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Zirkus Gaddafi und der große Sarkozy

Menschenrechte, Neokonservative, Schurken

Immerhin das Herzensproblem des französischen Staatspräsidenten ist gelöst. Am Montag und Dienstag vergangener Woche beherrschte die mutmaßliche Affäre des seit kurzem geschiedenen französischen Staatsoberhaupts mit der Sängerin Carla Bruni die Medienlandschaft des Landes. Nachdem die beiden am Wochenende zusammen über das Gelände von Euro-Disneyland bei Paris spaziert und den Fotographen nicht ausgewichen waren, scheint die Frage von 'Gala' - "Welche Frau für den Präsidenten?" - beantwortet. Das kommt wie gerufen, um nicht länger von politischen Inhalten zu reden, gar von Ereignissen aus den letzten Tagen, deren Bilanz für Nicolas Sarkozy eher peinlich ausfüllt.

Die satirische Puppensendung des französischen Fernsehsenders Canal Plus, 'Les Guignols de l'info', am Montag Abend dazu: "Jetzt ist Schluss mit den ganzen Morallektionen zum Gaddafi-Besuch. Wir haben einen Superpräsidenten! Der Beweis: Er ist mit Carla Bruni zusammen."

Denn über eine Feststellung sind sich die französischen Medien in zur selben Zeit so gut wie einig: Ihr Präsident hat eine "schreckliche Woche" hinter sich, versalzen durch einen Gast, der immer mehr zur Last wurde. "Vielen Dank und auf Wiedersehen" übertitelte die sozialdemokratische Pariser Tageszeitung 'Libération' ironisch ihre Wochenendnummer, mit einem Foto des im Laufe der vorausgegangenen Tage zunehmend ungeliebt gewordenen Staatsgasts.

"Der Führer (guide), den Sarkozy nicht vergessen wird" schlagzeilte die Pariser Abendzeitung 'Le Monde' ihrerseits in ihrer Sonntagsausgabe. Untertitel: "Es war eine Woche des Leidenswegs für den französischen Präsidenten (...)." Im ersten Satz legen die beiden Autorinnen des Hintergrundartikels Nicolas Sarkozy den laut gedachten Stoßseufzer in den Mund: "Endlich ist er weg."

Der da einen durchaus willkommenen Abgang machte, ist Libyens Staats- und "Revolutionsführer" Muammar Gaddafi, welcher seit dem 1. September 1969 ununterbrochen an der Spitze des nordafrikanischen Landes steht. Dieser tourt im Moment noch durch Europa: Nach einem Aufenthalt in Portugal, am Rande des EU-Afrika-Gipfels von Lissabon am vorletzten Wochenende, und einem fünftägigen Quasi-Staatsbesuch in Frankreich weilte er noch in Spaniens Hauptstadt Madrid. Dort traf er am Montag mit Premierminister José Luis Rodriguez Zapatero, und am Dienstag mit dem spanischen König Juan Carlos zusammen.

25 Milliarden Dollar

Unterdessen berechnete die in Paris erscheinende französisch-afrikanische Wochenzeitschrift 'Jeune Afrique' in ihrer Ausgabe vom vergangenen Montag, dass der reisende "Kaddafi Circus" [1] den libyschen Staat horrende 25 Milliarden Dollar gekostet habe [2]. Das Magazin listet folgende Posten auf: "Reisekosten für eine Kohorte von 300 bis 400 Personen, mehrere Flugzeuge im Einsatz, darunter zwei für den Transport gepanzerter Autos ", da Kaddafi darauf bestand, seine eigene Limousine – einen riesigen weißen Mercedes – dabei zu haben statt sich auf die Staatskarossen seiner Gastgeber zu verlassen. "Plus diverse Einkäufe, darunter einmal mehr zahlreiche Waffen, zivile und militärische Flugzeuge..."

Ökonomische Motive im Vordergrund

Niemand äußerte einen Zweifel daran, dass es vor allem wirtschaftliche Beweggründe waren, die Nicolas Sarkozy dazu bewegten, sich seinem als leicht unberechenbar geltenden Staatsgast mit Diva-Allüren gegenüber höchst zuvorkommend zu zeigen. Den Höhepunkt seines Aufenthalts in Paris sollte, ging es nach Präsident Nicolas Sarkozy, die Unterzeichnung von milliardenschweren Verträgen mit der französischen Wirtschaft bilden.

So drängten sich die Industrievertreter am Montag Abend vergangener Woche beim Kuskus-Essen mit Gaddafi im großen Festsaal des Elysée-Präsidentenpalasts: Anne Lauvergeon von Areva, dem Giganten der Nuklearindustrie; Gérard Mestrallet vom Suez-Konzern; Denis Ranque für die Metall- und Elektronikfirma Thales (ehemals Thomson); Charles Edelstenne vom Flugzeugbauer und Rüstungsproduzenten Dassault und Marwan Lahoud im Auftrag seines deutsch-französischen Konkurrenten EADS; Thierry Desmarest vom Erdölriesen Total.

Den Regierungspolitikern, oder jedenfalls einigen unter ihnen, schien die Chose hingegen eher relativ peinlich zu sein. Die für Menschenrechte zuständige, junge Staatssekretärin Rama Yade sprach ausgerechnet am "internationalen Tag der Menschenrechte", dem Jahrestag der Verabschiedung der Universellen Deklaration der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948 -, davon, dass Frankreich "kein Fußabstreifer für Diktatoren (sei), die sich von ihren blutigen Missetaten reinigen wollen".

Dies brachte ihr erhebliche Popularität ein (81 % Zustimmung laut einer Umfrage), nachdem die Tochter eines senegalesischen Diplomaten zuvor eher wegen der Wirkungslosigkeit ihres Menschenrechtsengagements kritisiert worden war. Einige Wochen zuvor hatte sie etwa eine Diskussion über Ungerechtigkeiten im eigenen Land mit der Bemerkung "Ich kümmere mich um die Menschenrechte im Ausland" locker vom Tisch gewischt.

Außenminister Bernard Kouchner ließ seinerseits vermelden, dass ein "glücklicher Zufall" ihn dazu verpflichte, am selben Abend mit seinem deutschen Amtskollegen Frank-Walter Steinmeier zu speisen. Das Essen mit Gaddafi blieb also auch ihm erspart. Und der Umweltminister Jean-Louis Borloo – die Nummer Zwei in der Hierarchie des französischen Kabinetts, nach dem Premierminister François Fillon – war aus irgendwelchen Gründen unabkömmlich und bemühte sich nicht einmal darum, seine Abwesenheit zu entschuldigen. Vielleicht lag es ja an seinem Abstecher beim Klimagipfel in Bali. Alles in allem dauerte das offizielle Festessen nur 50 Minuten. Ein echter Rekord für einen Staatsempfang - in Sachen Kürze.

