Wo Initiatoren und Kritiker von #ZeroCovid richtig liegen - und wo nicht
Vom falschen Vertrauen in den Staat und die Fehleinschätzung der eigenen Kräfte. Ein Beitrag zur Debatte.
Die Initiative #ZeroCovid wirbt mit der Anzahl ihrer Unterstützer und fordert einen radikalen Shutdown. Bei Telepolis nannte Karl Reitter das Vorhaben blauäugig und naiv und warf der Initiative vor, linke Flankendeckung für einen autoritären Corona-Staat zu leisten. Wer hat recht? Oder vielleicht keiner von beiden?
Was Zero Covid will und womit die Initiative daneben liegt.
Ausgangspunkt des Aufrufs Zero Covid ist die Feststellung: "Nach einem Jahr Pandemie sind wir in ganz Europa in einer äußerst kritischen Situation."
Schon dieser erste Satz wirft Fragen auf: Wer ist eigentlich das "Wir", das da angesprochen wird? Schließlich stellt sich die Situation für die Menschen in Europa ganz unterschiedlich dar. Die Entscheidungen der Politik haben für die Bürger im Lande ganz unterschiedliche Konsequenzen.
Von diesen Unterschieden will der Aufruf zunächst einmal nichts wissen. Dass viele Menschen erkranken und sterben führt zu der Diagnose: "Die Maßnahmen der Regierungen reichen nicht aus: Sie verlängern die Pandemie, statt sie zu beenden, und gefährden unser Leben. Die Strategie, die Pandemie zu kontrollieren, ist gescheitert. (…) Wir brauchen jetzt einen radikalen Strategiewechsel: kein kontrolliertes Weiterlaufen der Pandemie, sondern Beendigung: Ziel darf nicht in 200, 50 oder 25 Neuinfektionen bestehen - es muss Null sein."
Unterstellt wird mit dem Scheitern der Pandemiestrategie der Regierung, diese habe den Verlust von Menschenleben um jeden Preis verhindern wollen. Dabei geben die Autoren des Aufrufs noch zu erkennen, dass es der Regierung darum nie ging. Die Kontrolle des Pandemiegeschehens kennt eben keine absolute Zahl von Toten oder Infizierten, an der sie sich messen würde.
Alle Zahlen sind Indikatoren für gelungene oder weniger gelungene Kontrolle. Eine veränderte Zielsetzung ist aus dieser Sicht überhaupt nicht gegeben. Von daher sehen die Zuständigen keinen Anlass, ihre Strategie aufzugeben. Die unterstellte Gemeinsamkeit ist deshalb schon im Ausgangspunkt eine Fiktion.
Zentrales Moment der Strategie von #ZeroCovid ist die Ausweitung des Lockdowns: "Mit Impfungen allein ist der Wettlauf gegen die mutierte Virusvariante nicht zu gewinnen - erst recht nicht, wenn die Pandemiebekämpfung weiter aus aktionistischer Einschränkung der Freizeit ohne Shutdown der Wirtschaft besteht."
Vom Standpunkt der Pandemiebekämpfung ist es wirklich nicht zu verstehen, wieso die Bürger in ihrer Freizeit Abstand halten sollen, möglichst sich nicht zu mehreren in geschlossenen Räumen aufhalten etc., dann aber auf dem Weg zur Arbeit gedrängt sich in Bussen und Bahnen bewegen, einen ganzen Tag in Büros oder Fabriken gemeinsam aktiv sein sollen, ohne immer den notwendigen Mindestabstand einhalten zu können.
Dass dies so ist, könnte einem aber auch auf die Idee bringen, dass genau wegen der Rücksichtnahme auf Wirtschaft und ihr Wachstum dies so sein soll und Infektionen und Tote deshalb in Kauf genommen werden. Wirtschaft ist eben auch nicht gleich Wirtschaft. Das Schließen der Freizeitindustrie trifft zwar Bereiche der Wirtschaft, aber nicht die entscheidenden Teile, die Deutschlands Stärke auf dem Weltmarkt begründen.
