Würzburg: Amok oder Terror?
Im Würzburger Dom (Archivbild) fand am Sonntag ein ökumenischer Gedenkgottesdienst für die Getöteten statt. Foto: H. Helmlechner / CC BY-SA 4.0
Zur Konjunktur der Messerattacken oder: Die dunkle Seite unseres Alltags
Am Freitag, dem 25. Juni 2021 hat ein Mann in der Würzburger Innenstadt mit einem Messer auf mehrere Personen eingestochen. Drei Frauen wurden getötet, weitere Menschen wurden zum Teil schwer verletzt und schwebten zeitweise in Lebensgefahr. Der Polizei gelang es nach dem Eingreifen zufällig anwesender Passanten, den Täter anzuschießen und festzunehmen. Es soll sich um einen abgelehnten Asylbewerber handeln, der im Jahr 2015 aus Somalia nach Deutschland gekommen ist. Er lebte in einem Obdachlosenheim und soll sich nach Angaben des bayerischen Innenministers Joachim Herrmann (CSU) in psychiatrischer Behandlung befunden haben, weil er verschiedentlich durch Gewaltbereitschaft aufgefallen sei.
Schon im Jahr 2016 war es in der Nähe von Würzburg in einem Zug zu einer Messer- und Axt-Attacke gekommen. Ein in Deutschland als minderjährig und unbegleitet registrierter Flüchtling verletzte fünf Menschen mit einem Beil und einem Messer, vier davon schwer. Der Täter wurde in der Folge von einem Spezialeinsatzkommando der Polizei erschossen. Die Ermittlungsbehörden gingen damals von einer islamistisch motivierten Tat aus, was im aktuellen Fall noch geprüft wird. Im aktuellen Fall waren alle drei Todesopfer Frauen, sodass davon ausgegangen werden kann, dass Frauenhass ein Tatmotiv gewesen sein kann. Anders als beim blinden In-die-Menge-Schießen erlaubt eine Messerattacke die gezielte Auswahl der Opfer.
Trübe Melange aus Frauenhass und islamistischen Motiven
Wer bevorzugt zur Zielgruppe gehört, wird davon abhängen, wem der Hass des Täters gilt, von wem er sich schwerpunktmäßig gedemütigt und gekränkt fühlte. Wer sich, wie Robert S. in Erfurt, vom Lehrkörper falsch behandelt fühlt, wird sich an Lehrerinnen und Lehrern rächen wollen, wer sich, wie Tim K. aus Winnenden, vor allem von Mitschülern gehänselt und gemobbt fühlt, dessen Zorn wird hauptsächlich den Mitschülern gelten, wer von Fremdenhass motiviert ist, wie David S. aus München, wird seinen Vernichtungswillen auf Migranten konzentrieren. Zum jetzigen frühen Zeitpunkt der Ermittlungen wird man beim Würzburger Täter eine trübe Melange aus Frauenhass und islamistischen Motiven vermuten können.
Einige Zeugen wollen gehört haben, dass der Täter während seines Wütens "Allahu Akbar" gerufen hat, was aber nicht viel heißen muss. Im Jahr 2016 hat ein 27 Jahre alter Mann aus Grünberg bei Gießen im bayrischen Grafing am Bahnhof wahllos auf Passanten eingestochen und dabei einen Menschen getötet und drei weitere schwer verletzt. Auch er hatte während der Attacke mehrfach "Allahu Akbar" gebrüllt. Mein Eindruck war damals: Der junge Mann bediente sich einer in der Luft liegenden Kodierung. Man wird sich von der rhetorischen Fassade nicht täuschen lassen dürfen. Alle Versprachlichungen - mögen sie nun Hitler, Mohammed, IS oder sonst wie heißen - sind letztlich nur Chiffren, um einen namen- und subjektlosen Hass einen Namen und eine Adresse zu geben.
Im Felde dessen, was man Terrorismus nennt, gibt es neue Phänomene. Vor einer Weile konnten wir beobachten, wie das Automobil als Waffe in Gebrauch kam. Seit Mohamed B. am 14. Juli 2016 in Nizza mit einem Lkw in eine Menschenmenge raste und dabei 86 Menschen tötete und über 400 verletzte, gab es weltweit eine ganze Serie von solchen Taten. In jüngster Zeit häufen sich Attentate, bei denen die Täter mit Messern auf Menschen losgehen. Meist werden die Opfer zufällig gewählt. Es kann aus der Sicht der meist muslimischen Täter in der Masse der Ungläubigen keinen Falschen treffen. Es sind, so teilen uns die Ermittler mit, junge Leute, die auf eigene Faust handeln und gerade nicht im Auftrag irgendeiner Terror-Organisation.