Auch wenn Kadhadi nicht offiziell auf Amtsbesuch mit Rang und Ehren weilte, so wurde sein Besuch doch während drei von insgesamt fünf Tagen als Staatsvisite eingestuft. Rote Teppiche wurden für ihn ausgerollt und die "Republikanische Garde" stand stramm vor Sarkozy und Gaddafi.

Die Heimkehr des verlorenen Sohns

Angesichts der Tatsache, dass rein wirtschaftliche, national-egoistische Beweggründe nicht hinreichend überzeugend erscheinen, um den Empfang für einen Autokraten in der Öffentlichkeit zu rechtfertigen, griff das Regierungslager zusätzlich auf eine weitere Begründung zurück. Es handele sich darum, die Rückkehr eines früheren Außenseiters der "internationalen Gemeinschaft" in den Rang der zivilisiert miteinander umgehenden Nationen durch einen symbolischen Akt zu krönen. Gaddafi wurde sozusagen als der verlorene Sohn, dessen Rückkehr es zu feiern gelten, präsentiert.

Unter anderem brachte es der französische Minister "für Einwanderung und nationale Identität" Brice Hortefeux auf den Punkt, der für die Sonntagsausgabe der Boulevardzeitung 'Le Parisien' interviewt [3] wurde:

Was ist seit 2001 (Anmerkung d. Verf.: in Wirklichkeit seit Ende 2003) passiert? Gaddafi hat öffentlich auf den Terrorismus verzichtet und die Opfer des Anschlags von Lockerbie entschädigt. Er hat seinem Nuklear- und Chemiewaffenprogramm ein Ende gesetzt. Er hat die Freilassung der bulgarischen Krankenschwestern erlaubt. Also stelle ich eine einfache Frage: Sollte man diese Entwicklungen ignorieren, auf die Gefahr hin, dass sie in Frage gestellt werden, oder sie ermutigen? Die Antwort liegt auf der Hand.

Bemerkenswert an dieser Aufzählung ist unter anderem, dass dem Minister – ebenso wie dem französischen Präsidenten in seinen Wortmeldungen vor ihm – hauptsächlich oder ausschließlich außenpolitische Entwicklungen Libyens, etwa in seinem Verhältnis zu den Ländern Europas, einfallen. Denn die politischen Verhältnisse in Libyen selbst haben sich nicht zum Besseren gewendet, seitdem Oberst Gaddafi im Dezember 2003 gegenüber den USA und Großbritannien feierlich auf die Herstellung, den Besitz und den Erwerb von ABC-Waffen verzichtet hat.

Grenzwächter für die Europäische Union an ihrer südlichen Mittelmeerflanke

Auch nachdem Gaddafi auf terroristische Akte gegenüber westlichen Staaten – wie in der Vergangenheit der Anschlag auf die Diskothek La Belle in Westberlin (1986), auf eine PanAm-Maschine über dem schottischen Lockerbie (1988) oder einen französischen UTA-Flieger im Luftraum über dem Saharastaat Niger (1989), deren Urheberschaft libysche Agenten verdächtigt wurden – verzichtet hat, sind die Verhältnisse in "seinem" Land nicht demokratischer oder weniger repressiv gestaltet.

Und in seinen Gefängnissen leiden weitaus eher mehr denn weniger Menschen als früher. Denn seit seiner Wiederannäherung an die westlichen Großmächte übernimmt nun auch die Rolle des Grenzwächters für die Europäische Union an ihrer südlichen Mittelmeerflanke.

Libyen ist der erste Staat, der sich derart direkt in das Migrations- und Sicherheitsregime der Europäischen Union an ihren Außengrenzen einbinden lässt. Italien schloss schon im Jahr 2000, als der nordafrikanische Staat noch unter UN-Embargo stand, ein Abkommen "zur Bekämpfung von Terrorismus, organisierter Kriminalität, Drogenhandel und illegaler Einwanderung".

Ein zweites Abkommen folgte im Jahr 2003, dem zufolge die italienische Republik nicht nur eine Hilfe bei der Ausbildung libyscher Polizisten zusichert, sondern auch die Finanzierung von Sammelflügen zur Abschiebung unerwünschter Immigranten aus dem nordafrikanischen Staat in ihre Herkunftsländer übernimmt. Dieses zweite Abkommen sieht auch die Einrichtung eines Lagers für Immigranten, deren Einreise in die EU nicht erwünscht ist, im Norden Libyens "in Konformität mit den Menschenrechten" vor.

Ein weiteres Abkommen wurde 2004 abgeschlossen, aber sein Text wurde nie veröffentlicht. Es wird jedoch vermutet, dass es eine Verpflichtung des libyschen Staates zur Rückübernahme von afrikanischen Emigranten, die über Libyen in Richtung EU weitergereist waren, beinhaltet [4].

Im selben Jahr wurden 5.688 Personen mit Sammelflügen nach Libyen abgeschoben, vorwiegend Ägypter, Ghanaer und Nigerianer. Libyen hat die Genfer Flüchtlingskonvention nie unterschrieben, und daher keinerlei daraus resultierende Verpflichtungen für den Schutz von Asylsuchenden oder politisch Verfolgten übernommen.

Anfang 2006 konnte der Direktor des italienischen Diensts für Nachrichtenwesen und Staatssicherheit libysche Haftanstalten für Abschiebehäftlinge besichtigen – und berichtete von "Ekel erregenden" Örtlichkeiten und haarsträubenden Zuständen. 650 Personen würden in Räumlichkeiten festgehalten, die für 100 ausgelegt seien, ohne ein Mindestmaß an Hygiene. Dennoch wird Libyen auch weiterhin, und intensiver denn je, in die europäische Migrationspolitik – insbesondere in die Abwehr unerwünschter Zuwanderer – eingebunden.

So sieht auch das Abkommen, das Nicolas Sarkozy bei seinem Aufenthalt in Tripolis am 25. Juli unterzeichnete, die Lieferung von Radarapparaten, Schnellbooten für die libysche Küstenwachen und anderen Geräten zur Grenzkontrolle und zum Aufspüren "illegaler" Migranten vor. Sarkozys damaliger Besuch fand aus Anlass der Freilassung der bulgarischen Krankenschwestern und des bulgarisch-palästinensischen Arztes, die zuvor in libyscher Haft festgehalten worden waren, statt.

