"Wir bauen uns unser eigenes Gefängnis"

Hans-Martin Schönherr-Mann. Bild: Sabina Mujkanovic

Politikwissenschaftler Hans-Martin Schönherr-Mann über die Entmündigung des Bürgers in Krisenzeiten und die quasi-religiösen Vorkämpfer eines totalitären Verwaltungsstaats.

Hans-Martin Schönherr-Mann ist Professor für politische Philosophie am Geschwister-Scholl-Institut der Ludwig-Maximilians-Universität München. Schönherr-Mann gilt als Experte auf den Gebieten Ethik, Existenzialismus sowie Technikphilosophie und hat unter anderem zu den Theorien Friedrich Nietzsches, Jean-Paul Sartres, Hannah Arendts und Michel Foucaults publiziert.

Demnächst erscheint Schönherr-Manns Buch "Die Lebenskünstlerin und ihr Herr: Über die Medizinisierung der Welt", in dem er sich kritisch mit der Rolle der Medizin als "Grundlage der Politik im Ausnahmezustand" auseinandersetzt.

Mit Telepolis hat Schönherr-Mann vor kurzem über Giorgio Agamben gesprochen. Der italienische Philosoph sieht Corona- und Ukraine-Krise als Auswüchse desselben neuen Regierungsparadigmas, welches über wiederkehrende Ausnahmezustände in einen technokratischen "Verwaltungsstaat" führt.

In Italien ist man vielleicht besonders alert, schließlich plant Rom, die Hauptstadt, wie viele Kommunen in Europa, eine Transformation zur Smart City im Einklang mit der Agenda 2030 der Vereinten Nationen. Mit der Smart City sollen "überholte Regierungsmodelle in Frage [ge]stell[t] und "neue Gesellschaftskonzepte [ge]schaffen" werden. Es existieren Szenarien bis hin zur post-voting society, in der eine künstliche Intelligenz für uns das Wählen übernimmt.

"Wir haben es definitiv mit einer neuen Regierungstätigkeit zu tun"

Herr Schönherr-Mann, Giorgio Agamben sieht in jenem "neuen Regierungsparadigma" das letzte Aufbäumen eines sich selbst verschlingenden kapitalistischen Gesellschaftssystems. Teilen Sie diese Diagnose?

Hans-Martin Schönherr-Mann: Nein, ich muss sagen, das sehe ich nicht so.

Dabei stimmen Sie in Ihren Urteilen zum großen Corona-Umbruch ansonsten mit Agamben überein, oder?

Hans-Martin Schönherr-Mann: In weiten Teilen, ja. Wir haben es definitiv mit einer neuen Regierungstätigkeit zu tun, die sich ja jetzt mit dem Ukraine-Krieg in gewisser Hinsicht verlängert. Aber deswegen muss der Kapitalismus noch nicht untergehen, er kann sich dadurch ja auch stabilisieren.

Dieses Untergangsdenken, das ist ein Paradigma von Marx, da gehe ich nicht mit. Sicher, durch das Corona-Regime – so muss man es ja bezeichnen – hat sich der Verwaltungsstaat in seiner totalen Form gezeigt, dem, was Max Weber das "Gehäuse der Hörigkeit" genannt hat.

Die Maßnahmen gingen ja in eine bis dato unbekannte Tiefe, und es hat sich gezeigt, dass das mehr ist als nur Notstand: Die Demokratie ist durch diesen technokratischen Verwaltungsstaat doch in hohem Maße reduziert worden. Der Zugriff auf das Alltagsleben der Bürger wurde ungeheuer verstärkt, bis ins Private hinein, die Freizeit, die Wohnung.

"Die Unverletzbarkeit der Wohnung darf kein Argument mehr für ausbleibende Kontrollen sein", hat Karl Lauterbach im Oktober 2020 gesagt.

Hans-Martin Schönherr-Mann: Sehen Sie. Ich muss sagen, ich habe 2020 aufgehört das alles zu verfolgen und mich bis etwa Februar 2021 fast ganz ausgeklinkt. Letztens hat mir ein Kollege ein Video von diesem inzwischen demissionierten RKI-Chef gezeigt, wo er auch irgend so eine Ungeheuerlichkeit von sich gibt.