Unter dem Radar der Behörden
Dass die Täter nicht Teil einer Struktur sind und der gewissermaßen handwerkliche Charakter ihrer Angriffe, macht sie für die Behörden unberechenbar und gefährlich. Sie fliegen gewissermaßen unter dem Radar und sind schwer auszumachen. Messer gibt es überall zu kaufen, mit einem Messer kann jeder sofort zustechen. Es ist, wie der Göttinger Soziologe Wolfgang Sofsky bemerkte, "die demokratische Waffe par excellence", auch dann, wenn die meisten Täter mit Demokratie nichts am Hut haben und sie verachten. An eine Schusswaffe ist viel schwerer heranzukommen und ihr Gebrauch will erlernt sein. Je mehr eine Waffe beherrscht werden muss, desto mehr wird ihr Gebrauch zum Privileg von trainierten Fachleuten. Freilich begrenzt das Messer als Waffe auch die Zahl der potenziellen Opfer. Es werden bei einer Messerattacke selten mehr als zwei oder drei Menschen getötet.
Der Täter bewegt sich anonym in einer anonymen Menge und sticht in ihrem Schutz plötzlich und unvermittelt zu. So geschehen zum Beispiel im Mai 2006 während der Feierlichkeiten zur Eröffnung des Berliner Hauptbahnhofs, als ein junger Mann blindlings auf Passanten in der Menge einstach. Er verletzte 37 Menschen, acht davon schwer. Anders ist der Ablauf bei Tätern, die aus rassistischen oder antisemitischen Motiven handeln und ihre Opfer mit Bedacht wählen.
Sie lauern ihren Opfern vor Kirchen und Synagogen auf. So geschehen wiederum in Nizza im Oktober 2020, wo ein Attentäter drei Menschen in einer Kirche tötete. Oder in Dresden, wo ein 20-jähriger Syrer auf ein schwules Paar einstach und einen der Männer tötete. Die Zahl der Messerattacken im Alltag ist Legion. Der einsam operierende Amokläufer, ob mit oder ohne islamistischen Hintergrund, verkörpert die dunkle Seite unseres Alltags, seinen verborgenen Schrecken. Er stellt die Sicherheitsorgane auch deswegen vor große Probleme, weil er sich anders verhält als andere Täter. Sie begreifen ihre Tat als eine Art Opfergang, bei dem sie selbst sterben werden. Sie nehmen ihren eigenen Tod nicht nur in Kauf, sondern streben ihn an - als eine Art Billett für den Eingang ins Paradies. Über jemand, der den Tod nicht fürchtet, hat man keine Macht. Er entzieht sich jeder Kontrolle.
Die Geschichte des Amok
In gewisser Weise kommt der Amok in jüngster Zeit auf seine Ursprünge zurück, die im südostasiatischen Raum liegen. Dort besaß der Amoklauf den Status eines kulturellen Musters, einer Ventilsitte, wie man es in der Ethnologie nennt. Ventilsitten fungieren als sozialpsychologische Schleusen, durch die Gesellschaften den Spannungs- und Panikpegel des Gesellschaftskörpers und ihrer Mitglieder regulieren. Wer einen nicht zu verkraftenden Gesichtsverlust, eine außerordentliche Kränkung, ein schweres Trauma erlitten hat, dem stellte zum Beispiel die malaiische Kultur den Ausweg zur Verfügung, nach einer Phase des sozialen Rückzugs und "Brütens" mit dem Ruf "Amok! Amok!" und "verdunkeltem Blick" auf die Straße zu stürzen und mit seinem Dolch auf jeden einzustechen, der seinen Weg kreuzt.
Auf diesen Ruf, so der französische Ethnopsychoanalytiker Georges Devereux, reagierten die Malaien etwa so, wie wir auf eine Alarmsirene reagieren. An den Straßenecken hatten die Behörden Lanzen aufgestellt, mittels derer die Passanten versuchen konnten, sich den Amokläufer vom Leib zu halten. Der Amoklauf endete im Regelfall mit dem Tod des Amokläufers.