Über Schurkenstaaten und: Wie Gaddaffi die europäische Frau retten will

Ein Schurkenstaat ist ein solcher, so lange er westliche Interessen und/oder westliche Staatsbürger bedroht. Er ist dann kein Schurkenstaat mehr, wenn es zwar nicht-westlichen Staatsbürgern unter seiner Herrschaft noch wesentlich dreckiger ergeht als zuvor, aber man in Washington, Paris oder London zufrieden über die getroffenen Vereinbarungen nickt.

An den hier aufgezählten Punkten brauchte Gaddafi von Seiten seiner offiziellen Gastgeber keine Kritik zu erwarten, sondern konnte vielmehr auf stillschweigende Übereinstimmung rechnen. Und so konnte er sich den Luxus erlauben, in einer seiner – einander oft widersprechenden – Rollen den Ankläger seiner "Gastnation" zu spielen.

Gaddafi hielt [5] so Frankreich und den übrigen EU-Ländern in einer Rede am Pariser Sitz der UNESCO am vorigen Dienstag vor, wenn man von den Menschenrechte spreche, dann müsse man sich auf die Frage stellen, "ob die Immigranten (hierzulande) diese Rechte genießen."

Er fügte hinzu: "Es gibt keinen Zweifel daran, dass der französische Bürger, der belgische Bürger, der britische Bürger in den Genuss dieser Rechte kommen. Aber dies gilt dies auch für die Einwanderer?" Darin hatte der Redner zwar im Prinzip Recht, gleichwohl war es im selben Moment auch Hohn, angesichts der Behandlung afrikanischer Migranten, die Libyen als Durchreisestation in Richtung Europa wählten.

Wortführer der Frauenbewegung

Am folgenden Tag hielt Gaddafi eine Ansprache vor 500 Frauen, viele davon afrikanischer Herkunft, in Paris. Einige von ihnen sollen dafür Geld erhalten haben, dass sie dem alternden libyschen "Revolutionär" applaudierten. Bei dieser Gelegenheit schwang Gaddafi, der in Paris mit seiner weiblichen Prätorianergarde – den "Amazonen", wie die Presse sie taufte – auftrat, sich zum Wortführer der Frauenbefreiung auf.

Er sprach davon, er wolle "die europäische Frau retten". Dieser Auftritt mag skurril erschienen sein, ebenso wie die widersprüchlichen historischen Bezüge, die Gaddafi in den folgenden Tagen hervorkehrte – als er sich sowohl als Fan der Französischen Revolution, als auch Ludwig XIV. (bei der Besichtigung des Versailler Schlosses) sowie Napoleons erkennen ließ. Eine innere Logik, die dies alles zusammenhält, suchte man wohl vergebens.

In der Folgezeit wurde Gaddafi freilich oft vorgeworfen, sich "über Frankreich lustig gemacht" zu haben, so etwa auch durch Außenminister Bernard Kouchner. Auch dies mag zutreffen, auch wenn die alternde Diva Gaddafi es vielleicht nicht einmal in voll bewusster Absicht getan hatte. Allerdings hält es Frankreich auch den Spiegel vor: So abwegig es ist, wenn Gaddafi die Rechte der Immigranten einklagt und ihre "Kollegen" zu Hause misshandeln lässt, so heuchlerisch ist zugleich die Kritik der EU-Regierenden an Menschenrechtsverletzungen in Libyen – sofern das Land, und seine Gefängnisse, zugleich als willkommene Stütze bei der Rücknahme unerwünschter Einwanderer behandelt werden. Der Eine hält hier dem Anderen den Spiegel vor…

Kritik aus unterschiedlichen Ecken

Die Kritik am roten Teppich, der in Paris für den exzentrischen Diktator aus Libyen ausgerollt wurde, kam aus sehr unterschiedlichen Richtungen. Die parlamentarische Opposition, die Linksparteien sowie diverse Menschenrechtsorganisationen empörten sich – durchaus nicht unerwartet – über diesen "Empfang für einen Diktator", der einmal mehr beweise, dass Wirtschaftsinteressen über Menschenrechten stünden.

Libysche Oppositionelle konnten allerdings kaum Gelegenheit dazu finden, sich mit ihrer eigenen Kritik an die französische Öffentlichkeit zu wenden. Madghis Afulay, ein im marokkanischen Exil lebender libyscher Berber, erläutert [6] gegenüber 'Jeune Afrique':

Ich war vorab nach Frankreich gekommen, um (Protestaktionen) bei der Polizeipräfektur anzumelden. Man schlug uns zunächst drei Orte vor. Und dann informierte man uns am 8. Dezember (Anm.: zwei Tage vor dem Eintreffen Gaddafis) darüber, dass die Kundgebung verboten sei. Wir haben daraufhin beschlossen, ein spontanes Sit-in zu veranstalten, was nicht genehmigungspflichtig ist. Vergebliche Mühe: Die Ersten, die am Trocadéro (Anm.: wo der Platz der Menschenrechte liegt) ankamen, wurden durch Polizeikräfte, die mit einem Wasserwerfer ausgestattet waren, zum Verlassen des Orts aufgefordert. 'Sie ließen uns nicht einmal zehn Minuten, um auf die Fragen der Presse zu antworten.' Am darauf folgenden Tag verteilen fünf Unbeugsame Flugblätter in unmittelbarer Nähe der Nationalversammlung. Mitten im Interview mit Journalisten wurden wir dazu aufgefordert, zu gehen. Ich war sehr erstaunt, dass die französische Polizei auf solche Weise die Arbeit der Presse behindern kann. (...) Sie hielten mich zu acht auf dem Boden fest. (...) Sie haben meine Flugblätter an sich genommen, und wir blieben in dem nahen Park, um mit den zahlreich anwesenden libyschen Agenten über Menschenrechte zu reden. Einer von ihnen schubste mich, dann schlug er mich in den Rücken. Bei dem Versuch, zurückzuschlagen, verletzte ich mich. Die Polizei kam und nahm uns mit.