Die Angst vor dem Staat und die Angst vor dem Bürger

Meinen Sie: "Diese Regeln sollten nie hinterfragt werden"? (Lothar Wieler, Juli 2020)

Hans-Martin Schönherr-Mann: Ja, genau. Also das ist doch die totale Entmündigung. Ein hegemonialer Diskurs, wie man ihn jetzt in der Ukraine-Krise wieder beobachten kann. Das hat mit der Rolle des Bürgers, wie sie in der Bill of Rights und der französischen Nationalversammlung 1789 vorgesehen war, doch nichts mehr zu tun. Die hatten noch Angst vor dem Staat, die haben auf ihren Schutzrechten bestanden.

Aus genau solchen Gründen. Das Gleiche gilt keineswegs für die demokratischen Staaten der Nachkriegszeit. Die grenzen sich höchstens von einem totalen Zugriff durch den Staat ab, vom Kollektivismus der Nazis, der "Volksgemeinschaft". Weiterhin haben die Eliten Angst vor den Bürgern. Erst seit den sechziger Jahren entsteht ein partizipatorisches Bewusstsein unter den Menschen. Und mit Corona geben sie es wieder auf.

Der Druck auf die Regierung mit Corona stillgelegt

Inwiefern?

Hans-Martin Schönherr-Mann: Man muss sich klarmachen: Die Exekutive hat heute mehr Macht als jeder absolutistische Fürst. Bis weit in die 1960er-Jahre hinein waren die Demokratien paternalistisch, das Volk wurde mit Angst regiert, der Gang zur Wahlurne war schon das Maximum, was man dem Bürger an Souveränität zugestanden hat.

Dann kommen die 1970er, der Wechsel vom Paternalistischen zum Partizipatorischen, ein Druck von unten, der die Parteien zu Zugeständnissen zwingt.

Nehmen Sie zum Beispiel die Anti-AKW-Bewegung. Dann hat selbst die CSU einen Öko-Teil ins Parteiprogramm aufgenommen. Das wäre in den 1960ern undenkbar gewesen, und das haben die sicher nicht freiwillig gemacht. Und dieser Druck auf die Regierung, der ist mit Corona wieder völlig stillgelegt worden. Ironischerweise sind daran auch die Linken schuld.

Wie meinen Sie das?

Hans-Martin Schönherr-Mann: Verstehen Sie mich richtig: Ich komme ja auch aus der Linken, aber der Sozialstaat ist die Bedingung dafür, dass sich eine Regierungsform wie das Corona-Regime durchsetzen konnte. Es ist ein Kommunitarismus, der vom Primat der Gemeinschaft ausgeht und deshalb meint, die Menschenrechte missachten zu können.

Wir bauen uns unser eigenes Gefängnis. Diese Linie haben auch die Konservativen nie überschritten. Auch die Liberalen nicht, die erst nationalliberal waren und sich dann mit dem Freiburger Programm bürgernäher präsentiert haben.

"Freiburger Thesen: wahrscheinlich das Beste, was die FDP je hatte"

Die FDP ist ja 1968 auch noch gegen die Notstandsgesetze auf die Barrikaden gegangen.

Hans-Martin Schönherr-Mann: Genau, und heute muss ich sagen: Die hatten Recht. Die Freiburger Thesen waren wahrscheinlich das Beste, was die FDP je hatte. Und heute reiht sie sich ein in die Mehrheit der politischen Strömungen, die autoritär denkt und das Individuum letztlich lenken will.

Menschenrechte stören. Wichtig werden sie erst, wenn andere [Länder] sie nicht befolgen. Der Widerstand des Individuums ist das, was das Menschliche ausmacht. Deswegen war Sartre damals verrufen, weil er den Menschen für frei und verantwortlich erklärt hatte. Ich hoffe, dass sich die Menschen wieder darauf besinnen.

Ökologisierung und Technologie

Sie sagen, der Kapitalismus geht so schnell nicht unter. Aber die Technisierung des Sozialen in "Smart Cities" verspricht ja nicht nur ein enormes Effizienz- bzw. Optimierungspotenzial, sondern außerdem "interessante Wachstumschancen für Sicherheitssysteme und Videoüberwachung". Auch das firmiert ja heute unter dem Label "Nachhaltigkeit". Oder denken Sie an die Finanzialisierung der Natur durch die Emissionsmärkte.