Die westliche Variante
In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts begegnen wir einer abgewandelten Form des Amoklaufs in den USA, wobei der Krummdolch durch Schusswaffen ersetzt wird, gegen die keine Lanzen mehr Schutz bieten. Der Ur-Amoklauf dieses neuen Typs fand im August 1966 in Austin/Texas statt. Der ehemaligen Marinesoldat, Pfadfinderführer und Waffenliebhaber Charles Whitman erstach zunächst seine Mutter und seine Frau, verbarrikadierte sich anschließend auf der Aussichtsplattform eines Turms, von wo aus er das Feuer auf den Campus der Universität von Austin eröffnete und 15 weitere Menschen tötete, bevor er selbst schließlich von einem Polizisten erschossen wurde.
Im Rückblick bildet die Campus-Schießerei des 25-jährigen Charles Whitman den Auftakt einer nicht mehr abreißenden Serie von Amokläufen in den USA und der westlichen Welt. In Sandor Márais Tagebüchern stieß ich auf einen Eintrag über einen Amoklauf, der sich vor seiner Haustür im amerikanischen Dan Diego ereignete. Ich zitiere den Eintrag vom 20. Juli 1984 ausführlich, weil er er uns in seinem letzten Satz unter die giftigen Bäume unseres eigenen Dschungels führt und es uns erschwert, die alte Büchner’sche Frage: "Was ist das, was in uns lügt, stiehlt und mordet?" von uns zu weisen und das Problem auf die Anderen zu verschieben.
"Einige Straßen weiter ist um vier Uhr nachmittags ein Mann in eine Imbissstube getreten, er hielt eine Waffe im Anschlag und forderte, dass sich die Gäste und das Personal bäuchlings auf den Fußboden legten, dann machte er eine Stunde lang Zielschießen auf die liegenden Opfer. Er war ganz ruhig, immer wieder lud er nach, er beobachtete, wer noch lebte und sich verdächtig machte, indem er sich scheintot stellte, der bekam dann noch einen Schuss.
Hin und wieder schoss er durch die Glastür auf die Straße und traf Passanten. Die Polizei umstellte das Gebäude, und nach einer Stunde traf ein Scharfschütze von der Straße aus den Massenmörder. Insgesamt wurden zweiundzwanzig Menschen getötet, darunter drei Angestellte. Am Abend äußerte sich die Witwe auf dem Bildschirm. Sie sagte, ihr Mann habe gelegentlich ‚Stimmen gehört’. Das ist möglich. Manchmal flüstert einem der Teufel etwas zu. Wir müssen ihn nicht suchen, er ist ganz nah, in uns drinnen."
Nahezu alle spektakulären Schulmassenmorde und Amokläufe wurden mit Schusswaffen durchgeführt. Mit verheerenden Folgen und Opferzahlen, die teilweise weit im zweistelligen Bereich liegen. So erschoss zum Beispiel der aus Südkorea stammende Cho Sueng-Hui im April 2007 an der technischen Universität von Virginia 32 Studenten und Dozenten, bevor er sich selbst tötete. In Deutschland tötete im April 2002 der 19-jährige Robert Steinhäuser im Erfurter Gutenberg-Gymnasium 16 Menschen und sich selbst. Seit einigen Jahren ist es hierzulande zu solchen Amoktaten nicht mehr gekommen.
Taten mit politischem Motiv nicht immer exakt von Amok zu trennen
Der letzte spektakuläre Fall ereignete sich im Jahr 2016 in München, wo ein 18-Jähriger in einem Einkaufszentrum neun Menschen tötete und zahlreiche weitere verletzte. Er hatte seine Tat zu Ehren von Anders Breivik begangen, der exakt fünf Jahre zuvor in Oslo und auf der Insel Utøya aus rechtsradikalen Motiven 77 Menschen umgebracht hatte. Solche aus politischen Gründen begangenen Taten stellen eigentlich einen anderen Typus dar, auch wenn dieser vom Amok oft nicht exakt zu trennen ist. Der klassische Amokläufer handelt nicht im Bann einer Ideologie. Als man Brenda Spencer, die 1979 mit einem halbautomatischen Gewehr aus einem Fenster ihres Elternhauses auf das gegenüberliegende Gelände einer Schule in San Diego geschossen und dabei den Schulleiter und den Hausmeister getötet hatte, nach ihren Motiven fragte, antwortete sie: "I don’t like Mondays."
Im Unterschied zur gänzlich diffusen Motivlage Brenda Spencers beherrschen gegenwärtig faschistische und dschihadistische Täter die Gewaltszene. Die Täter von Halle und Hanau handelten aus antisemitischen und rassistischen Motiven, die jungen Männer, die aus Afghanistan oder Syrien nach Westeuropa gekommen sind und denen es nicht gelungen ist, hier Fuß zu fassen, stechen auf Repräsentanten - oder in diesem Fall Repräsentantinnen - einen Lebensweise ein, die ihnen fremd ist und bedrohlich vorkommt. Im November 2020 wurde berichtet, dass in schweizerischen Lugano eine IS-Sympathisantin in einem Kaufhaus mit einem kurz zuvor dort entwendeten Messer unter Allahu akbar-Rufen auf Kundinnen einstach. Eine Frau wurde schwer verletzt.
