Wunschtraum: Wagner-Söldner als Überläufer

"Wagnerianer" in Belarus. Foto: Agentur BelTA / CC-BY-3.0

Nach Tod des Chefs: Kiew versucht über exilrussische Einheiten, Prigoschin-Anhänger zum Überlaufen zu bewegen. Warum Erfolgsaussichten gering sind.

Die große Zeit des Militärunternehmens PMC Wagner ist vorbei. Wie Telepolis bereits berichtete, schwanken die übereinstimmenden Prognosen aller Fachleute zur Söldnertruppe des kürzlich verstorbenen rebellischen Oligarchen Jewgeni Prigoschin von einem unbedeutenden Fortbestehen über eine Aufspaltung bis hin zu einer Auflösung.

Doch die verbliebenen Wagner-Söldner, großteils versierte Berufssoldaten mit Kriegserfahrung, sind weiter als begehrte Resource für einen blutigen Krieg vorhanden und wecken Begehrlichkeiten. Auf den mutmaßlich getöteten Anführer eingeschworen hofft Kiew auf Überläufer und stellt das sogenannte Russische Freiwilligenkorps (RFK) ab, die Wagnerianer auf Telegram zum Überlaufen auf die ukrainische Seite zu bewegen.

Deutsche Medien, immer das offene Ohr an jeder Planung in Kiew, fragen bereits offen, ob "die Wagner-Gruppe bald für Kiew" kämpft. Das Motiv, "Rache zu nehmen" für Prigoschin, soll sie laut dem RFK-Kommandeur Kapustin, wie n-tv schreibt, auf die Seite der Kiewer Truppen ziehen.

Wer bei Wagner kämpft, kann durch Überlaufen nur verlieren

Der Wunschtraum, so ein größeres Kontingent kampferfahrener Söldner auf die eigene Seite zu ziehen, mag in Kiew bestehen und wird unkritisch von einigen deutschen Medien an die Leser weitergegeben. Doch ist dieser Traum auch nur entfernt realistisch?

Wer das glaubt übersieht, welche Soldaten in Prigoschins Truppe dienen. Diese galt bis zum Aufstand als Teil des rechten, radikalen Flügels der Einheitsfront, die im Umfeld des Kreml den Invasionsfeldzug im Nachbarland rücksichtslos durchführte - gegen die Kiewer Regierung. Wagner-Söldner sind, anders als im Bild vieler Medienkonsumenten im Westen, meistens Ex-Militärs außer den speziell für den Ukraine-Krieg auf Zeit rekrutierten Strafgefangenen, die meist, sofern nicht gefallen, bereits wieder entlassen wurden.

Die übrigen Kämpfer verfügen oft über Familien in Russland, die sie mit ihrem Sold versorgen, bei denen sie oft auch ihre Fronturlaube verbringen. All das wäre für jeden, der auf das Kiewer Angebot eingeht, nicht mehr möglich, das sie für die russische Sicht mit dem Überlaufen sofort zum gesuchten Verräter mutieren würden und für ihre Angehörigen nicht mehr sorgen oder überhaupt sehen können.

Auch ist es die Frage, ob Wagner-Söldner solchen Angeboten aus der ukrainischen Hauptstadt vertrauen. Denn in letzter Hinsicht kommen sie von Handlangern der Regierung in Kiew. Wagner PMC wird von denselben Ukrainern zahlreiche Kriegsverbrechen vorgeworfen. Begibt man sich wegen eines Telegram-Posts freiwillig in die Hände einer Regierung, die einem solche Gräuel zur Last legt und nach einem Übertritt auch verhaften könnte?

Russisches Freiwilligenkorps ist für Wagner-Söldner uninteressant

Auch von den militärischen Fähigkeiten her ist das auf ukrainischer Seite kämpfende rechtsextreme Russische Freiwilligenkorps für Wagnerianer nur in den seltensten Fällen eine attraktive Alternative. Wie Reuters im Februar 2023 berichtete, verfügte das RFK gerade einmal über 200 einsatzbereite Kämpfer. Diese sind ein Teil der ukrainischen Armee und werden vor allem für militärische Störmanöver im russisch-ukrainischen Grenzgebiet eingesetzt.

Ihre bekannten Anführer sind Mitglieder des Teils der russischen Rechtsradikalen, der sich im Rahmen der reaktionären Wende des Putin-Regimes in den 2010er-Jahren nicht auf die Seite der Regierung ziehen ließen und Russland wie der RFK-Gründer Denis Kapustin oft schon vor Jahren verlassen haben.

Der Traum dieser Exilrussen ist ein ethnisch geschlossenes, slawisches Russland. Sozialisiert sind diese Kämpfer sehr weit entfernt vom typischen Wagner-Söldner, der bis zu Prigoschin Aufstand eher loyal zum System Putin stand.

Sich einer solch kleinen Formation anzuschließen, mit dem Stigma eines Vaterlandsverrats, ist bei aller Verbundenheit mit Prigoschin für Wagner-Kämpfer selbst als letzter Ausweg kaum attraktiv. Hier schwingt im Bewusstsein auch noch die Geschichte der sogenannten "Russischen Befreiungsarmee" im Zweiten Weltkrieg nach, die auf deutscher Seite gegen die Rote Armee kämpfte und die den Russen bis heute als Inbegriff des Verrats an Mütterchen Russland gilt.

Ende von Wagner bedeutet kein Ende russischer Angebote für Söldner

Und es gibt für Wagnerianer zahlreiche andere Möglichkeiten. Viele ihrer Kämpfer in der Ukraine haben Verträge mit dem Russischen Verteidigungsministerium abgeschlossen. Wer das nicht wollte, hatte nach Putins Worten auch die Alternative, aus dem aktiven Dienst in die Heimat entlassen zu werden.

Die verbliebenen Teile der Wagner-Truppe befinden sich in Belarus und Westafrika, wobei es Berichte gibt, dass sich einige der in Belarus stationierten Söldner freiwillig nach Westafrika begeben.

Dort gibt es berechtigte Hoffnung, dass es für sie - und sei es unter einem anderen Label - weiter die gewohnte Beschäftigung in der bewaffneten Grauzone der russischen Außenpolitik gibt. Mit dem gewohnten Sold, der im Endeffekt auch aus demselben Staatshaushalt wie bisher stammt - nur die Wege werden sich ändern.

So stellt sich generell eher die Frage, warum Kiew über seine exilrussischen Einheiten versucht, die Wagner-Söldner überhaupt anzusprechen. Hier ist aber zu beachten, dass Kiew nach jedem Strohhalm greift, um im Krieg Unruhe in den Reihen des Gegners zu stiften – oder vorhandene Uneinigkeiten zu verstärken.

Deshalb überhaupt gibt es tägliche Drohnenangriffe auf Moskau. Militärtaktisch ist dieses Verhalten kaum zu kritisieren. Warum manch deutscher Journalist daraus dann aber die Illusion eines Überlaufens von ganzen Einheiten erfahrener Kämpfer konstruiert, bleibt das Geheimnis dieser Medienschaffenden.