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Zwei Jahre Ukraine-Krieg: Deutsche Selbstgerechtigkeit in allen Varianten

Woke und wehrhaft: Deutsche Leopard-Panzer als Freiheitssymbol? Archivbild: böhringer friedrich / CC-BY-SA-2.5

Gratismutige Geschichtsverdreher, Standort-Deutschland-Jammerer und Putin-Fans mit Seeräuber-Jenny-Syndrom: Ist dieses Land noch zu retten? Ein Kommentar.

Ab wann haben die Grünen wirklich mehr geahnt als Sahra Wagenknecht, die noch wenige Tage vor dem russischen Einmarsch in die Ukraine vor zwei Jahren überzeugt war, dass Putin keine Grenzen verschieben wolle?

Bis zur Bundestagswahl 2021 rechneten die Grünen wohl auch nicht damit – sonst müssten sie den Bruch von Wahlversprechen schon einkalkuliert haben: "Keine Waffen und Rüstungsgüter in Kriegsgebiete" [1] war eine der Parolen, mit denen die Grünen damals in den Wahlkampf zogen.

Die Reaktion auf den Krieg: Zwischen Schock und Doppelmoral

Nach dem Schock des 24. Februar 2022 wurde oft wüst beschimpft, wer sie daran zu erinnern wagte und wissen wollte, was an diesem Krieg so vollkommen anders sei als an anderen Kriegen, die – je nach Herkunft und Freundeskreis – auch für Menschen in Deutschland sehr präsent sein konnten.

Dennoch wurde ihre Erwähnung als Whataboutismus gegeißelt, wenn es darum ging, warum auf diesen einen Krieg so vollkommen anders reagiert werden musste.

Sicher: Dieser Krieg birgt eine viel größere Eskalationsgefahr für Europa und die Welt als beispielsweise die türkischen Bombenangriffe in Nordostsyrien – und in der Ukraine sind in den letzten zwei Jahren auch deutlich mehr Menschen durch Kriegshandlungen gestorben. Soviel ist sicher, auch wenn sich beide Seiten mit der genauen Zahl gefallener und verwundeter Soldaten bedeckt halten [2].

Eskalationsgefahr und Blutzoll: Argumente der Friedensbewegung

Beides – die Eskalationsgefahr und der hohe "Blutzoll" – sind aber auch Argumente der verpönten Friedensbewegung, die meint, dass im Sinne aller direkt und indirekt betroffenen Menschen viel stärker auf Diplomatie gesetzt werden sollte.

Verpönt ist auch der Hinweis auf die Nato-Osterweiterung und Nato-Manöver in der Ukraine, die zwar nie Mitglied des Militärpakts war, aber somit Gefahr lief, als eine Art inoffizielles Mitglied und als Aufmarschgebiet der Nato an der Grenze zu Russland gesehen zu werden. Dabei hatten vor rund zehn Jahren selbst FDP-Politiker wie der heutige deutsche Botschafter in Moskau, Alexander Graf Lambsdorff vor dem "falschen Eindruck" gewarnt [3], den solche Manöver erwecken könnten.

Aber eine Vorgeschichte, in der die Nato auch nur ansatzweise etwas falsch gemacht hatte, durfte es angesichts der russischen Aggression einfach nicht mehr geben. Ihre Erwähnung galt fortan als "Putin-Versteherei" – und Putin darf niemand verstehen, auch wenn sich westliche Geheimdienstexperten bis heute den Kopf zerbrechen, wie der russische Präsident wirklich tickt.

Verstehen vs. Verständnis: Wer will Putin unberechenbar?

Hätte sich nicht auch Wagenknecht eine Blamage erspart, wenn sie das frühzeitig verstanden hätte? Ein berechenbarer Gegner ist bei zunehmenden Spannungen zwischen Atommächten wie der Nato und Russland schließlich besser als ein unberechenbarer. Aber das gab in der anfangs so stark emotionalisierten Debatte scheinbar keinem und keiner das Recht, eine weitere Eskalation vermeiden zu wollen.

Eine Schützengraben-Mentalität machte sich in deutschen Abgeordnetenbüros und Redaktionen sowie an Homeoffice-Schreibtischen breit. Es konnte keine zwei Meinungen geben, ohne dass eine davon Feindbegünstigung war; wer vor einer Eskalation warnte, war im Zweifel ein Sprachrohr des Feindes.

Gratismutig: Der Vorwurf des Lumpen-Pazifismus

Der Vorwurf des "Lumpen-Pazifismus" [4] machte die Runde, in den Raum geworfen von dem Spiegel-Kolumnisten Sascha Lobo, für dessen Frisur die Antidiskriminierungsstelle der Bundeswehr nur noch den richtigen Helm organisieren müsste, damit er sich demnächst persönlich an der Nato-Ostflanke bewähren kann. Immerhin ist er noch knapp unter 50. Aber das wird wohl nichts.

Die alte Stahlhelm-Fraktion der CDU/CSU hätte sich seither eigentlich fast entspannt zurücklehnen können. Militarismus war plötzlich Punkrock! Campino, Sänger der Toten Hosen, erklärte 2022 kurz vor seinem 60. Geburtstag freimütig, dass er heute "wahrscheinlich nicht mehr" den Wehrdienst verweigern [5] würde.

Gratismut, moralischer Narzissmus und Maulheldentum an der Heimatfront haben Hochkonjunktur. Was dabei vergessen wird, ist: Der Vorwurf der Feigheit an Friedensbewegte kann nur dann irgendeine Substanz haben, wenn deren Angst vor einer Eskalation zum Dritten Weltkrieg und womöglich zum Atomkrieg gerechtfertigt ist. Sonst müsste eher von einer Phobie die Rede sein, was aber auch Skrupel und Besonnenheit auf russischer Seite voraussetzen würde.

