Wolodymyr Selenskyj: Ein Popstar mit dem Versprechen einer universellen Demokratie

Arno Kleinebeckel

Bild: President Of Ukraine from Україна, CC0, via Wikimedia Commons

Über Sinnkonstruktion im Ukrainekrieg, Russlands Ohnmacht und Selenskyj als Kämpfer des Lichts. Und über die Gefahr der Verwechslung von Mitteln mit Zwecken.

Natürlich gehe ich über Leichen
auch ich bin nur ein Mensch.
Wer die Welt bewegen will
darf sich nicht rühren lassen von Blut
wer Klarheit sucht, muss durch die Scheiße.

Ralf Rothmann, Gedichte: Rede des Regierenden

Nun sind wir alle gefragt als Zeitgenossen des Un-Sinns, wir sind mindestens Beobachter und Zeugen: Da ist die Ukraine, dieses schöne und fruchtbare große Land vor unserer Haustür, auf ungewisse Zeit das Schlachthaus Eurasiens, dieser nicht ganz so klar definierten Landmasse, auf deren Terrain neben den vielen Menschenleben eines geopfert wird: jedwede Art Sinn.

Russlands Aporie

Das ukrainische Inferno, geschürt von beiden Seiten, attestiert dem Osten wie dem Westen – und mittendrin Europa – ein heilloses politisches Versagen und intellektuelles Vakuum. Es sind Obsessionen am Werk, keine Ideen – noch weniger Überzeugungen. Wir leben im 21. Jahrhundert. Wir leben im 21. Jahrhundert?

Bei Russland sehen wir den Schrumpfprozess der Weltmacht, den Verlust seiner früheren Vorposten und Satelliten – den blutigen Stachel im Fleisch, den Obama lustvoll eskalierte, als er im Frühjahr 2014 in Den Haag das russische Reich zur Regionalmacht erklärte.

Am roten Horizont – daran hat auch die Annexion der Krim nichts geändert: Bedeutungslosigkeit. Hier erklärt sich teilweise (sicher nur teilweise) Putins Geschichts- und Identitätsproblem. Die Erkenntnis der Sackgasse. Keine Erzählung, kein eigenes Narrativ, das Menschen bewegt. Im Mülleimer der Geschichte, der für den Rest der Welt gedacht war, ist der russische Kommunismus zu guter Letzt eo ipso gelandet. Ein Treppenwitz am aberwitzigen Ausgang dieser Geschichte, dass Putin auf Stalin zurückgreift, nicht auf Lenin.

In Putins trostlosem Riesenreich sind auch sonst die Aussichten auf andere Formen möglicher Zukünfte eher mager: alles in allem ein Bündel trister Gründe, die ein schlummerndes Monster zum Leben erwecken können.

"Wie im Westen, so auf Erden"

Wie aber, jenseits (oder diesseits) der Schützengräben, liegt der Fall bei Putins Gegenspieler, Wolodymyr Selenskyj, dem Fackelträger des Westens? Bleiben wir mal bei seinem Part, dieser "Rolle" im wahrsten Wortsinn. (Die große Ost-West-Nummer an dieser Stelle immer im Hintergrund). Das Großwetterleuchten ist jedermann bewusst.

Selenskyj betätigt sich omnipräsent wie kaum jemand zuvor auf der Weltbühne – als Sprachrohr und Vorkämpfer westlicher Hegemonialbestrebungen. Er handelt nach dem Motto: "Wie im Westen, so auf Erden".

Selenskyj ist einmalig. Mit großem Könnertum gibt er den Popstar auf der großen politischen Bühne, heimst stehende Ovationen wohlgesonnener Berufspolitiker, Wirtschaftsführer, Publizisten und Intellektuellen mit ihrem Postulat ewiger Wohlfahrt und den Versprechungen einer universellen Demokratie ein, dem geschichtlichen Menschheitsziel.

Schachbrett Eurasien

Die geostrategischen Verhältnisse (und vermutlich Absichten) stellen sich profaner dar. Anders gesagt: Die politische Geografie. Über die Bedeutung Eurasiens sagte der bekannte Analyst und Politstratege Zbigniew Brzezinski (1928–2017), Sicherheitsberater unter Präsident Jimmy Carter, in seinem Buch "Die einzige Weltmacht" (1997, hier zitiert nach der 4. Auflage 2001):

Dieses riesige, merkwürdig geformte eurasische Schachbrett – das sich von Lissabon bis Wladiwostok erstreckt – ist der Schauplatz des global play. Wenn der mittlere Bereich immer stärker in den expandierenden Einflussbereich des Westens (wo Amerika das Übergewicht hat) gezogen werden kann (…), dürften sich die USA behaupten können.

Zbigniew Brzezinski: Die einzige Weltmacht. Amerikas Strategie der Vorherrschaft. Ffm, 4. Aufl. 2001, S.68

Schon im Vorwort zu Brzezinskis "Lehrbuch" steht zu lesen: "Eurasien ist somit das Schachbrett, auf dem sich auch in Zukunft der Kampf um die globale Vorherrschaft abspielen wird" (a. a. O., S. 16). Handfest sind daher die Interessen, denn, so der Autor: "Nahezu 75 Prozent der Weltbevölkerung leben in Eurasien, und in seinem Boden wie auch Unternehmen steckt der größte Teil des materiellen Reichtums der Welt" (a. a. O., S. 54).

Selenskyj, Kämpfer des Lichts

Zurück zu Selenskyj, der als Schauspieler und Filmproduzent bekannt war, bevor er zu dem wurde, was er heute ist.

