"Wir werden einfach getötet"
Ukraine-Krieg: Über Verrohung durch Frontberichterstattung aus Bachmut. Ein Kommentar.
Westliche, insbesondere englischsprachige Denkfabriken und Medien sprechen angesichts der Schlacht um Bachmut (russ. Artjomowsk) mittlerweile ganz offen von einem Abnutzungskrieg. Unter täglich aktualisierten Karten des Frontverlaufes wird intensiv diskutiert, wer wie lange noch den Nachschub an Munition organisieren kann und am Ende gewinnen wird.
Auch die "Verluste" auf beiden Seiten werden diskutiert, in drei- bis sechsstelligen Zahlen. Dass es dabei kaum um Menschen geht, offenbart die Verrohung der Debatte. Auch hierzulande.
Am 13. März etwa berichtet die Tagesschau in ihrem Liveblog: Krieg gegen die Ukraine:
"In weniger als einer Woche, beginnend am 6. März, ist es uns gelungen, allein im Sektor Bachmut mehr als 1.100 feindliche Soldaten zu töten. Das ist ein unumkehrbarer Verlust für Russland", sagte Selenskyj in seiner nächtlichen Videoansprache.
Tagesschau
Die Nachricht und die Zahl ventilierten daraufhin, oftmals im Duktus einer Erfolgsmeldung, verschiedene deutschsprachige Leitmedien, darunter die Frankfurter Rundschau, die, wie viele andere, in einem Update ergänzte:
Westliche Analysten schätzen die Zahl der Toten oder Verletzten auf russischer Seite auf mindestens 200.000.
Auf Tagesschau.de wird der Kriegsverlauf kontinuierlich auf Karten dargestellt, allerdings sehr grob. Mit seinen detaillierten Karten, die auf persönlich (im Internet) kritisch verifizierten Daten beruhen, hat sich früh auch das Projekt MilitaryLand.net einen Namen gemacht, das alle zwei Tage Ereignisse und Verschiebungen entlang der gesamten Front im Osten der Ukraine abbildet – und zur Diskussion stellt.
Im Forum kommentieren nicht nur leidenschaftliche Verfechter der ukrainischen Strategie, sondern auch solche, die eher der russischen Seite nahezustehen scheinen oder dem ihr zumindest gute Erfolgsaussichten zuschreiben. Auch hier tobt die Diskussion, wie viele gut ausgebildete Kräfte welche Seite unter welchem Zwang in die Schlacht wirft.
Der Buchstabe "k"
Nüchtern betrachtet ist offensichtlich, dass die dabei jeweils unterstellte Verfügbarkeit an Menschenmaterial auf beiden Seiten als entscheidendes Kriterium für Sieg oder Niederlage gewertet wird – und diese Einschätzungen selbst Teil der Propaganda und der Kriegführung sind.
Ein engagierter Teilnehmer der Diskussionen im Forum zu diesem Thema nennt sich "Max Beckhaus" und lebt nach eigenen Angaben in Deutschland (ob es sich dabei wirklich um den gleichnamigen Grünen-Politiker aus Köln handelt, bleibt unklar). Von diesem Kommentator stammen jedenfalls u.a. diese Aussagen:
Soweit die Beobachtungen von General Milley stimmen, wonach die Russen doppelt so viele Verluste haben, wie die Ukraine, ist das immer noch ein Weg zum Sieg durch Abnutzung. (…)
Das Verteidigungsministerium des Vereinigten Königreiches geht von 200k [k steht für kilo bzw. tausend] russischen Verlusten aus, die USA nehmen ein 2:1 Verhältnis für [Söldner der] Wagner-Gruppe an. Halbiere die Zahlen [welche die Ukraine angibt] und du kommst zu den Zahlen [welche die USA angeben]. Es würde mich nicht wundern, wenn die USA so kalkulieren. Ich persönlich würde von 2:3 ausgehen.
Invasion Day 358 – Summary, (Übersetzung d. A.)
Zahlen und Karten, so wird hier über den Krieg diskutiert und über Waffen, als würden diese den Frieden bringen. Es gibt, wie gesagt, einen "Liveticker", z.B. der ARD, der über einige Bewegungen an der Front berichtet, meist aus ukrainischer Perspektive und mit dem Hinweis, dass Informationen aus dem Kriegsgebiet nicht unabhängig überprüft werden können.