Irgendwie merken auch die Autoren des Aufrufs, dass die Stilllegung der Wirtschaft von der Politik so einfach nicht zu erwarten ist, andrerseits wollen sie auch keinen direkten Gegensatz zu ihr aufmachen: "Wir sind allerdings überzeugt, dass die Eindämmung des Sars-CoV-2 Virus (sic!) nur gelingen kann, wenn alle Maßnahmen gesellschaftlich solidarisch gestaltet werden."
Solidarität in diesem Sinne ist nicht ein gemeinsames Interesse oder eine gemeinsame Einsicht in eine Notwendigkeit, sondern das Absehen von allen Unterschieden in der Gesellschaft und zwischen den Staaten. Wohlwissend, dass alle Staaten in Konkurrenz zueinander ihren Vorteil suchen, wendet sich der Aufruf gleich an alle Staaten, zumindest in Europa, die Null bei den Neuinfektionen anzustreben.
Wenn dies gelingt, könne man dann ja wieder gemeinsam vorsichtig lockern. Dass damit nicht alles gelöst ist, geben die Autoren auch zu erkennen, wenn sie eine langfristige Vision für Europa fordern. Worin die bestehen soll, bleibt offen.
Zweifel an ihrem eigenen Konzept deutet sich an, wenn aus dem bis dahin herrschenden "Wir" und Appell an die Staaten Europas ein Aufruf an die Beschäftigten und ihre Gewerkschaften wird: "Wichtig ist, dass die Beschäftigten die Maßnahmen in den Betrieben selber gestalten und gemeinsam durchsetzen. Mit diesem Aufruf fordern wir auch die Gewerkschaften auf, sich entschlossen für die Gesundheit der Beschäftigten einzusetzen, den Einsatz von Beschäftigten für ihre Gesundheit zu unterstützen."
Keine Schlussfolgerungen aus eigener argumentativer Schwäche
Irgendwie wissen auch die Autoren, dass ihre schöne Vorstellung von einem Shutdown bei der Politik nicht auf offene Ohren stoßen wird. Eine Schlussfolgerung bezüglich der Ziele der Politik wollen sie aber auch nicht ziehen. Dann wäre es aus mit dem "Wir" und sie müssten Gegensätze bemerken, zum Beispiel zwischen Arbeitnehmern und der Politik.
Weil der Versuch der Kontrolle der Pandemie, ohne der Wirtschaft wirklich wesentlich zu schaden, auf Kosten der Gesundheit derer geht, die während der Pandemie weiterarbeiten müssen. Deshalb wäre es notwendig, den Widerstand der Arbeitnehmer gegen die Politik von Arbeitgebern, Politikern und Medien zu stärken, damit sie sich dies nicht mehr gefallen lassen. Diesen Schluss wollen die Autoren aber keinesfalls ziehen. Auch sie wissen, dass ein Fernbleiben von der Arbeit für die Mehrheit der Menschen gleich Einkommensverlust bedeutet: "Menschen können nur zu Hause bleiben, wenn sie finanziell abgesichert sind. Deshalb ist ein umfassendes Rettungspaket für alle nötig."
Und so können sie sich vorstellen, wo der Staat doch so viel Geld für Rettungspakete ausgibt, dass er das genauso gut für die Bürger tun könnte, die von ihrer Arbeit leben müssen. Man braucht bloß davon abzusehen, wofür der Staat Geld ausgibt und wofür nicht - und schon gibt es keine Probleme mehr.
Der "Wumms" des Finanzministers soll ja die Wirtschaft vor der Krise schützen und hat offenbar auch Wirkung gezeigt wie die Gewinnmeldungen nicht nur in der Automobilindustrie zeigen. Dass dieses Geld genauso gut an Obdachlose oder für Migranten ausgegeben werden könnte, wie der Aufruf vorschlägt, will die staatliche Zwecksetzung nicht zur Kenntnis nehmen.
