"Zensur macht nur die Sowjetunion, wir selbst haben freie Medien"

Der Blick des Soldaten vor der Kamera. Ukrainischer Nationalgardist, aufgenommen im April 2022, während des russisch-ukrainischen Krieges. Foto: Ukrainisches Innenministerium, Mvs.gov.ua/CC BY 4.0

Jörg Becker über die politische Rolle von Medien, Propaganda und PR-Arbeit sowie missverständliche Übersetzungen aus dem Englischen (Teil 1)

Prof. Dr. Jörg Becker ist Experte für Kommunikations- und Propagandaforschung. In seinem langjährigen Wissenschaftlerdasein, das ihn an internationale Universitäten rund um den Globus führte, hat er unter anderem wichtige Bücher zur Kriegspropaganda herausgegeben – wie 2008 zusammen mit Mira Beham "Operation Balkan. Werbung für Krieg und Tod" und 2016 "Medien im Krieg – Krieg in den Medien".

Im Interview mit Telepolis gibt Becker tiefe Einsichten in das Verhältnis von PR und Journalismus in Konflikten.

Herr Becker, zu welchen Erkenntnissen hat Sie Ihre Forschung gebracht?
Jörg Becker: Tja, zu welchen Ergebnissen bin ich gekommen? Ich bin zunächst einmal zu dem frustrierenden Ergebnis bekommen, dass das, was Wissenschaftler seit zwanzig, vierzig, fünfzig Jahren aufgearbeitet und gut belegt haben, in der gegenwärtigen Diskussion keinerlei Rolle spielt.
Der Journalismus in Deutschland hat die wissenschaftlichen Ergebnisse nicht zur Kenntnis genommen. Obwohl nun gerade im Ukrainekrieg das dringend notwendig wäre, mit einem Stückchen wissenschaftlichen Sachverstand die Dinge aufzuarbeiten, die wir alle wissen.
Und wir wissen sie, ich habe das gesagt, seit einem großen Zeitraum. Und erlauben Sie mir, dass ich diesen Zeitraum ein bisschen gestalte und dass ich historisch anfange. Das entscheidende Jahr für die gesamten Debatten, die wir heute führen, ist das Jahr 1938 in den Vereinigten Staaten. 1938, da hatten wir in Deutschland Faschismus.
Wir hatten eine NSDAP, die sehr stark in den Vereinigten Staaten agierte. Erinnern Sie sich vielleicht daran, dass es einen Auslandsgau USA der NSDAP gab. Der amerikanischen Regierung in Washington passte das überhaupt nicht in den Kram, dass nationalsozialistische Propaganda von Deutschland aus in den USA betrieben wurde.
Man versuchte dem gesetzlich einen Riegel vorzuschieben. Und das Spannende ist, dass dieses Gesetz von 1938 auch heute noch gilt. Das Gesetz hat den Namen Foreign Agents Registration Act (FARA).
Was ist der Inhalt dieses Gesetzes?
Jörg Becker: Der Inhalt ist, dass jeder Agent of Foreign Principle – dazu sage ich gleich noch was – per Gesetz in den Vereinigten Staaten dazu gezwungen ist, seine Aktivitäten in den USA transparent offen zu legen. Das heißt, das gilt seitdem für sämtliche Public Relations Agenturen; auch eine amerikanische Public Relations Agentur, die Werbung macht im Irak, in Libyen oder in Bosnien, muss ihre Aktivitäten im Justizministerium in einer Kurzform hinterlegen.
Lassen Sie mich was zu dem Namen sagen: Foreign Agents Registration Act. Es hat sich leider eine falsche Übersetzung im Deutschen eingeschlichen, weil die Leute zu wenig Englisch können. Die Übersetzung von "Agent" ist falsch, wenn man sie mit Agent übersetzt.
Die Übersetzung heißt richtig "Akteur", denn eine Public Relations Agentur ist kein Agent, sie ist ein Akteur. Aus diesem Übersetzungsfehler resultiert die verächtliche Bezeichnung entsprechender Gesetze in Moskau, dass fremdländische, ausländische Agenten nicht in Russland arbeiten dürfen. Nein, es sind auch in Moskau ausländische Akteure gemeint, nicht ausländische Agenten.
Warum müssen wir das so genau wissen?
Jörg Becker: Mit diesem Gesetz können Wissenschaftler heutzutage noch gut arbeiten, weil man bei bestimmten Kriegen nachgucken kann, welche US-amerikanischen Public Relations Agenturen haben für welche Regierung, für welches Staatsoberhaupt, für welchen König oder für wen auch immer eine Beratungstätigkeit übernommen.
Das gibt Wissenschaftlern die Möglichkeit einer empirischen Auswertung, nicht nur einer vagen Vermutung, dass da schon wieder PR-Agenturen rumfummeln. Nein, man kann die sich namentlich angucken. Man kann gucken, wie hoch ist der Geldbetrag, der in Werbung für eine ausländische Regierung gesteckt wird. Man kann auch genau gucken, was sind die Tätigkeiten.
Ein klassisches Beispiel, das ich aus dem Jugoslawienkrieg in solchen Interviews ganz gerne erzählt habe, ist folgendes: Als die kroatische Regierung die große Kraina-Offensive gegen Serbien führte, wurden auf Empfehlung einer US-amerikanischen PR-Agentur zeitgleich – während die Offensive stattfand – die Symphoniker aus Zagreb auf eine Konzerttour in die USA geschickt. Was war die Botschaft?
Die Botschaft war: Seht, Kroatien ist ein zivilisiertes Land, mit Interesse, mit Geschmack und Liebe für alte Barockmusik. Gleichzeitig donnerten die tödlichen Geschütze in der Kraina-Offensive. Genauso funktioniert Public Relations. Und Sie müssen sehen: Alle amerikanischen Agenturen haben natürlich das wesentliche Interesse daran, die einheimische Bevölkerung in den USA anzusprechen, um auswärtiges Engagement und Militäreinsätze nach innen hin zurechtfertigen, zu verschönern, klarzumachen, deutlich zu machen.
Ich komme zu einem weiteren Punkt von 1938 zurück. Der betrifft den Begriff Propaganda selbst. Der Begriff Propaganda ist in dieser Zeit, in den dreißiger und vierziger Jahren in den Vereinigten Staaten mehr oder weniger das Ersatzwort für das, was wir heute Kommunikation nennen. Er hat keinerlei positiven oder auch keinerlei negativen Nebengeschmack. Es ist einfach das Wort für Kommunikation, Kommunikationsforschung; wer über Radio und Zeitung damals arbeitet, gibt seinem Buch den Titel "Propaganda".