In Ihrem Buch Untergangsprophet und Lebenskünstlerin (2015) widmen Sie sich der "Ökologisierung" der Welt. Lässt sich diese von einer Ökonomisierung überhaupt trennen?

Hans-Martin Schönherr-Mann: Na ja, eine Zeit lang sah es ja so aus, als ob das zusammenläuft: Firmen haben zumindest so getan, als ob sie sich für die Umwelt einsetzen. Die wollen eben einen guten Ruf, die sehen "das ist populär, also machen wir das".

Ich habe irgendwo auch einmal gelesen, dass Greenpeace lieber mit Firmen als mit Staaten zusammenarbeitet, weil die zuverlässiger sind. In dem Buch, das Sie ansprechen, habe ich mich eher dem Zusammenhang zwischen Ökologisierung und Moralisierung zugewandt.

Ökologie wird heute aber immer mehr zur Technologie und hat damit natürlich auch eine ökonomische Dimension. Heute sagt jeder mit einer Solaranlage auf dem Dach, dass er sich für die Umwelt einsetzt. Wenn es darum geht, Technologien zu entwickeln, mit denen sich CO2 aus der Luft abschöpfen lässt, protestiert keiner von den Fridays-For-Future-Leuten gegen den Kapitalismus.

Und mit Technologie lassen sich auch ganz viele Reglementierungen durchsetzen, die ja Kennzeichen der modernen Öko-Bewegung sind.

Sie haben die Smart Cities erwähnt, aber ich denke da auch an diese neuen Smart Meter, damit lässt sich der klimaschädliche Energieverbrauch ja wunderbar regulieren. Am Schluss brauchen Sie wahrscheinlich jemanden, der Ihnen die Erlaubnis dafür gibt, ihre Heizung aufzudrehen.

In den Vorschlägen für CO2-Budgets und programmierbares Geld klingt eine Steuerung über Bonus-Malus-Systeme ja bereits an. Das erinnert nicht nur an die operante Konditionierung B.F. Skinners, der das autonome Individuum ja zur Fiktion erklärt hat, auch Foucaults Überwachen und Strafen kommt einem da in den Sinn, oder?

Hans-Martin Schönherr-Mann: Absolut, und die Überwachungsmöglichkeiten durch die Digitalisierung sind nun mal unbegrenzt. Wenn wir die Logik von diesen Smart Metern auf unser Geld übertragen und wirklich einmal die Möglichkeit da ist, Vermögen von Verhalten abhängig zu machen, ist das natürlich eine ganz fatale Geschichte.

Die Kontrollmöglichkeiten wären unendlich, und es bräuchte auch keinen Geheimdienst mehr, der wäre dann ja legal. Dass sich die Menschen so etwas im Ausnahmezustand gefallen lassen, haben wir in der Corona-Zeit ja auch gesehen. Diese Corona-App, das war auch so ein Versuch, die technische Ebene da mit reinzubringen.

Die Vorstellung von einer (Taylorschen) "wissenschaftlichen Betriebsführung" der Gesellschaft (oder auch: social engineering) hat Anfang des 20. Jahrhunderts schon den Biologen und Unesco-Mitbegründer Julian Huxley ins Träumen versetzt. Sein Bruder Aldous lieferte dann ja das bekannte Gegenstück in Romanform.

Hans-Martin Schönherr-Mann: Auch das haben wir doch in der Corona-Krise gesehen. Hier lief die Kontrolle über die Medizin, die Regeln des Hospitals sind auf die Gesellschaft ausgedehnt worden. Das ist Biopolitik nach Foucault. Man hat immer von der Wissenschaft gesprochen, aber ich kann Ihnen sagen: Ich habe Wissenschaftstheorie studiert, und das Kennzeichen moderner Wissenschaft ist ihre Halbwertszeit.

Die Wissenschaft hat Modelle von der Welt und mehr nicht. Lesen Sie [Physiker Thomas S.] Kuhns The Structure of Scientific Revolutions (1962). Wissenschaft konstruiert sich immer eine Welt. Auf der Grundlage von Modellen werden Szenarien gefolgert. Wenn Wissenschaft von Wahrheiten spricht, wird sie theologisch. Auch das ist Foucault: Der Arzt tritt an die Stelle des Priesters, die Körperkontrolle an die Stelle der Gewissenskontrolle.

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