Und wenn man schon dabei ist, von allen staatlichen Zwecken abzusehen und den Staat für eine Wohlfahrtseinrichtung zu halten, dann kann man auch gleich den Ausbau des Gesundheitswesens fordern, die Impfstoffe für ein globales Gemeingut erklären, obgleich alle Staaten damit beschäftigt sind, dass diese möglichst bei ihnen als Geschäftsmittel mit staatlicher Förderung entwickelt werden und sie als Mittel in der staatlichen Konkurrenz um Einfluss zur Verfügung stehen.
Und in der gleichen Ignoranz gibt der Aufruf sich dann auch realistisch: "Die notwendigen Maßnahmen kosten viel Geld. Die Gesellschaften in Europa haben enormen Reichtum angehäuft, den sich allerdings einige wenige Vermögende angeeignet haben. Mit diesem Reichtum sind die umfassende Arbeitspause und alle solidarischen Maßnahmen finanzierbar."
Dass es in Europa viel Reichtum gibt, stimmt. Dass er sich in den Händen von Vermögenden befindet auch. Nur besteht der ganze Zweck der europäischen Staaten darin, diesen privaten Reichtum weiter zu befördern. Schließlich profitieren die Staaten von dem so produzierten Reichtum, indem sie ihnen Mittel für ihre Macht bescheren.
Der Rest ist als abhängige Größe vorgesehen, die diesen Reichtum schaffen darf, aber von ihm weitgehend ausgeschlossen ist. Und so ist denn auch der Schluss von Ignoranz geprägt, denn schließlich organisieren die demokratischen Staaten genau diesen Gegensatz: "Es gibt keinen Gegensatz zwischen Gesundheitsschutz und Pandemiebekämpfung einerseits und der Verteidigung demokratischer Rechte und des Rechtsstaats andrerseits."
Wenn es keinen Gegensatz zwischen dem demokratischen Staat und dem Gesundheitsschutz seiner Bürger gibt, warum denn dann überhaupt der Aufruf? So einfach in Eins zu setzen sind Gesundheitsschutz und Demokratie offenbar doch nicht.
Wo die Kritik an Zero Covid ebenfalls danebenliegt
In seinem Artikel zu #ZeroCovid in Telepolis sorgt sich Karl Reitter um das Image der Linken. Damit schafft er ein neues Geistersubjekt. Ist im Aufruf von #ZeroCovid ständig vom "Wir" die Rede, so schafft Reitter mit der Linken ebenfalls eine Gemeinsamkeit, die es in der Realität nicht gibt.
Er meint ja nicht eine bestimmte Partei, sondern die vielfältigen Gruppen und Grüppchen sowie Individuen, die sich irgendwie als links verstehen, aber weder sich in einem informellen noch organisatorischen Zusammenhang bewegen.
Der Initiative kommt der Autor zunächst mit sozialpsychologischem Verständnis entgegen, weil die Pandemie es den Menschen schwer macht. Auch kann er einigen Forderungen des Aufrufs etwas Positives abgewinnen. So der Forderung nach dem Ausbau des Gesundheitswesens, der Entkopplung der Impfstoffproduktion von Profitzielen und der Forderung einer europaweiten "Covid-Solidaritätsabgabe auf hohe Vermögen".
Dass diese Forderungen völlig davon absehen, welche Zwecke die europäischen Staaten verfolgen, ganz unabhängig von der Parteienzusammensetzung ihrer Regierungen, ist dem Autor keine Kritik wert. Er denkt sich auch den Staat als eine Instanz, die beliebig umgestaltet werden kann, findet man nur ausreichend Wählerunterstützung. Dass diese gar nicht darüber entscheiden, was staatlicherseits an Aufgaben anstehen, sondern Personen wählen, die die feststehenden Aufgaben ausführen, wird offenbar übersehen.
Stein des Anstoßes am Aufruf ist die Forderung nach Zero Covid, also Null Infektion: "Es ist die Orientierung auf eine völlige Ausrottung des Virus, die der Initiative jene offenbar faszinierende Aura beschert. Die Vorstellung, alles soziale und gesellschaftliche Leben so lange stillzulegen, bis die Infektionsrate absolut null beträgt, hat etwas Religiöses an sich. Denn es ist ebenso irrwitzig zu meinen, eine Welt ohne Schnupfen und Husten sei möglich, wie eine Welt ohne Viren."