"Im Ukrainekrieg ist das wichtigste westliche Signalwort 'Freiheit'"

Wie würden Sie denn Propaganda genau definieren?
Jörg Becker: Ich definiere den Propagandabegriff absichtlich nicht. 1. Ich sage nur, dass Dichotomien wie Feind/Propaganda und Freund/Aufklärung falsch sind. 2. Ein und dasselbe Bild und ein und derselbe Text können sowohl Aufklärung oder Propaganda sein.
Propaganda kann definitorisch nicht durch das Material selbst bestimmt werden, sondern nur an der Funktionalität zu politischer Macht. Kommunikationswissenschaftler, Textexegeten oder Bildwissenschaftler kapieren das aufgrund ihrer akademischen Grenzen oft nicht.
Mit anderen Worten: Es geht um eine Funktionalität von Texten und Bildern zur Aufrechterhaltung oder Delegitimierung von politischer Macht. Im Rahmen dieser Überlegungen sind in der Propaganda Signalwörter nötig, die laut und immer wieder wiederholt werden müssen. Im Ukrainekrieg ist das wichtigste westliche Signalwort "Freiheit" und bei der Verteufelung von Russland geht es um Begriffe wie "Zwang, Gewalt, Aggression" usw.
Aber ist das denn nicht so?
Jörg Becker: Das Problem mit dem Propaganda-Begriff wird ganz deutlich, wenn man sich klar macht, dass dieser Begriff in den vierziger und frühen fünfziger Jahren der zentrale Begriff im Kalten Krieg wurde. Der Begriff bekam absichtlich – und das kann man nachweisen in verschiedenen wissenschaftlichen Arbeiten – den großen Stellenwert als Begriff gegen die Sowjetunion.
Propaganda war grundsätzlich im Kalten Krieg das, was die Sowjetunion tat. Man selbst machte selbstverständlich keine Propaganda, man selbst machte Aufklärung. Und zeitgleich zu dieser Dichotomie – wir Aufklärung, die Propaganda – kam natürlich das Begriffspaar "Freiheit der Medien" gegen "Zensur der Medien" hinzu. Zensur macht nur die Sowjetunion, wir selbst haben freie Medien.
Als kleinen Einschub: In der Menschenrechtsdeklaration von 1948 gibt es den Begriff der "Medienfreiheit" nicht. Warum? Weil die Menschenrechtsdeklaration verabschiedet wurde von vielen vielen Ländern und die US-amerikanische Regierung ihr Verständnis von Medienfreiheit in die Mediendeklaration nicht hineinbringen konnten.