Die parlamentarische Opposition in Paris ihrerseits boykottierte den Abgeordnetenempfang für Gaddafi. Der libysche Staatschef konnte einen Besuch am Amtssitz des Parlamentspräsidenten, der aufgrund seiner Geschichte als als "Tempel der Demokratie" gilt, absolvieren, zu dem rund 80 Abgeordnete geladen waren. Sozialdemokraten, Grüne, Kommunisten und Zentrumsdemokraten blieben ihm jedoch fern. Der amtierende Präsident der Nationalversammlung, Bernard Accoyer (UMP), leitete das Treffen, stellte jedoch mit einem Stoßseufzer fest: "Das Schlimmste konnte ich noch verhindern: eine Ansprache Gaddafis vor dem Abgeordnetenhaus..."

Aber auch aus der militant neokonservativen Ecke, und nicht nur von links und aus der bürgerlich-demokratischen Mitte, kam heftige Kritik. Auf dieser Seite sieht man sich von Nicolas Sarkozys Sprüchen aus der Zeit seiner Wahl, die sehr nach Übernahme der neokonservativen Rhetorik klangen, verraten.

Neocons attackieren Sarkozys neue "Realpolitik"

Das kennzeichnende Merkmal der neokonservativen Strömung ist, dass sie die demokratische innere Verfasstheit der wichtigsten westlichen Staaten als Argument in Anschlag bringt, um eine ungehemmte Machtentfaltung weltweit und eine offensive, aggressive Außenpolitik einzufordern. Dabei berufen sie sich auf den tatsächlichen autoritären Charakter vieler Regimes, die – in ihren Augen – den westlichen Staaten im Wege stehen: Diese setzen ihren Herrschaftsanspruch im Inneren oft mit einem westlich höheren Ausmaß an Repression und offener Unterdrückung durch als die Regierenden in westlichen Ländern.

Unter anderem vor dem Hintergrund, dass in ihren ärmeren Staaten in weit geringerem Maße soziale Stabilität und ein gesellschaftlicher Grundkonsens vorherrschen als in den reichen Ländern des Westens. Deshalb setzen die dortigen Machthaber sich oftmals mit manifesten Unterdrückungsmaßnahmen – oder ihrer Androhung - durch Einschüchterung und polizeistaatliche Mittel statt Konsensbildung und Medienmanipulation, gegen Widersacher oder Opponenten durch.

Die Neokonservativen zeichnen sich dadurch aus, dass sie diese (realen) Unterschiede in der inneren Verfasstheit zwischen den führenden westlichen Mächten einerseits und autoritär regierten Staaten der "Dritten Welt" - unter anderem im arabischen Raum – isolieren und ausschließlich betonen. Zugleich aber blenden sie die bestehenden Ungleichheiten in den weltweiten Wirtschaftsstrukturen, die Gründe für die Armut vieler Länder und die Eigeninteressen der westlichen Großmächte auf internationaler Ebene vollkommen aus. Jedenfalls in ihrer öffentlich vorgetragenen Argumentation.

Daraus resultiert ein "Missionarismus" für die Weiterverbreitung der Demokratie nach westlichem Muster mittels Waffengewalt: Das demokratische Argument, oder Alibi, begründet dabei einen neu aufgelegten Kalte-Kriegs-Diskurs, der sich freilich eher gegen den Süden als gegen den Osten richtet. Auch wenn Russland und China bzw. deren notwendige "Eindämmung" ebenfalls Gegenstände des neokonservativen Diskurses sein können.

Üblicherweise halten die Neokonservativen ansonsten den Staat Israel sehr hoch, wobei sie betonen, es handele sich um die "einzige Demokratie" in seinem geographischen Umfeld. Dabei streichen sie die zutreffende Tatsache heraus, dass in Israel ausgeprägt demokratische Verhältnisse (bei gleichzeitiger starker Stellung der Armee in Politik und Gesellschaft) herrschen, kehren aber gern unter den Teppich, dass der Staat auch eine Besatzungsmacht ist und gegenüber Nachbarländern wie dem Libanon aggressiv auftritt.

Dieser durch die "Herstellung demokratischer Verhältnisse" und "die Erzwingung des Respekts der Menschenrechte" gerechtfertige Kalte-Kriegs-Diskurs wird oft auch von früheren Linken, zu denen einige der neokonservativen Ideologen zählen, getragen. Allerdings fällt die reale Bilanz der Neocon-Politik, unter dem Aspekt der Demokratisierung, vernichtend aus: Ein Blick auf die Situation im Irak genügt.

In den politischen Eliten führender westlicher Mächte, allen voran der USA, liegen die überzeugten neokonservativen Hardliner im ständigen Clinch mit den außenpolitischen "Realisten". Letztere sind davon überzeugt, dass sich eine Einmischung in die Angelegenheit anderer Länder dann viel erfolgreicher gestaltet, wenn man dort Freunde, Verbündete oder zumindest berechenbare Ansprechpartner unter den amtierenden, real existierenden Regimes gewinnt.

Dies erscheint ihnen aussichtsreicher, als zu versuchen, die Verhältnisse in diesen Ländern von außen und von oben umzuwälzen, auf dass sie dem eigenen Vorbild ähneln mögen. Diese "Realpolitik" kann ihrerseits im Umgang mit repressiven ja mörderischen, aber in ihrem Handeln "kalkulierbaren" Regimes ausgesprochen zynisch sein. Normalerweise oszilliert die Außenpolitik einer westlichen Großmacht wie der USA ständig zwischen diesen beiden Polen – dem militärisch abgestützten Interventionismus, und der auf möglichst gute Beziehungen zu bestimmten Autokraten gestützten "Realpolitik" – hin und her.

Die US-Politik gegenüber dem Iran ist dafür ein gutes Beispiel, wobei die Beziehungen unter der autoritären und pro-westlichen Diktatur des Schah ausgeprägt gut waren, unter dem autoritären und teilweise anti-westlichen Regime der Islamischen Republik jedoch wechselhaft ausfallen. Der jüngst veröffentlichte US-Geheimdienstbericht, der die zuvor beschworene "Bedrohung durch die iranische Atombombe" doch erheblich relativiert, widerspiegelt dabei eine der Wortmeldungen der "Realisten" – die ihren Widersachern eine abenteurlichen Kurs vorwerfen, der in einen Krieg mit unabsehbaren Konsequenzen führen könnte, während man doch in Teilbereichen gemeinsame Interessen (etwa die Entwicklung im besetzen Irak betreffend) mit dem Regime in Teheran definieren könne.