Es ist schon etwas anmaßend, wenn der Initiative vorgehalten wird, sie würde davon ausgehen, dass mit einem Shutdown, der auch die Arbeitswelt miteinschließt, alle Viren auszurotten wären. Davon ist in dem Text nichts zu finden. Wenn dort von einer vorsichtigen Lockerung und langfristigen Visionen die Rede ist, dann gehen auch die Autoren des Aufrufs davon aus, dass nach einem totalen Lockdown mit dem Virus umzugehen ist.
Ausgerechnet dort, wo der Aufruf einen reellen Kern hat – dass die Pandemie nur dann stark einzuschränken ist, wenn auch die Wirtschaft in den Lockdown einbezogen wird – liegt der Hauptangriffspunkt der Kritik von Reitter. Während er ansonsten bereit ist, jeden Idealismus des Aufrufs mit zu unterschreiben.
Die Einsicht der Initiative, dass die Rücksichtnahme auf die Gesundheit der Bürger immer ihre Grenzen am Funktionieren der Wirtschaft hat, will der Autor ebenfalls so nicht stehen lassen: "Diese Botschaft lässt sich auch so dechiffrieren: Da die herrschende Klasse unwillig ist, den Lockdown radikal durchzuführen, muss die Arbeiterinnenklasse ran. Angesichts des trotzkistischen Hintergrundes mancher Initiatorinnen könnte man auch sagen: Lockdown unter Arbeiterinnenkontrolle. Daher erklärt sich auch der befremdliche Appell an die Gewerkschaften."
Da wo #ZeroCovid sich auf die Arbeiter bezieht, weil sie irgendwo noch eine Ahnung davon haben, dass von der Politik wie von der Wirtschaft eine Rücksichtnahme auf die Gesundheit der Beschäftigten nicht zu erwarten haben, hält Reitter dies für einen Witz. Der Übergang zur Denunziation verschwimmt, wenn er auf den Hintergrund einiger Initiatoren verweist.
Ein Rätsel bleibt zudem, wieso es befremdlich ist, die Gewerkschaften aufzufordern, sich für die Gesundheit ihrer Mitglieder einzusetzen.
Seine Kritik mündet in dem Vorwurf der "Realitätsverweigerung". Ein seltsamer Vorwurf, zielt er doch darauf, dass diejenigen, die diese Realität verändern wollen, gefälligst die Anforderungen dieser Realität zu akzeptieren haben.
Und so sieht er in der falschen Kapitalanalyse den Grund für das illusionäre Ziel von null Ansteckungen. Doch er entdeckt weitere Ungereimtheiten wie die Stilllegung der nicht dringlich erforderlichen Bereiche der Wirtschaft: "Ich habe am 18. Januar den Initiatoren via E-Mail mehrere Fragen gestellt, unter anderem auch folgende:<Was bedeutet das konkret? Werden Lebensmittelgeschäfte geschlossen, die Lebensmittelproduktion stillgelegt? Werden Post, die Zustelldienste, die Müllabfuhr, die öffentlichen Verkehrsmittel, die Taxis stillgelegt?"
Falsche Fragen an die Initiatoren von #ZeroCovid
Offenbar fanden die so Befragten die Fragen zu oberflächlich und sind auf sie nicht eingegangen. Wieso fällt Reitter sofort die Lebensmittelbranche und andere für die Versorgung notwendige Bereiche ein und nicht etwa die Automobilproduktion, die Chemieindustrie mit ihrer Herbizid- und Pestizidproduktion, mit denen diese Bereiche den Weltmarkt beglücken?