Früher schritt ein Amokläufer einfach so zur Tat, heute brüllt er Allahu akbar, und damit gilt die Angelegenheit als geklärt. Dabei ist gar nichts klar. Wir denken lediglich, es sei geklärt, weil wir erleichtert sind und sagen: "Aha, das ist es also wieder mal! Ein Islamist." Unbekanntes scheint in Bekanntes verwandelt und dadurch weniger bedrohlich. Diese Taten scheinen auf dem Vormarsch und gegen sie gibt es aus den oben genannten Gründen kaum Schutz. Wir können natürlich auf die alte malaiische Tradition zurückgreifen und an den Straßenecken Lanzen aufstellen.
Dialektik der Einsamkeit
Die Messerattacken sind Ausdruck einer Dialektik der Einsamkeit und gehören zur kriminellen Physiognomie des globalen Zeitalters. Man versetze sich für einen Moment in die Lage eines jungen Mannes aus Syrien, Somalia oder Afghanistan, den es nach Wien, Paris oder Berlin verschlagen hat. Was fühlt er, was hofft er, wonach sehnt er sich? Hat er Heimweh? Er kam nach Europa mit dem Kopf voller Träume, die an einer gänzlich anderen Realität zuschanden wurden. Die geflüchteten jungen Männer bleiben unter sich, hausen in Ghettos und finden keinen Zugang zu Frauen. Das lässt in ihnen einen Hass auf Frauen wachsen, denen sie auf den Straßen begegnen, die aber in unerreichbarer Ferne bleiben. Schon sprachlich können sie sich ihnen nicht nähern. Wie der Fuchs die Trauben, an die er nicht herankommt, für sauer erklärt, so werden den jungen Migranten die Frauen in ihrem verführerischen Outfit, das ihre Fantasien stimuliert, zu "Schlampen".
Aus einem überschaubaren ländlich-dörflichen Leben sind sie in eine Welt der Unübersichtlichkeit, Anonymität und Einsamkeit geraten. All die Dinge, von deren Erwerb sie geträumt hatten und um derentwillen sie sich auf den Weg gemacht haben, bleiben außerhalb ihrer finanziellen Möglichkeiten. Nur plündernd kommen sie gelegentlich an sie heran. Das Leben in der Stadt befreit sie von den Beschränkungen ihrer Herkunft und den Festlegungen durch Familie und Dorfgemeinschaft, aber sie sind aufgrund ihrer Lage nicht imstande, Gebrauch von den neuen Freiheiten zu machen. Die neu gewonnen Freiheit erweist sich als Danaergeschenk. Und so fliehen sie innerlich zurück unter die Fittiche der Religion. Im Extremfall attackieren sie in ihren Namen eine Umwelt, die sie zurückgewiesen hat und die sie als bedrohlich erleben. Das entschuldigt nichts, liefert aber vielleicht einen Ansatz, das rätselhafte Phänomen des Dschihadismus zu verstehen, das sich mitten unter uns ausbreitet.
Camus‘ Roman Die Pest klingt so aus: Die Seuche ist auf dem Rückzug, die Menschen ergießen sich auf Straßen und Plätze und feiern Freudenfeste. Plötzlich schießt ein Mann blindlings in die Menge. "Ein Verrückter, was sonst!" beschwichtigen sich die Leute - genau wie heute, wenn jemand mit seinem Auto in den Karnevalszug rast, blindlings in die Menge schießt oder mit einem geklauten Messer auf Menschen einsticht. Der Schrecken steckt im bürgerlichen Alltag, wie der Wurm in der nach außen gut aussehenden Frucht.
Götz Eisenberg ist Sozialwissenschaftler und Publizist. Jahrzehntelang arbeitete er als Gefängnispsychologe im Erwachsenenstrafvollzug. Eisenberg schreibt an einer „Sozialpsychologie des entfesselten Kapitalismus“, deren dritter Band unter dem Titel „Zwischen Anarchismus und Populismus“ 2018 im Verlag Wolfgang Polkowski in Gießen erschienen ist. Seine Alltagsbeobachtungen und Miniaturen erscheinen fortlaufend unter dem Titel "Durchhalteprosa" im Online-Magazin der GEW Ansbach.