Die Frage, die nun aktuell aufgeworfen wird, lautet, ob nicht Nicolas Sarkozy von einem Lager ins andere, jenes der "Realisten", übergeschwenkt sei. Eine nähere Untersuchung beweist jedoch, dass die Dinge bei weitem nicht so einfach liegen, als dass sie sich als einfacher Seitenwechsel entlang einer Trennlinie "Neocons versus Realisten" darstellen ließe. Ein solcher Lagerwechsel wird Präsident Sarkozy nun aber von verschiedener Seite zum Vorwurf gemacht.

"Verrat" an neokonservativen Idealen?

Im jüngsten Falle des französischen Streits um den Gaddafi-Besuch meldeten sich ebenfalls Wortführer aus der neokonservativen Ecke, neben linken und zentrumsdemokratischen Kritikern, zu Wort. So zeigten sich jene ehemals linken Intellektuellen, die in den 70er Jahren oft maoistische Schreihälse waren, später nach rechts abdrifteten und die zu den lautesten Befürwortern der Wahl Nicolas Sarkozys zählten – wie André Glucksmann, Pascal Bruckner oder, etwas verdruckst, Alain Finkielkraut – bestürzt über den Empfang für Gaddafi.

Sarkozy hielten sie zunächst für einen der Ihren, nachdem er im Wahlkampf sehr kritische Worte für die Praktiken von Russlands Präsident Wladimir Putin gefunden hatte. Zudem hatte der damalige konservative Innenminister im Juli 2006 den damaligen Libanonfeldzug der israelischen Armee lautstark befürwortet.

Der Höhepunkt dieser Liaison mit den französischen Anhängern der Neocons war erreicht, als der konservative Kandidat am Abend seiner Wahl (dem 6. Mai 2007) ganz in Manier der "Demokratie-Missionare" wortstarke Formulierungen in seine Ansprache packte. So behauptete Sarkozy in seiner Rede, Frankreich stehe "an der Seite der Unterdrückten überall in der Welt", da es dies seiner Tradition schulde.

Konkret sprach Sarkozy damals vor allem davon, die in Libyen festgehaltenen bulgarischen Krankenschwestern müssten endlich freikommen, daraus werde er eine Priorität seiner künftigen Politik machen. Dies schien eines der Elemente einer "menschenrechtsorientierten", autoritären Regimes gegenüber kompromisslos auftretenden Außenpolitik zu sein. Heute weiß man, dass die Anspielung auf die Situation dieser faktischen Geiseln in libyscher Haft keineswegs einem besonderen demokratischen Übermut, einer moralischen Empörung über eine besondere Ungerechtigkeit geschuldet war.

Vielmehr gehorchte es einer völlig pragmatischen Erwägung, dass Sarkozy gerade das Schicksal dieser Gefangenen in Libyen thematisierte: Claude Guéant, Sarkozys langjähriger "rechter Arm" im Innenministerium r(den er nach seiner Wahl zum Generalsekretär des Präsidentenamts erhob) hatte seit 2005 enge persönliche Bindungen zum libyschen Geheimdienstchef Moussa Koussa geknüpft. Dies enthüllte 'Libération' im Sommer dieses Jahres, anlässlich der "Krankenschwestern-Affäre". Guéant, der im Juli selbst einige Tage vor Nicolas Sarkozy nach Tripolis flog, konnte so im Hintergrund wirken: Hinter den Kulissen konnte er in aller Ruhe die, finanziellen und politischen, Bedingungen für die Freilassung der Krankenschwestern durch Gaddafi aushandeln. Inzwischen wird gemunkelt, der symbolträchtige, fünftägige Empfang für Gaddafi in Paris sei damals Teil des Verhandlungspakets gewesen.

Die Neokonservativen sehen sich unterdessen betrogen und getäuscht. In einem Gastbeitrag für die Pariser Abendzeitung 'Le Monde' vom vergangenen Donnerstag unter dem Titel "Der Ehrverlust" (Le déshonneur) empörte sich Pascal Bruckner über den Staatsbesuch aus Libyen. Bruckner ist einer der rechtsgewendeten ex-marxistischen Intellektuellen, die sich von der Neocon-Ideologie fasziniert zeigen und mit ihrer eigenen früheren Ideen, die im Zeichen des Antikolonialismus und Antiimperialismus standen, radikal abgebrochen haben. Bruckner hat diesen Bruch 1983 mit seinem Buch 'Le sanglot de l'homme' (deutsch 1984: "Das Schluchzen des weißen Mannes") vollzogen. Darin rechnet er scharf mit jenen ab, die einstmals die Entkolonialisierung als emanzipatorischen Impuls betrachteten, während sie in Wirklichkeit nur in die Barbarei geführt habe.

Unter Bezugnahme auf ein stark ideologisch aufgeladenes Begriffsreservoir, etwa unter Rückgriff auf das ziemlich abgegriffene Gegensatzpaar von "Zivilisation" und "Barbarei" – alias Licht und Dunkelheit – schreibt Pascal Bruckner nun in 'Le Monde':

Es sollte die Erlösung des Barbaren, der in die Ränge der Zivilisation zurückkehrt, werden. Es wurde das Gegenteil: Der Barbar, voller Hochmut, hat uns eine Moralpredigt gehalten. Nicht zufrieden damit, Frankreich zu beleidigen, indem er mit dem Finger auf alle Verfehlungen gegenüber dem Recht zeigte – er, der alle Rechte verletzt -, hat der Oberst Gaddafi keinen einzigen Ausdruck des Bedauerns erkennen lassen. (…) Gaddafi , der Paria der internationalen Gemeinschaft, hätte auch als solcher behandelt werden, mit der Pinzette angefasst werden müssen, wie ein Krimineller unter Aufsicht.

Auch hier fällt – spiegelbildlich zur Argumentation, mit welcher die Regierung den Empfang für Gaddafi rechtfertigt – auf, dass Pascal Bruckner in seiner Kritik an ihr nicht auf jene, die tatsächlich durch die libysche Staatsmacht unterdrückt werden, abstellt. Vielmehr skandalisiert er vor allem, dass "Frankreich", dass Wir vom libyschen Diktator "beleidigt" werden. Über die Immigranten in libyschen Haftanstalten oder die Gewalt gegenüber libyschen Oppositionellen: kein Wort. Desweiteren nimmt Bruckner eine höchst fragwürdige Vermischung zwischen unterschiedlichen politischen Repräsentanten, die ihm bzw. dem Westen aus ziemlich unterschiedlichen Gründen nicht genehm sind, vor:

Ah, wie schön er ist, der "Bruch" (Anm.: den Sarkozy mit den Vorgängerregierungen unter Jacques Chirac versprochen hatte). Wir hatten schon den erniedrigenden Besuch beim antisemitischen Regime Bouteflikas, den enthusiastischen Telefonanruf beim Autokraten Putin, die Einladung des Hanswurstes Chavez nach Paris. Wann wird der Rote Teppich für Herrn Ahmedinedschad ausgerollt?