Sie bringen diese Informationen trotzdem, ausgewählte Informationen der Nato und ihrer Verbündeten, ohne Gewähr für deren Richtigkeit zu übernehmen. Darüber sollte mensch vielleicht mal einen Augenblick nachdenken.
Und es wird über Menschen gesprochen, über Tote auf beiden Seiten, die zunehmend mit dem Buchstaben "k", als Tausende zusammengefasst werden. Das ist eine Entmenschlichung der Diskussion und der Berichterstattung.
Wie es anders geht
Wie es anders geht und woran sich die Korrespondent:innen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks und der anderen Leitmedien mal etwas abschauen können, ist Journalismus, wie ihn Asami Terajima für den englisch-sprachigen Kyev Independent betreibt.
Seit Wochen spricht sie mit Menschen, Soldaten, die an der Front in Bachmut im Einsatz waren und bald wieder sein werden. Sie beschreibt, wie die Soldaten das Gefühl haben, in den sicheren Tod zu gehen, wenn sie nach Bachmut geschickt werden und Asami Terajima beschreibt, wie ein Soldat seinem Kameraden den Kopf verbunden hat, wieder und wieder, obwohl er wusste, dass der längst tot war.
Es geht darum, wie die Soldaten versuchen, keine Bindungen mehr untereinander aufzubauen, weil der andere vermutlich ohnehin bald tot sein wird. Terajima und andere bei Kyev Independant schreiben über die konkreten Verluste, die sich zu Tausenden aufaddiert im hiesigen Diskurs darüber wiederfinden, ob, wie und wie lange die Ukraine in diesem Abnutzungskrieg noch unterstützt werden sollte:
Zwei [von uns] wurden getötet, zwei schwer verwundet – ein Soldat verlor seinen Arm, der andere wurde von einem Projektil im Bauch getroffen, erzählt Vladyslav. Der Rest, auch Vladyslav erlitten schwere Gehirnerschütterungen.
Asami Terajima, Battle of Bakhmut - Ukrainian soldiers worry Russians begin to 'taste victory', (Übersetzung d. A.)
Gegenüber den in Tausenden gezählten Toten mag dies unspektakulär wirken. Das ist aber die Realität eines Abnutzungskrieges, welche uns hier die Berichterstattung einer ukrainischen Zeitung zugänglich macht. Weder die Zeitung noch die Autorin sind irgendwie pro-russisch, beschreiben aber ungeschönt die Lage:
"Die Russen schießen immer weiter auf uns, aber wir haben keine Artillerie – also haben wir nichts, mit dem wir zurückschlagen könnten", sagt Volodymir [Name geändert]. "Ich weiß nicht, ob ich zurückkommen werde. Wir werden einfach getötet."
Asami Terajima, (Übersetzung v. A.)
Außerdem – und das ist fast schon subversiv im hiesigen Diskurs – beschreibt Asami Terajima, dass zumindest einige Rekruten und Soldaten auf ukrainischer Seite versuchen, sich dem Einsatz in Bachmut zu entziehen:
Nach der letzten Rotation Ende Februar [so Vladyslav] wären nur acht von 25 Soldaten nach Bachmut [zurück] gegangen – während der Rest Fieber und Körperschmerzen reklamiert hätten.
Asami Terajima,(Übersetzung d. A.)
Solche anhaltende (siehe z.B. auch diesen Beitrag von Igor Kossov) Berichterstattung über die Lage an der Front, die eindrücklich Leiden, Verluste und auch Zweifel an der Front anspricht, gibt es von russischer Seite kaum.
Sie spricht unzweifelhaft gegen die These, dass sich hier zwei gleichermaßen korrupte, faschistoide Regime gegenüberstünden.
Von deutscher Seite gibt es sie allerdings ebenso wenig. Sie ermöglicht einen Blick hinter die kalten Zahlen von Toten und Verletzten und sollte v.a. denjenigen zu denken geben, die aus der Etappe, weit jenseits der Front von einem Sieg im Abnutzungskrieg träumen – auf beiden Seiten.