Wir bleiben Zuhause

Bild: Alexas-Fotos/Pixabay.com

Durch das Virus wurden wir plötzlich zu Inhaftierten mit Freigang und haben die Reisen im Zimmer wieder entdeckt

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Viele Menschen waren und sind wieder weltweit aufgrund der Corona-Pandemie schweren Einschränkungen der Bewegungsfreiheit, der Versammlungsfreiheit und der Möglichkeit von sozialen Kontakten im öffentlichen Bereich ausgesetzt. "Wir bleiben Zuhause" wird als Parole für Rückzug in die Wohnräume ausgegeben, wo sich auch schnell zeigt, dass das Virus möglicherweise alle befällt, die Konsequenzen aber doch ganz verschieden ausfallen, wenn man in einer kleinen, dunklen Wohnung an einer lauten Straße oder in einer hellen, großzügigen Wohnung im Grünen mit Terrasse oder Balkon lebt.

Die mehr oder weniger streng verordnete Einschließung mit mehr oder weniger flexiblem Freigang trifft einen Kern des Alltagslebens: Wohnen, auch schöner Wohnen, ist ein Ort des selbst gewählten Rückzugs aus dem Öffentlichen, wird aber nun zum partiellen Einzug in ein Gefängnis, das zwar angeblich vor dem bedrohlichen Außen und den Mitmenschen schützt, aber der Gang ins Heim-liche es ist eine erzwungene Innerlichkeit und Privatisierung.

Man kommt nicht umhin, sich dabei an eine der Urerzählungen der Philosophie, Platons Höhlengleichnis, zu erinnern. Netflix und Internet gab es noch nicht, aber die Menschen, die in der Höhle leben, sind nach der Erzählung Gefangene, die mit einem angedachten immersiven Schauspiel medial betäubt oder ruhiggestellt werden, aber Angst davor haben, die Höhle des Ge-wohn-ten zu verlassen. Es geht dabei nicht um die Wahrheitsfrage, die Platon damit anschaulich macht, nur um die frühe Situation von Eingeschlossenen, die Wirklichkeit nur aus der Entfernung als Schauspiel erfahren, während sie durch Fesseln einer Kontaktsperre unterworfen sind.

Wohnen, das Dasein an einem Ort des Rückzugs und der Sesshaftigkeit, wurde seit dem Zeitalter des Reisens, also für Europa seit der Renaissance und den Reisen und Eroberungen des beginnenden kolonialistischen Zeitalters, zu einem Problem. Wer für die herrschende Schicht nicht unterwegs war, was auch zahlreiche Reiseberichte und teilweise gefakete Beschreibungen der Ferne seit der Gutenberg-Ära dokumentierten, führte bereits ein mangelhaftes Leben. Ähnlich wie das jetzt ist, wenn nicht mehrmals im Jahr eine Reise realisiert wird.

Wer nur sesshaft ist und sich in seiner Nahumgebung aufhält, gilt auch geistig als beschränkt, auch wenn wir mit Internet und Fernsehen uns in unseren Wohnungen in der Ferne aufhalten, die damit gleichzeitig an Fremdheit verliert und zum bereits bekannten Terrain wird. Das verändert die Reisen, die zunehmend vororganisiert stattfinden, man will nicht das Fremde, sondern sucht das normativ gebotene Reisen in einem geplanten Abenteuer ohne wirkliche Überraschungen - und vor allem soll die Reise schnell getaktet und ohne Verzögerungen ablaufen.

Reisen im Zimmer

Wie immer bei solchen Trends gibt es Gegenbewegungen. Nach der Exotik entdeckte man romantisch die Heimat und den Nationalismus, aber auch provokativ das Heim. Provozierend wird nicht mehr die Ferne bereist oder von dieser geträumt, man entdeckt die Nähe oder das Reisen in der Unbeweglichkeit, den "rasenden Stillstand", wie dies Paul Virilio genannt hat. Entdeckt wurde das Reisen in der Nähe, in der Wohnung, dem Symbol der Sesshaftigkeit, oder in der Stadt, dem Heim des Flaneurs, der nicht in die Ferne strebte, sondern seine Umgebung als exotisch entdeckte und sich in ihr wie Fremder bewegte.