Ganz so, wie der American Dream sich aus religiösen und nationalen Gründungsmythen speist, worauf Roger Silverstone in seiner "Moral der Massenmedien" sehr klug noch einmal hingewiesen hat (2008), hantiert der Spieler Selenskyj mit Attrappen aus dem eschatologischen Setzkasten. So beim orthodoxen Osterfest am 24. April 2022, darüber schrieb die NZZ trefflich das Folgende:

Vor der Ikonenwand hielt Selenskyj eine emotionale Rede, eine Mischung aus Appell und christlichem Gebet. Der Kontrast von Licht und Schatten im Gotteshaus fand seine Entsprechung in Selenskis Worten: Dieser erinnerte an den österlichen Sieg über den Tod und pries die ukrainischen Verteidiger als Kämpfer des Lichtes gegen die Kräfte des Bösen.

Über Radfahren und Sinngebung

Ein Narrationsmuster, dem die Medien nur zu bereitwillig folgen. Die manichäistische Rhetorik hilft dabei, den Einsatz von Gewalt für "das Gute" zu popularisieren und zu legitimieren. Selenskyj gibt hier den Radfahrer des lieben Gottes (ein Bonmot frei nach Tucholsky, Weltbühne, März 1919), eine der Rollen, die er annehmen kann, je nach vorhandenem Publikum.

Nachgedanke: Eine eschatologische Wortführerin in deutschen Landen ist eine gewisse, ganz besonders wehrfähige Lady (FDP) mit ihrer auffälligen Sturmfrisur, deren Namen dank ARD und ZDF jeder kennt. Hier soll keineswegs eine Partei gemeint sein, wenngleich der Liberalismus zu Debatte steht. Der Mythos funktioniert parteiübergreifend.

Aus allen Lagern finden sich die Sinngeber, die eine Berufung im Kampf gegen das Böse konstruieren.

"Sterben für den Frieden"?

Hier noch ein Hinweis auf eine Auffälligkeit. Das menschliche Leben als Wert kommt in den Litaneien nämlich nicht vor. "Sterben für den Frieden", keine Frage. Ein absoluter Wert menschlichen Lebens an sich ist nicht erkennbar, außer als Mittel zum Zweck, als Opfergabe für etwas Größeres, als bedauernswerter Kollateralfall in Kriegszeiten. Das deutsche Nachrichtenwesen ist hier dezidiert auch angesprochen.

Das Framing entscheidet, und das Framing sagt: Sieg! Aber das Framing ist ein Konstrukt und keine Naturerscheinung.

In den Diskussions- und Expertenrunden, die ja "hinterfragen" wollen, spielt das menschliche Leben ebenfalls eine untergeordnete Rolle. Man sieht Parteienvertreter, Wehrexperten, Militärhistoriker, Generäle etc. Wofür kämpfen Panzer? Um unseren Lebensstil? Den westlichen? Der die Welt an einen Abgrund gebracht hat, hier nicht (nur) politisch gemeint, sondern grundsätzlich – ideologisch, ökologisch, praktisch, planetarisch.

Die Botschaft der Medien

In den Momenten, in denen Militärstrategen vor einem Millionenpublikum ihre Erklärungen abgeben, Politiker ihre Positionen erläutern, Ratgeber Schlüsse ziehen oder Forderungen erheben, wird uns eine Darstellung der Welt angeboten. Ob hier eine komplexe kulturelle Interaktion stattfindet, ist die Frage. Politische und kommerzielle Interessen, Weltanschauung, Standpunkte, Haltungen und Überzeugungen sind unsichtbar präsent. Hinter Schauwerten mögen sich reale Obsessionen verstecken.

Das macht es oft nervig, wenn Sternbilder der westlichen Wohlfahrt aus dem Hut gezogen werden: Rechtsstaatlichkeit, Demokratie, freier Markt etc. Das sind allesamt Zweitrealitäten, die offenbar auf friedlichem Weg in der Ukraine nicht zu erlangen sind: Das ist die Botschaft, die uns erreicht. Der wir Glauben schenken sollen. Die Einsicht in die Unausweichlichkeit.

Leben ist Letztwert (nicht hinterfragbares Gut). Im medialen Kontext erscheint Leben als Guthaben der Wohlstandsgesellschaft; Existenz im Sinne von Lebensstil, welcher mit der präferierten Ordnung, dem westlichen Weltsystem (euphemistisch "Wertesystem") assoziiert ist. Das menschliche Leben ist jedoch eine Erstrealität, die "Wertegemeinschaft" dagegen eine Zweitrealität. Dennoch steht diese in den Debatten über dem Leben.

Mittel und Ziele

Im "Kontext einer Medienlandschaft, der sich niemand entziehen kann" (Silverstone), wird der Ruf nach Waffen auf westlicher Seite immer lauter, gibt es in atemloser Folge andauernd eine neue "Letztfrage", die die Medien in immer neuen Runden und Sondersendungen befeuern: Erst Schützenpanzer, dann Kampfpanzer, bald Flugzeuge? Es scheint nur um ein Bündnis der Mittel zu gehen, die Mittel haben die Zwecke schon länger an den Rand gedrängt. Was sind denn die Zwecke und Ziele, wofür genau sollen eingesetzte und angewandte Mittel und Methoden dienen, und ist überhaupt noch an Alternativen gedacht?

Wir stellen fest: Die Apotheose einer künftigen Ordnung immunisiert gegen die Barbarei, die als Mittel dient, um den Endzweck (welchen?) zu heiligen.

Schlusssatz (in aller Vorläufigkeit): Wie im Brennglas wird die Aporie der Sinnlosigkeit auf dem Boden der Ukraine vorexerziert, einem weltweiten Publikum zur Schau, das wie narkotisiert vor den Bildschirmen sitzt, indem es kapiert: Das Monster Krieg ist erwacht, wir wollten das nicht, aber wir sind auch nicht imstande, ihm Einhalt zu gebieten. Und die Politiker sind es auch nicht.