Für ihn scheint jede Begrenzung der sozialen Kontakte, und seien sie auch zum Gesundheitsschutz, ein Gewaltakt gegen den Bürger zu sein, weswegen jeder Verweis des Aufrufs auf Demokratie und Beteiligung der Bürger nur "gutklingende Phrasen" von Linken sind: "Ich fragte die Initiatoren: ‚Demokratie ist ein komplexer Begriff. Ist folgende vorläufige Definition ok? Die Menschen entscheiden per Abstimmung vor Ort. Was ist nun, wenn die Belegschaften, Betreiberinnen von Kindergärten und Schulen usw. sich in den demokratischen Prozessen gegen den radikalen Shutdown aussprechen, wenn sie dagegen stimmen?‘ (…) Dem Vertrauen, gerade jetzt würden die Massen sich mit Begeisterung dem totalen Shutdown anschließen, ja ihn mit Nachdruck fordern, liegt eine weitere naive, blauäugige Unterstellung zugrunde. #Zero Covid kann nur der Staat mit repressiven Mitteln durchsetzen, keine Betriebsversammlung und kein Bürgerkomitee kann dies."
Demokratie ist nicht einfach ein Begriff, den man beliebig definieren kann, sondern eine bestehende Staatsform. Insofern ist der erste Satz der Anfrage eine beliebige Phrase. Die folgende Definition ist dann blauäugig und naiv, weil sie nicht die Demokratie erfasst, sondern behauptet, bestimmte Entscheidungen könnten einfach so von Betriebsversammlungen oder Belegschaften von Kindergärten getroffen werden. Mit der so konstruierten Demokratie will Reitter dann die Initiatoren blamieren.
Damit Arbeitnehmer sich in Betrieben welcher Art auch immer nicht mehr gefallen lassen, ihre Gesundheit zu riskieren, muss man sie erst davon überzeugen, dass dieser Schaden nicht hinnehmbar ist. Einfach darüber abstimmen zu lassen, diese Vorstellung entspringt nicht unbedingt dem Aufruf - denn dann könnten sie ihn sich sparen - sondern der Vorstellung des Kritikers. Und nachdem er erst den Popanz einer Bürgerdemokratie aufgebaut hat, schießt er diesen ab, in dem er konstatiert, dass diese Gremien diese Kompetenz gar nicht besitzen.
So wie der Autor sich die Demokratie zurecht konstruiert hat, verfährt er auch mit dem Begriff der Solidarität: "Ebenso wie der Begriff der Demokratie wird der Begriff der Solidarität jeden Inhalts beraubt und ins Gegenteil verkehrt. Solidarität setzt im Kern verschiedene Betroffenheit voraus. Solidarität ist kein Ausdruck des eigenen, unmittelbaren Interesses. Seine eigenen hoch individuellen Bedürfnisse in den Vordergrund zu stellen, hat mit Solidarität nichts zu tun. Man ist solidarisch mit Menschen und ihren Bedürfnissen und Kämpfen, obwohl sie nicht unmittelbar die eigenen sind."
Leider ist diese Vorstellung von Solidarität sehr verbreitet und macht Solidarität zu einer rein moralischen Veranstaltung. Schaut man jedoch zurück in die Geschichte der Arbeiterbewegung, auf deren Fahnen dieser Begriff prangte, so verdankt sich der Begriff der Erkenntnis, dass abhängig Beschäftigte der Macht der Arbeitgeber nichts entgegen zu setzen haben, wenn sie allein ihnen gegenübertreten.
Druck ausüben können Arbeitnehmer nur, wenn sie die Konkurrenz untereinander aufheben und sich gemeinsam wehren. Es geht um ihr Interesse auf ein Auskommen durch Lohn und Gehalt. Dieser Ausgangspunkt ist heute kaum noch präsent. Wenn von Solidarität die allgemeine Rede ist, hört schon jeder heraus, dass es um weiteren Verzicht gehen soll.
Und weil auch der Aufruf sich nicht unmittelbar an die Betroffenen wendet, sich die Gesundheitsgefährdung nicht länger bieten zu lassen, steht das Urteil von Reitter fest: "Praktisch bedeutet die von #Zero Covid geforderte Solidarität gerade nicht, sich als gesellschaftlich handelndes Subjekt zu konstituieren. Die Appellationsinstanz ist der Staat, der als verkörperte Vernunft endlich zum guten Herrscher wird. Und das soll wie Göbel schreibt, am Ende linke Politik sein? (…) Der Aufruf #Zero Covid fällt in eine Zeit, in der die bedrohlichen Züge des Staates und der mit ihnen verbundenen Medien immer offensichtlicher werden."