Schon 1790 schrieb Xavier de Maistre seine "Reise durch sein Zimmer". Er war zu einem überschaubaren 42-tägigen Hausarrest verurteilt worden und nutzte die Langeweile des Eingesperrtseins zu einer provokativen und manierierten Reise durch seine Räume und Phantasien, um sich gleichzeitig als Pionier zu inthronisieren, als Avantgardist der Zimmerreise. Jeder könne reisen wie er - abgesehen von den Obdachlosen, die er nicht berücksichtigt, oder von Gefangenen, die in ihrer Zelle eine tatsächlich reizarme Umgebung vorfinden -, schließlich würde die Reise durch die Wohnung nichts kosten. Alle die Unglücklichen, Kranken und Gelangweilten vom Universum sollten es ihm gleichtun, die Neugierde in eine andere Richtung zu lenken, empfahl er großzügig.

Zimmerreisen, sagt Bernd Siegler in "Reisender Stillstand" würden den "banalen Raum des Alltags" entdecken. Interessant ist nicht mehr die Ferne, sondern die Nähe, das scheinbar Vertraute, das zur Fremde wird. Die Umwendung des Blicks, die de Maistre vollzogen hat, hat auch die Kunst der Zeit verfolgt und wurde später durch die Fotografie verstärkt. De Maistre blieb aber nicht nur in seiner privilegierten Behausung hängen, es war eine romantische Attitüde, vor Ort zu bleiben, weil sich der Ort dramatisch zu verändern begann. Die Ethnologie lebte mit dem Verschwinden der vormodernen Gesellschaften auf, die Heimat mit der irreversiblen Durchsetzung der Globalisierung.

In den Fußspuren von de Maistre schrieb Adolf Heilborn "Die Reise durchs Zimmer". Das Buch erschien 1924

Reisen, reisen! Und immer wieder überschlägt man sein Geld und rechnet und kramt in allen Taschen – es wird und wird nicht mehr und reicht nicht hin und reicht nicht her. Und so verfällt man denn auf seltsame Ausflüchte und allerlei Reise"ersatz". Den alten Robinson zur Hand genommen! Aber den hat man schon hundertmal gelesen, und das ist ja schließlich auch nur eine am Schreibtisch ersonnene und überdies gar zu moralisierende Reise. Der gute Daniel Defoe, Kleinbürger und Kaufmann von Beruf, der 1719, fast sechzig Jahre alt, nachdem er bis dahin nur bitterböse Pamphlete geschrieben, in seinem ersten Buche "das Leben und die ganz ungemeinen Begebenheiten des weltberühmten Engländers Robinson Crusoe" erzählte, ist all sein Lebtag nicht aus England hinausgekommen, und der schottische Matrose und Freibeuter Alexander Selkirk, von dem er die Geschichte hatte, war groß im Aufschneiden und ganz gewiß der beste Bruder auch nicht. Nein, nein, das tut's nicht mehr …

Wohin und wie denn sonst nur reisen?!

Nun wohl: ich habe für dich nachgedacht, verehrter Leser, und manche Stunde mir den Kopf zergrübelt, ehe ich das Rechte fand. Ich habe einen Reiseplan, der dir ganz ungeahnte Genüsse verheißt. In Gegenden will ich dich führen, die du nie vordem gesehen. Durch alle Länder und Zeiten werden wir reisen, und du magst dabei geruhig in deinem Stuhle sitzen oder gar auf deinem Sofa liegen bleiben. An einen Ort will ich dich bringen, den du am wenigsten kennst von allen Orten der Erde.

Es ist dein Zimmer!

Das Verschwinden der Nähe

Der Einschluss, der im 18. Jahrhundert noch existierte und nur den Blick auf die nächste Umgebung vor den Fenstern ermöglichte, hat sich mit Telefon, Radio und Fernsehen drastisch verändert, die das Haus oder die Wohnung mit dem Außen verbinden und es in das Außen integrieren. Die Höhle wird geöffnet und durchlüftet. Nur unter der Bedingung eines Blackouts, der Katastrophe des 21. Jahrhunderts, werden noch Wohnung und Öffentlichkeit, Innen und Außen getrennt sein.