Großer Eintopf

Auf diese Weise wirft Bruckner unterschiedliche Ereignisse und politische Figuren in einen Topf, die in Wirklichkeit nicht zusammen gehören.

Das erste Satzglied spielt auf den jüngsten Besuch Nicolas Sarkozys in Algerien an, vom 3. bis 5. Dezember dieses Jahres dauerte und dessen herausragendes Ereignis der Abschluss von Wirtschaftsverträgen in Höhe von fünf Milliarden Euro darstellte. In dessen Vorfeld hatte in Algier der nationalistische Minister für die Veteranen, Mohammed Cherif Abbès, in der letzten Novemberwoche tatsächlich Übelkeit erregende Sprüche geklopft: Er wies auf die angebliche "jüdische Herkunft" Nicolas Sarkozys (die sich auf einen Großvater, der zum christlichen Glauben übertrat, beschränkt) hin, welcher der französische Präsident seine Wahl verdankte, und behauptete: "Die jüdische Lobby hat in Frankreich ein Monopol auf die Industrie."

Diese Sprüche riefen in Frankreich breite Kritik hervor [7], trafen aber auch in Algerien auf ein kritisches Echo, wobei die Reaktionen der Presse geteilt waren. Dessen Staatspräsident Abdelaziz Bouteflika rief aber seinen Minister in den Tagen vor dem Besuch Nicolas Sarkozys zur Ordnung und betonte, dessen Auslassungen entsprächen "nicht unseren Wertvorstellungen". Im übrigen wird vermutet, dass der Minister - der zur "Nationalen Demokratischen Sammlung" (RND) zählt, während Bouteflika und die Mehrheit der Regierung unterdessen der früheren Einheitspartei Nationale Befreiungsfront (FLN) angehören – seine Sprüche aus taktischen Gründen abließ, um Bouteflika gegenüber Frankreich in Schwierigkeiten zu stürzen.

Es gibt in Algerien zwar einen Resonanzboden für judenfeindliche Positionen in Teilbereichen der Gesellschaft, wenngleich nicht in mit Europa im frühen 20. Jahrhundert vergleichbarem Maße. Aber, wie Bruckner, pauschal von "dem antisemitischen Regime Bouteflikas" zu sprechen, ist in jedem Falle purer Unfug.

Nicolas Sarkozys Besuch in Algerien war auch keineswegs "erniedrigend" für dessen eigenes Land: Der französische Präsident musste sich vielmehr zum Teil (gar zu berechtigte) Kritik über seine seit dem Wahlkampf ständig wiederholte Weigerung, "Reue" über die Verbrechen der französischen Kolonialgeschichte an den Tag zu legen, anhören. Da Sarkozy aber gleichzeitig mächtigen wirtschaftlichen Interessen seines Landes in der ehemaligen nordafrikanischen Kolonie den Weg zu ebnen versucht, bot er in Ansprachen in Algier und Constantine nun eine neue Kompromissformel an: Er bezeichnete das Kolonialsystem als "grundlegend ungerecht", hielt aber zugleich an seiner im Wahlkampf vor Pieds Noirs (früheren Algerienfranzosen) getätigten Aussage fest, die Mehrheit der früher in der Kolonie siedelnden Franzosen seien "gutgläubig" und aufrecht von ihrer zivilisatorischen Mission überzeugt gewesen.

Die algerischen Massen waren zwar von Sarkozys Formulierungskünsten nicht überzeugt, und die Atmosphäre, die ihm auf den dortigen Straßen entgegen schlug, war eher kühl. Erst recht verglichen mit dem berühmten Besuch seines Amtsvorgängers Chirac in Algier und Oran von Anfang März 2003, wenige Tage vor Ausbruch des Irakkriegs, als Abertausende Menschen skandierten: "Chirac, Irak!", gefolgt vom Slogan: "Visa, Visa…" Aber die wirtschaftlichen und politischen "Entscheidungsträger" zeigten sich gegenüber Abkommen mit der früheren Kolonialmacht wohlgesonnen.

Dass Nicolas Sarkozy dem russischen, teilautoritären Präsidenten Wladimir Putin kurz nach den – von vielen Beobachtern angezweifelten – Ergebnissen der russischen Parlamentswahl vom 2. Dezember telephonisch gratulierte, ist richtig. Dies ist vielfach kritisiert worden, da die deutsche Kanzlerin Angela Merkel wesentlich kritischere Worte für den russischen Machthaber fand.

Allerdings ist die Interessenlage beider Nationen im Osten Europas auch unterschiedlich: Während Deutschland vielfältige Wirtschaftsinteressen in den ost- und südosteuropäischen Nachbarstaaten Russlands aufweist, die sich über das Rumoren des russischen "Bären" mitunter besorgt zeigen, wittert Sarkozy in Wladimir Putin und seinem Regime eine starke "Ordnungsmacht". Sowohl manche bürgerliche Demokraten als auch militante Neokonservative in Frankreich sehen seitdem allerdings in Merkel eine authentischere Verkörperung demokratischer Werte, als in Sarkozy. Nachdem sie in Letzterem zunächst einen der Ihren zu entdecken glaubten, erblicken sei nun in ihm einen Verräter an ihren Idealen.

Realpolitik mit Chavez

Was den Venezolaner Hugo Chavez betrifft, so hat Nicolas Sarkozy ihn tatsächlich vor wenigen Wochen nach Paris eingeladen. Das Hauptmotiv dafür lag darin, dass Sarkozy sich mit allen Mitteln als Befreier der seit 2002 durch die kolumbianische Guerilla (FARC) festgehaltenen Franko-Kolumbianerin Ingrid Betancourt aufschwingen möchte – nachdem er im Juli schon als Befreier der bulgarischen Krankenschwestern in Libyen auftreten konnte.

Chavez aber war zeitweise durch den Präsidenten Kolumbiens, Uribe, als Vermittler gegenüber der FARC-Guerilla beauftragt worden. Inzwischen wurde ihm diese Funktion freilich durch seinen kolumbianischen Amtskollegen wieder entzogen. Es war aber die (vermeintliche) Aussicht darauf, von den Vermittlungsbemühungen des venezolanischen Präsidenten politisch mit profitieren zu können, die Nicolas Sarkozy bei seinem Empfang für Hugo Chavez antrieb.

