin, Frieden zu bringen auf die Erde. Ich bin nicht gekommen, Frieden zu bringen, sondern das Schwert. Denn ich bin gekommen, den Menschen zu entzweien (…)." (Matthäus 10, 34-39)
Der Vergleich ist also nicht ganz einsehbar, weil man es sich damit bequem gemacht hat, ein viel zu glattes und historisch nicht einsehbares Bild des Christentums zu zeichnen. Wie fatal wäre es denn, zu fragen, ob die Missbrauchsskandale der katholischen Kirche nicht ein "Geburtsfehler" des Christentums überhaupt seien, weil sie eine verfehlte und lebensferne Sexualmoral offenbaren, die Leid produziert? Mit der Religion ist das alles nicht einfach erklärbar.
Und es ist genauso wenig erklärbar, wenn ich als Muslim heute in eine Schlacht gegen Ungläubige ziehe, nur weil der Prophet selbst auch an Kriegen beteiligt war. Die Frage nach dem Wesen des Islam oder des Christentums ist hier fehl am Platz. Es geht vielmehr um die Frage: Wie kann man verhindern, dass Menschen mit Religion Aggressionen rechtfertigen? Muslime haben kein Recht - und davon hat auch der Prophet nie Gebrauch gemacht - aggressive Gewalt auszuüben. Gewalt ist im Islam nur zur Verteidigung legitim.
Verteidigung kann aber auch sehr weit gefasst werden.
Ahmad Milad Karimi: Ja, das ist ein Problem. Extremisten wie Osama bin Laden interpretieren ihre Gewalt als verteidigende Gewalt: Wenn ich nicht alle Amerikaner töte, werden sie uns töten. In diesem Weltbild gibt es keine Zivilisten, es gibt nur Freunde und Feinde, die vernichtet werden müssen. Wer so eine Indoktrination schon hat - was soll man dagegen machen?
"Die eine Scharia gibt es nicht"
In der Regel berufen sich solche Fundamentalisten auf die Scharia - ein Wort, das auch bei uns mittlerweile für eine rückständigen islamistische Gesellschaftsordnung steht. Was ist die Scharia?
Ahmad Milad Karimi: Die eine Scharia gibt es nicht. Es gibt viele Scharia-Verständnisse. Ich habe noch nie ein Buch namens "Scharia" gelesen. Scharia bezeichnet lediglich das Urteil Gottes über menschliches Handeln und Verhalten. Das heißt, ich als Mensch kann niemals die Scharia einführen, die Scharia lesen oder die Scharia erreichen.
Ein Muslim kann nur versuchen, jeder für sich, nach bestem Wissen und Gewissen, mit seiner Lebensführung so nahe wie möglich an die Scharia heranzukommen. Wer aber glaubt, die Scharia "einführen" zu müssen, begeht in Wirklichkeit Blasphemie, weil er oder sie glaubt, den Willen Gottes genau und absolut zu kennen und sich das Recht anmaßt, ihn mit Zwang durchzusetzen.
Was geschieht, wenn die Scharia, als die Richtlinien, die man als Muslim wählt, um gottgefällig zu leben, mit dem Grundgesetz kollidieren?
Ahmad Milad Karimi: Der Grundgedanke der Scharia besteht darin, Frieden zu stiften. Wenn auch Ideen zu einer friedlichen Gesellschaft beitragen, die nicht aus einer genuin islamischen Tradition stammen, dann warum nicht? Die Scharia bezieht sich aber in erster Linie auf das Verhältnis zwischen dem einzelnen Menschen und Gott und nicht darauf, wie eine Gesellschaft aussehen soll.
Wenn mich also jemand fragt "Lebst du nach der Scharia oder nach dem Grundgesetz?", dann würde ich antworten, dass die Frage an sich falsch gestellt ist, weil sie zwei getrennte Ebenen miteinander vermischt. Für mich ist in Deutschland die Verfassung bindend. Ohne Wenn und Aber. Aber die Verfassung reguliert nicht meine religiöse Selbstbestimmung, d.h. auch meine Haltung.
Was schätzen Sie persönlich am Islam?
Ahmad Milad Karimi: Ich schätze, dass der Islam kein Lehramt kennt. Es gibt keine offizielle Instanz, die mir vorschreibt, wie ich meine Religion zu leben habe. Ich schätze auch, dass der Islam eine offene Religion ist, eine Religion des Streites und der argumentativen Auseinandersetzung, wo man nie von vorneherein weiß, was das Richtige ist.
Im Islam gibt es niemanden, der über die Wahrheit verfügt. Eine Religion, in der Gott nicht verfügbar ist, nimmt mich als Einzelnen selbst in die Verantwortung, durch meine Vernunft das Gute und Gerechte zu erkennen und dafür einzustehen.
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