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Wird sich der radikale Islam in Europa in Zukunft noch verstärken?

Nach Donald Trump wird alles noch schlechter, ein Islamismus-Experte versucht sich an einer pessimistischen Vorhersage der weiteren Entwicklung in Europa

Kürzlich teilte der künftige US-Präsident Donald Trump der geneigten Öffentlichkeit über seinen Twitter-Account seine Einschätzung über die Lage der Dinge nach den Anschlägen in Istanbul und Berlin mit. Weil er sich Twitter bedingt kurz halten muss, sind große Erklärungen auch nicht notwendig. Trump konstatierte [1], dass alles schlechter werde und die "zivilisierte Welt ihr Denken verändern" müsse.

In welche Richtung dies geschehen soll, ließ er im Dunklen, greift man auf Äußerungen während des Wahlkampfs zurück, dann dürfte dies bedeuten: strikte Abriegelung des Landes, so dass keine unerwünschten Menschen mehr hereinkommen können, wobei möglichst keine Muslime mehr eingelassen werden sollen, zumal wenn sie aus Konfliktgebieten stammen. Zur Terrorbekämpfung und für das wieder große Amerika soll das Militär verstärkt werden, um die Interessen und die Sicherheit der USA zu schützen. Von Nation Building und Regime Chance hält Trump nichts, ist aber für "harte militärische Operationen", die den Islamischen Staat zerstören bzw. den "radikalen Islam" beseitigen.

Dass es schlechter wird, ist die Meinung auf der rechten Seite sowieso, wo der Antisemitismus zum Antiislamismus verkehrt wurde, sofern ersterer nicht auch noch vorhanden ist. Die Verteidiger der identitären Kultur, wie man die neue völkische oder nationalistische Bewegung auch nennen könnte, benötigen schließlich auch das Schreckbild der wieder einmal untergehenden Kultur oder der Bedrohung des Abendlandes, zuvor war das mal der Kommunismus, die Russen oder die Chinesen. Jetzt glauben Teile, dass Politik und Industrie die Bevölkerung austauschen wollen oder dass auch vor Gewalt fliehende Muslime den Kolonisateuren entsprechen, die einst von Europa mit roher Gewalt Länder unterjocht haben.

Schaut man auf die Regierungspolitik, so scheint hier auch unter dem Druck der Gefährdung durch den islamistischen Terrorismus, den man allerdings durch militärische Interventionen, Regime Change und Unterstützung autoritärer Systeme mit genährt hat und dies weiterhin macht, und dem Druck der Straße geneigt zu sein, präventiv gegenüber einer wachsenden Terrorgefahr aufzutreten, die Überwachung und Kontrolle durch immer neue Sicherheitspakete zu stärken und Europa sowie das eigene Land zu einer Festung ausbauen zu wollen.

Und dann gibt es noch die mit der terroristischen Bedrohung wachsende Schar an Terrorismus- und Islamismus-Experten, zu deren Geschäftsgrundlage es eigentlich gehört, vor dem Terrorismus zu warnen. Gerade hat ein norwegischer Experte, Thomas Hegghammer, der Direktor für Terrorismusforschung am Norwegian Defence Research Establishment [2] (FFI) und Politikwissenschaftler an der Universität Oslo es gewagt, eine Zehnjahresvorhersage über den Dschihadismus in Europa [3] zu liefern. Und er geht davon aus, dass es vermutlich noch schlimmer werden könnte, wenn sich nichts grundsätzlich verändert, womit er in gewisser Weise mit Trump übereinstimmt.

Vier Trends, die für eine Zunahme dschihadistischer Aktivitäten in Europa sprechen

Ausgangspunkt der Überlegungen ist, dass sich die Aktivitäten der islamistischen Terroristen negativ entwickelt haben. So wurden in Europa zwischen 2014 und 2016 mehr Menschen getötet als in den vorhergehenden Jahren zusammen, die Toten aus Berlin noch nicht mitgezählt. Die Zahl der Anschläge hat sich ebenso erhöht wie die der "erfolgreich" im Sinne der Terroristen ausgeführten. Zudem hat sich der Stil verändert, da wie in Brüssel oder Paris Gruppen koordinierte Angriffe ausgeführt haben. Mehr als 5000 europäische Muslime sind nach Syrien zum Kämpfen ausgewandert, sehr viel mehr als in den Jahren zuvor. Zudem wurden zwischen 2011 und 2015 70 Prozent mehr Verhaftungen im Rahmen von Terroruntersuchungen ausgeführt als in den 5 Jahren zuvor.

Allerdings hätten viele Staaten schärfere Maßnahmen und Präventionsprogramme ergriffen, so dass womöglich mit einem zumindest kurzfristigen Rückgang gerechnet werden könne, wenn nach dem IS nicht neue Terrornetzwerke entstehen. Das aber ist laut Hegghammer auf der Grundlage von vier Trends wahrscheinlich.

So würden, vermutlich verstärkt durch die wachsende Ablehnung von Muslimen und bedingt durch die Zunahme der muslimischen Bevölkerung in Europa, eben dort zunehmend mehr junge Muslime gesellschaftlich ins Abseits geraten und ökonomisch abgehängt werden. Schon jetzt sind Muslime in vielen europäischen Staaten die Gruppe, die ökonomisch am benachteiligsten ist. Durchschnittlich sind europäische Dschihadisten schon jetzt schlechter ausgebildet und eher arbeitslos, sie haben auch eher Vorstrafen. Hegghammer ist nicht der Ansicht, dass demografisches Wachstum oder sozioökonomische Bedingungen Menschen zu Anhängern von Terrorgruppen machen, sie könnten dies aber begünstigen, wenn es entsprechende radikale Organisationen und Rekrutierungsnetzwerke gibt.