Derweilen reisen wir zwar nicht durch unsere Wohnungen, aber in unseren Wohnungen durch virtuelle und ferne Welten, treffen unsere Freunde und Kollegen auf den Bildschirmen als neue Gespenster. In den Rückzugsräumen öffnen sich elektronische und digitale Fenster und sogar auch Türen auch entfernte Wirklichkeiten, auch in Echtzeit, wenn man sich über einen Fernling wie einer Drohne an einem Ort außerhalb des umbauten Raums der Wohnung bewegen und durch Steuerung eines Roboters auch in diesen eingreifen kann. Damit versetzt man sich über die Schnittstellen aus dem Raum, in dem sich der eigene Körper befindet, in den virtuellen Raum und weiter in einen entfernten physischen Raum, den man nicht nur wahrnehmen, sondern in dem man auch handeln kann.

Wie verändert das die Zimmerreisen? Die Nähe wird vermutlich noch weniger interessant, was aber auch unter den Bedingungen billiger Fernreisen bedeutet, dass die Ferne sich immer mehr der Nahumgebung angleicht, weswegen der Drang zu reisen nach einem Massenrausch der Unruhe, es nicht an einem Ort dauerhaft aushalten zu können, zur weitgehenden Homogenisierung der Sehenswürdigkeiten und schließlich zur Ermüdung führt. Es wird prinzipiell egal sein, wo man sich aufhält, man hat schon alles gesehen, Millionen, Milliarden haben dasselbe fotografiert und gefilmt und attestiert, dass sie auch da waren. Wir waren alle da, wir sind alle in der Ferne, selbst wenn wir uns in den Wohnräumen aufhalten, die medial durchlöchert sind und die Bilder der Welt in einer Montage der Attraktionen auf die Schirme und Brillen projizieren, die fast jede reale Reise zu einem langweiligen Unternehmen machen.

Daher wird man prognostizieren können, dass die globalisierte Welt mit und ohne Pandemien zu weniger Reisen in der wirklichen Welt führen wird. Weil es überall so aussieht wie Zuhause, kann man auch dort oder in der Nähe bleiben. Nicht die Ferne lockt mehr, sondern das außergewöhnliche Ereignis, das in den bekannten Räumen nicht stattfinden kann, wenn nicht Katastrophen, Terror oder eine Überraschung dort einbrechen. Die gesellschaftlichen Eliten, die Reichen, haben ihre Häuser und damit ihre Heimaten sowieso diversifiziert. Wenn sie reisen, kommen sie nur in ihr anderes Zuhause. Die wirklich Reisenden sind die Abenteurer, die in Länder gehen, in denen Kriege und Konflikte stattfinden, um sich Kampfverbänden anzuschließen, die allerdings wiederum um ein Territorium kämpfen. Darin gleichen sich transnationale Konzerne, Fußballmannschaften und Kampfgruppen in der Ukraine oder in Syrien: Es sind internationale Horden zur Verteidigung oder Eroberung einer lokalen "Heimat", die immer auch ein Markt ist.

Die Reichen suchen derweilen den Kick oder die Absetzung von den Massen durch Reisen in den Weltraum zu erreichen. Ein Aufenthalt in der Internationalen Weltraumstation, ein Flug um den Mond oder ein kurzes Erleben der "echten" Schwerelosigkeit garantiert noch wegen der Kosten eine Absetzung von den Massen. Aber hier handelt es sich um kurze Besuche mit der Wiederkehr in die irdischen gated homes, die wirklichen Pioniere der Raumfahrt, die sich von der Erde lossagen und in den Wüsteneien der Raumschiffe und extraterrestrischen Kolonien leben und wohnen wollen, sind dieselben Pioniere wie immer: Abenteurer und solche, die nichts zu verlieren haben.

Im Westend Verlag ist von Florian Rötzer heute "Sein und Wohnen. Philosophische Streifzüge zur Geschichte und Bedeutung des Wohnens" (288 Seiten, 22 Euro) erschienen.

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