Es stimmt, dass sich der Aufruf an den Staat wendet und ihn als eine Instanz unterstellt, die eigentlich für das Wohl der Bürger da zu sein hätte. Mit dem Aufruf wenden sich die Initiatoren auch an die Bürger, denn sie stellen schließlich fest, dass der Staat seinen von ihnen zugeschriebenen Aufgaben nicht nachkommt. Deshalb sind die Bürger aufgerufen, sich der Initiative anzuschließen.
Insofern kennzeichnet dies vielfach wirklich "linke Politik", die mittels Mobilisierung der Bürger den Staat zu einer wohltätigen Einrichtung für sie machen will. Warum es dazu einer Gewaltinstanz braucht, um die Bürger zu beglücken, bleibt dabei eine offene Frage.
Besonders verkehrt soll eine solche Politik angesichts der jetzigen Zeit sein, in der sich der Staat als autoritär erweist. Auch eine seltsame Kennzeichnung. Zu welcher Zeit ist denn ein Gewaltapparat nicht autoritär und lässt über seine Maßnahmen abstimmen?
Allseits Illusionen in den Staat
Die Kennzeichnungen "autoritär" und "Corona-Staat" verraten, dass der Autor ebenso wie die von ihm kritisierten Initiatoren der Vorstellung anhängt, der demokratische Staat sei ein Dienstleister für seine Bürger, der aus welchem Grund auch immer seine Macht zu Corona-Zeiten missbraucht und seine Bürger mehr drangsaliert, als es sich für einen ordentlichen Staat gehört. Deshalb gehört es sich nicht, sich an ihn zu wenden.
So kommt Reitter zu seinem abschließenden Urteil: "Realpolitisch hat die #ZeroCovid-Initiative keine Bedeutung. Weder werden sich die zerstrittenen EU-Staaten, die sich derzeit im Rette sich wer kann-Modus befinden, synchron und gemeinsam auf derart radikale Maßnahmen einigen können, noch werden viele Menschen mitspielen wollen - und auch nicht können. Die reale Bedeutung ist symbolisch und ideologisch. Der autoritäre Covid-19-Staat hat seine linke Flankendeckung bekommen."
Dass eine Bewegung, die etwas ändern will, keinen Erfolg hat, kann man ihr schlecht vorwerfen, schließlich ist jede Bewegung auf das Mitmachen von anderen angewiesen. Wenn jedoch der Vorwurf auf Realpolitik geht, dann wird einer solchen Bewegung schon ein Maßstab vorgegeben, der der Machbarkeit. Dass aber ausgerechnet eine unbedeutsame Bewegung für den Staat von Nutzen sein soll, bleibt das Geheimnis des Schreibers.
Fazit: Beide täuschen sich im Staatszweck
Der Aufruf wie die Kritik sind sich in einem Punkt einig: Dass der demokratische Staat nicht seinen ihm zugedachten Auftrag erfüllt, zum Wohle seiner Bürger zu handeln. Die einen wollen ihn mit einem Aufruf durch Unterstützung von möglichst vielen Unterschriften dazu bringen, dass er seine Politik zum Wohle der Wirtschaft ändert in Richtung Versorgung der Bürger.
Reitter sieht in dem Appell an den Staat eine Rechtfertigung für dessen Einschränkungen der Bürger. Die er für eine Perversion seiner eigentlichen Bestimmung hält, weswegen er ihn als autoritär und Corona-Staat bezeichnet.
Das wirkliche Handeln des Staates und seine Zwecke kommen so nur als Abweichung von dem Ideal vor, das Initiative und Reitter vorschweben. Daraus speist sich ihre Enttäuschung und das Bestreben, andere Bürger zu gewinnen, ihn wieder auf den "richtigen" Weg zu bringen. Und so wechseln Mahnung und Verweis auf die Realität sich ab, Hoffnung und Enttäuschung. Solange die Parteien sich nicht mit den wirklichen Zwecken von Staat und Kapital auseinandersetzen, wird es dabei auch bleiben.
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