Der zweite Trend ist, dass es durch die Kriege mehr ausländische Kämpfer und Aktivisten gibt, die geschult zurückkehren und auch, wenn sie inhaftiert werden, Autorität genießen und Netzwerke aufbauen können. Zumindest ein gewisser Prozentsatz der "Veteranen" wird weiter der Ideologie verhaftet sein und damit zum Motor für den Aufbau weiterer Netzwerke werden, wenn sie zurückkehren und nicht als Abenteurer/Söldner von Konfliktgebiet zu Konfliktgebiet weiterziehen.

Und das ist auch der dritte Trend, der den Dschihadismus verstärken könnte, denn es ist nicht absehbar, dass die Konflikte in der muslimischen Welt, sei es im Nahen Osten oder in Nordafrika oder in Südasien sich auflösen werden. In praktisch allen sind islamistische und dschihadistische Gruppen zumindest verwickelt, einige Staaten sind "failed states" oder enthalten nicht von der Zentralregierung kontrollierte Regionen. Diese Konflikte wirken sich auf die Muslime in Europa aus und sorgen für Solidarität und Radikalisierung, zumal wenn militärische Interventionen des Westens mit hereinspielen.

Als vierten Trend hebt Hegghammer die Möglichkeiten des Internet und vor allem der Sozialen Netzwerke hervor, mit denen Terroristen schneller, einfacher, weiträumiger und billiger kommunizieren, rekrutieren, sich finanzieren und Propaganda machen können. Derzeit sei es schwer wegen der sozialen Netzwerke und der Verbreitung der Verschlüsselung die Online-Kontrolle wieder einzuführen, die es noch vor 2010 gegeben habe.

Aus diesen vier Gründen leitet Hegghammer ab, dass Europa vermutlich mittel- und langfristig mit einer intensiven, zeitweise auch erhöhten "dschihadistischen Aktivität" rechnen müsse. Vermutlich würden Gruppen versuchen, am Rande des jeweils rechtlichen Rahmens des Landes, in dem sie tätig sind, zu arbeiten und Rekruten anzuwerben und auszubilden sowie Gelder aufzutreiben, um dann Kämpfer in die Konfliktgebiete zu schicken. Eine erhöhte dschihadistische Aktivität müsse aber nicht heißen, dass es in Europa mehr Terroranschläge geben muss.

Gefährlich wird es, wenn es zu einer direkten Konfrontation von Dschihadis und Rechtsextremisten kommt

Natürlich können sich alle diese Trends mitunter schnell verändern, räumt Hegghammer ein. Junge Muslime könnten schneller als bislang ökonomisch integriert werden, wodurch die Rekrutierung schwieriger würde. Konflikte könnten durch Verhandlungen gelöst werden, womöglich stellt sich auch Kriegsmüdigkeit ein, wenn wie in Syrien alle gegen alle kämpfen und dabei das Land mehr und mehr zerstört wird. Regierungen könnten, so Hegghammer, die "Kontrolle über die digitale Sphäre wiedergewinnen" oder härter und früher gegen entstehende Netzwerke vorgehen, was allerdings die Gefahr birgt, wieder zur Radikalisierung beizutragen. Unter den Muslimen könnte noch stärker die Norm ausbreiten, dass Dschihadismus verpönt ist.

Was allerdings die Situation schlechter machen könnte, sind gerade die erstarkenden antimuslimischen Strömungen in rechten Parteien und Bewegungen. Das könne zu einer "Polarisierung zwischen europäischen Dschihadis und europäischen Rechtsextremen" führen. Bislang sei hier trotz der zunehmenden Gewalt gegen ethnische Minderheiten und vor allem Muslime noch keine ganz gefährliche Entwicklung zu beobachten. Das könne aber schnell geschehen, wenn es etwa zu Angriffen mit vielen muslimischen Opfern käme.

Hegghammer bezeichnet seine Analyse als Worst-Case-Szenario. Das habe Vorteile, weil man über die Grundannahmen diskutieren und so größere Erkenntnisse über den europäischen Dschihadismus erreichen könne. Er geht davon aus, dass frühere Theorien, die von Lebenszyklen von Terrorismuswellen ausgingen und auch ein baldiges Ende des islamistischen Terrorismus vorhersagten, keineswegs zutreffen müssen. Er gibt sich jedenfalls pessimistisch, wenn man so weiter macht mit kleineren politischen Anpassungen, die ein voraussehbares Ergebnis hätten: "Ein Europa mit viel größeren Geheimdiensten, eine verschanzte wirtschaftliche muslimische Unterschicht und stärkere antimuslimische Stimmungen." Das ist tatsächlich zu befürchten und zeichnet sich auch bereits ab.


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-3579764

Links in diesem Artikel:
[1] https://twitter.com/realDonaldTrump/status/810988379051610112
[2] http://ffi.academia.edu/Hegghammer
[3] http://www.terrorismanalysts.com/pt/index.php/pot/article/view/566/html