Die Rolle von PR-Agenturen und Methodenprobleme

Ok, auch der Begriff der Meinungsfreiheit ist ja ein etwas anderer bei uns als in den USA, der sich zunächst einmal auf eine bestimmte Situation zur Zeit der Formulierung des Verfassungszusatzes bezieht. Aber gerne würde ich noch etwas über das FARA-Register erfahren bzw. darüber, wie Sie und Frau Beham für das Buch "Operation Balkan. Werbung für Krieg und Tod" damit gearbeitet haben?
Jörg Becker: Na, wir sind damals relativ einfach vorgegangen. Wir haben uns das Register systematisch vorgenommen. Ich weiß die Zahlen nicht mehr ganz genau. Ich meine zu erinnern, dass insgesamt 150 US-amerikanische PR-Agenturen bei der Vermarktung von Regierungsinteressen der unterschiedlichen Kriegsparteien auf dem Balkan beteiligt waren.
Das heißt wir hatten diese 150 Kontrakte in Kurzform im Justizministerium in Washington und wir konnten die dann systematisch auswerten: Welche Agentur war für wen tätig? Welche Agentur hatte welchen Auftrag? Ich hatte das Beispiel mit den Symphonikern aus Kroatien gebracht. D. h., man konnte das systematisieren, man konnte dann auch die einzelnen Agenturen anschreiben und fragen: Hört mal, nehmt Ihr Stellung dazu?
Das haben die zum größten Teil natürlich nicht getan. Dennoch kann man dann ganz anders weiter recherchieren. Man findet beispielsweise ab und zu über die Tätigkeit solcher Agenturen dann auch Artikel in der Presse. In der New York Times zum Beispiel. Man kann auch mit den Zeitpunkten genau gucken, wann erscheint wo welcher Artikel? Um zu gucken, welche Agentur steht wahrscheinlich dahinter.
Es gab aber ein weiteres Methodenproblem. Dieses Gesetz von 1938 ist beispielhaft als Informationsfreiheitsgesetz zu betrachten. Es gibt das in keinem anderen Land: Das heißt auf gut Deutsch, dass entsprechende Aktivitäten einer französischen PR-Agentur oder einer deutschen PR-Agentur in den Balkan-Kriegen nirgendwo systematisch zu erfassen war. Wir wissen allerdings für die deutsche Seite, dass die Agentur Hunzinger in Frankfurt sehr aktiv gewesen ist in diesem Krieg.
Ich sage etwas anderes, was wir nicht herausbekommen haben: Ich weiß bis heute nicht, welche Agentur dem damaligen Verteidigungsminister Scharping mit seinen Lügen vom "Hufeisenplan" im deutschen Bundestag seine Memoiren geschrieben hat.
Das war nicht herauszukriegen. Also hier ein großes Loblied auf entsprechende Informationstransparenz-Gesetze der Vereinigten Staaten, der FARA-Act von 1938 ist nur ein Beispiel für Informationsfreiheitsgesetze in den USA. Ich wünschte, wir hätten solche Gesetze bei uns in Deutschland!
Nicht nur für die Wissenschaft, sondern insgesamt muss das Politikgeschäft doch sehr viel mehr von Transparenz geleitet werden, damit Mauschelgeschichten im Hintergrund bei der Vergabe von PR-Verträgen durch irgendein Ministerium nun viel deutlicher auf den Tisch kommen.
Wie wichtig derlei Transparenzgesetze sind, konnten wir an den genannten Beispielen gut ermessen. Daran könnte sich Deutschland ein Beispiel nehmen. Und FARA heute? Ich habe den Eindruck, es lässt sich nicht mehr so genau ermitteln, wofür die Eingetragenen in den USA aktiv sind. Oder?
Jörg Becker: Bei FARA habe ich lange nicht mehr drauf geguckt. Da ist heutzutage wenig zu holen. Ich habe dafür nur Vermutungen: 1. Entweder wurden die Vorschriften gelockert. Oder 2. FARA greift per definitionem bei Social Media Aktivitäten nicht. Das würde ich Ihnen dann gerne zur Überprüfung überlassen.
Teil 2 des Interviews mit Jörg Becker folgt morgen.