Ansonsten gilt: Sei es, wie es sei, bestimmt hat Chavez regierungsamtlicher Populismus so manche Kritik verdient und stößt in seinen (durch die Öleinnahmen finanzierten) Umverteilungsaspekten an seine Grenzen. Doch einen Linkspopulisten wie Chavez mit den Präsidenten von Folterregimen wie Adhmedinedschad oder Gaddafi in einen Topf zu werfen, ist eine miese Tour – derer nur ein neokonservativer Ideologe fähig ist, für den die bürgerlich-wirtschaftsliberale Demokratie à la USA schlichtweg den Maßstab aller Dinge bildet.

Nicht nur ein französischer Neocon wie Pascal Bruckner, auch die sozialdemokratische Tageszeitung 'Libération' zog inzwischen ähnliche Parallelen. Um Kritik an Nicolas Sarkozy zu üben, rückte sie diesen vor eine Liste seiner sechs "neuen Freunde". Die Liste versammelt Hugo Chavez, Wladimir Putin, Muammar Gaddafi, Chinas starken Mann Hu Jintao (nachdem Sarkozy Ende November auch in Peking Wirtschaftsverträge über 20 Milliarden aushandelte) sowie den tschadischen Präsidenten Idriss Déby und das syrische Staatsoberhaupt Baschar al-Assad – mit den beiden Letztgenannten führte Nicolas Sarkozy jüngst diplomatische Verhandlungen [8].

Den Abstand zwischen neokonservativ klingender Wirklichkeit und Sarkozys "Realpolitik” an der Spitze des Staates kann man sich dadurch vielleicht aufzeigen; mancher hehre Anspruch, der erhoben worden war, lässt sich vielleicht ad absurdum führen. Eine politische Analyse ist dies gleichwohl nicht.

Das Ende vom Lied

Zu Anfang der vergangenen Woche schien der Besuch Gaddafis, vor allem aus Sicht der französischen Wirtschaft, höchst lukrative Aussichten zu bringen. Noch konnten die Industrievertreter sich an jenem 10. Dezember, beim gemeinsamen Kukus-Essen mit Gaddafi im Elysée-Palast, die Lippen lecken. Doch dann kam es ein bisschen anders: Im Laufe seines Besuchs ließ Gaddafi nicht so viel Geld in Frankreich liegen, wie erwartet worden war. Von Verträgen in Höhe von zehn Milliarden Euro war noch am Dienstag die Rede gewesen.

Aber gegen Ende voriger Woche wurde die Rechnung nach unten korrigiert, denn in vielen Bereichen ging Gaddafi keine konkreten Verpflichtungen ein, oder zumindest keine neuen. 'Fragen über die Vertrage zwischen Frankreich und Libyen" warf etwa 'Le Monde' in ihrer Samstagsausagabe auf.

Viele der abgeschlossenen oder anvisierten Verträge enthalten entweder keine neuen Abmachungen, sondern bilden nur die feierliche Umsetzung schon früher geschlossener Vereinbarungen – oder aber haben nur die Eröffnung von noch zu führenden Verhandlungen zum Gegenstand. Bei der französischen Rüstungsindustrie schloss Gaddafi etwa ein Rahmenabkommen, dem zufolge Gespräche mit dem Flugzeugbauer Dassault über den Kauf von Kampfflugzeugen der Marke Rafale (der Name bedeutet so viel wie 'Windstoß' oder auch 'Schusssalve') eröffnet und bis zum 1. Juli 2008 zum Abschluss gebracht werden sollen.

Dies teilte Dassault-Generaldirektor Charles Edelstenne am Donnerstag mit. Präziser sind hingegen die Vereinbarungen mit EADS. Den Kauf von 21 Airbus-Flugzeugen durch Libyen im Gesamt wert von 2,2 Milliarden Euro sehen diese zwar vor. Doch handelt es sich dabei nur um die Bestätigung eines Auftrags, den der erdölreiche und bewohnerarme nordafrikanische Wüstenstaat bereits am 20. Juni dieses Jahres, anlässlich der jährlichen Luftfahrtmesse im Pariser Vorort Le Bourget, erteilt hatte.

Warten auf den Bau eines Atomkraftwerks

Nur bei den drei Verträgen, die bei Gaddafis jüngster Visite mit dem Atomkonzern Areva abgeschlossen worden sind, handelt es sich tatsächlich um neue Vereinbarungen. Allerdings geht es hier, im Augenblick, noch einzig und allein um Investitionen zur Verbesserung des libyschen Stromnetzes, drei Aufträge in Höhe von 300 Millionen Euro. Den Auftrag zum Bau eines Atomkraftwerks in Libyen, und präziser über den Verkauf des neuen Reaktortyps "der dritten Generation" EPR (Europäischer Schwerwasserreaktor), möchte die französische Nuklearindustrie zwar auch noch einstreichen. Aber auf diesem Gebiet liegt die Initiative im Moment noch "bei den Politikern", wie die Areva-Spitze betont, das heißt: Die konkrete wirtschaftliche Umsetzung des Geschäfts ist noch nicht in einem unterschriftsreifen Stadium.

Die Inbetriebnahme eines solchen Reaktors in Libyen wird erst für die Jahre 2020 bis 2025 erwartet. Nicht zuletzt sind Teile der Areva-Direkton anscheinend der Auffassung, ein solcher Nukleardeal mit dem nordafrikanischen Staat verderbe das Image ihres Konzern, und man möge lieber die Expansion im Atomgeschäft nach China (Ende November vereinbart) und in die USA (geplant) bevorzugt vorantreiben. Dennoch sind zugleich Vorverhandlungen auch mit Gaddafis Staat am Laufen; so besuchte ein Areva-Team im Mai 2007 die libysche Hauptstadt Tripolis, um dort Pläne für den EPR vorzustellen.

Wer den (scheinbaren) Schaden hat, braucht – wie üblich – für den Spott nicht zu sorgen. In der bitterbösen, satirischen Polit-Puppensendung des französischen Fernsehsenders Canal +, 'Les Guignols de l'info', war das Veräppeln der Auftritte Nicolas Sarkozys an der Seite Gaddafis vergangene Woche täglich ausführlichst Thema. An einem der letzten Abende konnte man die Puppe Sarkozys mit blauen Flecken im Gesicht sehen: Hinterlassenschaften der Fußspuren, die Gaddafi hinterlassen habe, als er ihm über das Gesicht gelaufen sei. "Für zehn Milliarden Euro!" meint Sarkozy. Hintergrundkommentar einer Stimme im Off: "300 Millionen sind es geworden." Worauf die Sarkozypuppe nur noch mit fast Mitleid erregender Miene zu erwidern hat: "300 Millionen, das ist doch nicht schlecht, 300 Millionen Euro..." Am folgenden Tag lacht sich eine Puppe Jacques Chiracs über dessen Amtsnachfolger kaputt, und erzählt ihre Witze über "den Zwerg" (Sarkozy) und seine Abenteuer mit Gaddafi: "Wie sagt man '10 Milliarden' auf libysch? Antwort: '300 Millionen.' Haha. Hahaha..."

Streit zwischen Paris und Berlin

Die Politik Nicolas Sarkozys gegenüber Gaddafi, und allgemein gegenüber den Regimes am Südufer des Mittelmeers, hat inzwischen auch zu einem (punktuellen) offenen Zerwürfnis zwischen Frankreich und anderen EU-Staaten geführt. Darunter auch zu Missstimmungen mit Berlin.

Insbesondere wird den Regierenden in Paris aus Brüssel und Berlin ihr Eifer, den nordafrikanischen Staaten und darunter auch Libyen technologische Hilfe bei der "zivilen Nutzung der Atomenergie" anzubieten, vorgeworfen. Im Vorfeld des jüngsten EU-Afrika-Gipfels von Lissabon hatten Deutschland, Österreich und Dänemark sich innerhalb der EU dem Ansinnen der Franzosen widersetzt, einen Passus in die Abschlusserklärung aufzunehmen, worin ein "Dialog über die zivile Nutzung der Nuklearenergie" als positives Ziel gesetzt wird. Doch Frankreich konnte sich an dem Punkt, mit Unterstützung Italiens, durchsetzen.

Gleichzeitig berichtete die Pariser Abendzeitung 'Le Monde', bei der Europäischen Union wüchsen die Vorbehalte gegenüber den Angeboten, welche die französische Nuklearindustrie in der vergangenen drei Monaten einer Reihe arabischsprachiger Staaten (Libyen, Marokko, Algerien, am Rande auch der Regierung des besetzten Irak) unterbreitet hatte. Die liberale Pariser Abendzeitung kommentierte selbst, in einem Leitartikel, in kritischem Tonfall den "Arabischen Feldzug Nicolas Sarkozy für die Nuklearenergie".

Aber auch das Ansinnen Frankreichs, eine neue "Mittelmeer-Union" zu begründen und die Regierungen am Nord- wie am Südufer des Mastre Nostrum in ein institutionelles Gefüge auf regionaler Ebene einzubinden, stößt zunehmend auf Vorbehalte. In den Tagen vor der Eröffnung des EU-Afrika-Gipfels widersprach Angela Merkel offen diesem Ansinnen: Es komme nich in Frage, eine zweite Union außerhalb des institutionellen Rahmens der EU zu schaffen.

Torpedos von Merkel

Die algerische Tageszeitung 'El-Watan' schlagzeilte daraufhin am vorletzten Samstag auf ihrer Titelseite: "Angela Merkel torpediert das Projekt der Mittelmeer-Union". Neben eventuellen politisch-ideologischen Motiven stehen hinter diesem Streit allerdings vor allem handfeste materielle Interessenlagen: Deutschland sieht seine wirtschaftlichen Interessen weitaus eher im Osten und Südosten, und sähe daher ungern die Schaffung eines neuen Gravitationszentrums der EU-Politik im "Süden".

Aber nicht nur Berlin widersetzt sich inzwischen den Plänen für die "Mittelmeer-Union". Diesen Begriff hatte Nicolas Sarkozy erstmals während des Wahlkampfs in einer Kandidatenrede vor früheren Algerienfranzosen – die starke koloniale Anklänge hatte und das historische "Wirken Frankreichs in Übersee" in großen Teilen rechtfertigte – am 7. Februar dieses Jahres in Toulon benutzt. Seitdem erschien diese Perspektive als eines der großen Projekte seiner Außenpolitik, und Präsident Sarkozy sprach Ende Oktober im marokkanischen Tanger und Anfang Dezember in Algier erneut von seinen Plänen für die "Mittelmeer-Union".

Real widerspricht man sich in Paris davon vor allem Chancen für eine neue wirtschaftliche Expansion, aber auch die Wiedererlangung von regional- und weltpolitischer Geltung - um den seit dem Ende seines Status als Kolonialmacht erlittenen Einflussverlust Frankreichs zu stoppen.

Inzwischen wurde aber auch bekannt, dass nicht länger nur Berlin, sondern auch Rom und Madrid sich diesen Plänen Sarkozys widersetzen. In ihrer Ausgabe vom vorigen Donnerstag berichtete die französische Wochenzeitung 'Le Courrier International', die Sarkozys Außenpolitik ein Titelthema widmete, dass Spanien und Italien sich um Kontakte untereinander bemühten, um Sarkozys Pläne zu konterkarieren.

Nationale Interessenpolitik scheint also der Hauptgrund für Nicolas Sarkozys Avancen an Gaddafi, aber auch seine vorsichtigen Bemühungen um ein Wiederanknüpfen enger Bande an Algerien – nach den jüngsten Polemiken zwischen beiden Ländern um die französische Kolonialvergangenheit – zu sein. Ideologische Motive erscheinen als absolut zweitrangig, und der französische Präsident kann mal den Neocon und den Demokratie-Apostel spielen, um sich als "Befreier der bulgarischen Krankenschwester" aufzuspielen, mal den nüchtern mit den vorhandenen Regimes kalkulierenden "Realisten". Noch aber ist völlig unsicher, ob aus diesem Streben nach neuem nationalem Glanz etwas wird: Die Nachbarn sind nicht begeistert, und Gaddafi erscheint denn doch gar zu unverlässig, um hauptsächlich auf ihn bauen zu können.


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[4] http://www.vacarme.eu.org/article1408.html
[5] http://www.lemonde.fr/web/video/0,47-0@2-3212,54-988670@51-987190,0.html
[6] http://www.jeuneafrique.com/jeune_afrique/article_jeune_afrique.asp?art_cle=LIN16127ledurlixene0
[7] http://lille.indymedia.org/spip.php?article11093
[8] http://www.editoweb.eu/Les-six-nouveaux-amis-de-Sarkozy_a4533.html