Wenn die Gefahr real ist, muss aber auch die Frage erlaubt sein, ob es das wert ist – und das wollen die wenigsten Schreibtisch- und Social-Media-Feldherren zu Ende denken.

Deutschlands Weg zur Kriegstüchtigkeit und das richtige Mindset

Jetzt soll Deutschland also "kriegstüchtig" werden, wie Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) das Kind beim Namen genannt hat. Die Bundeswehr fordert "Investitionen in Personal, Material und Mindset" [6]. Wenn der Gegner ins Mindset investiert, heißt das hier Propaganda – die Nato nennt es "Strategische Kommunikation" [7].

Dass ausgerechnet die AfD sich daran erinnert, wie sehr man als Deutscher in einem Krieg mit Russland auf die Fresse fliegen kann und vorerst keine gesteigerte Lust darauf hat, vor allem nicht für "fremde Interessen", verkompliziert die Sache für antimilitaristische Linke. Denn nun werden sie nicht nur mit Putin, sondern auch noch mit der AfD in einen Topf geworfen.

"Verhandlungen", "Frieden" und "Diplomatie" sind im Zuge der von Bundeskanzler Olaf (SPD) verkündeten "Zeitenwende" nach dem 24. Februar 2022 zu Bäh-Worten mutiert – und Geschichtsrevisionismus ist trendy. Denn auch, wer Wortspiele wie "Putler" für übertrieben hält, setzt sich dem Verdacht aus, mit Putin zu sympathisieren. Als ob es keine Kriegsverbrechen unterhalb der Dimension von Auschwitz gäbe.

Aus den "Putler"-Analogien spricht hier die unfassbar selbstgerechte deutsche Sehnsucht, dass doch endlich mal ein ausländischer Staatschef mindestens genauso schlimm sei wie Hitler. Insofern ist selbst Putin noch zu etwas "gut" und "befreit" nebenbei ganz unfreiwillig Deutsche von der Last ihrer Vergangenheit.

Kontroverse um Waffenlieferungen und moralischer Narzissmus

Es ist schwer zu entscheiden, was selbstgerechter ist: Das staatstragende, gratismutige "Wir sind die Guten"-Geplärre für immer mehr Waffen oder die geizige "Deutschland zuerst"-Rhetorik derjenigen, die zum Teil aus den falschen Gründen gegen Waffenlieferungen an die Ukraine sind.

Nämlich aus denselben Gründen, warum sie gegen Klimaschutz, Entwicklungshilfe und die Aufnahme von Asylsuchenden sind: Alles zu teuer – und überhaupt: "Wir" Deutschen sind ja eigentlich die ärmsten Schweine weltweit, oder? Nein, das sind "wir" ganz sicher nicht; auch wenn es gewaltige Klassenunterschiede gibt.

Das Dilemma der Eskalation und die Ironie der deutschen Position

Damit ist natürlich die Frage nicht beantwortet, ob es den Menschen in der Ukraine nützt oder schadet, wenn dieser Abnutzungskrieg weitergeführt wird, bis er "gewonnen" ist, wie viele junge Menschen bis dahin tot oder durch Kriegsverletzungen schwer behindert sind – und wie viel Prozent der besten Böden Europas bis dahin mit Uranmunition [8] verseucht sind, weil es kurzfristig wichtiger schien, russische Panzer zu zerstören, als langfristig die Nahrungsmittelsicherheit im Auge zu behalten.

Aber was interessiert das schon die Sorte Deutsche, die angesichts des Sterbens in der Ukraine und anderen, hier weniger beachteten Kriegsgebieten nur in deutschem Selbstmitleid baden?

Es ist eine bittere Ironie der Geschichte, wenn Moskau dieses selbstgerechte Gejammer auch noch gezielt mit Fake-Accounts im deutschsprachigen Internet gefördert [9] hat, wie es die "Cyber-Detektive" des Auswärtigen Amts herausgefunden haben wollen. Schließlich hat Russland historisch gesehen nicht die besten Erfahrungen mit ausgeprägten deutschen Egos gemacht.

Die Rüstungsindustrie als Kriegsgewinnler

Aber wenn deutscher Bellizismus scheinbar selbstlos als "Solidarität mit der Ukraine" daherkommt, wird es eben kompliziert. Klar: Der moralische Narzissmus trieft hier einigen aus allen Poren – und bei manchen ist sicher auch die Frage berechtigt, wie viele Rheinmetall-Aktien sie denn besitzen. Denn zumindest auf die Rüstungsindustrie trifft ja das Mantra von der leidenden deutschen Wirtschaft ganz bestimmt nicht zu.

Innerhalb der AfD gab es derweil heftigen Streit [10] zwischen denjenigen, die für deutsche Interessen auf Wodka-Diplomatie setzen und denen, die den Wunsch nach Rache für Stalingrad nie aufgegeben haben.

Deutsche Putin-Fans zwischen Realität und Subkultur

Was dagegen die wenigen echten Putin-Fans deutscher Herkunft antreibt, könnte eher eine Art Seeräuber-Jenny-Syndrom sein: Das Abwaschmädchen aus Brechts Dreigroschenoper wird von allen herumgeschubst und träumt davon, dass eine fremde Macht, in diesem Fall Piraten, die Verhältnisse ändern, für sie Partei ergreifen und ein Blutbad unter denen anrichten wird, die sie herumschubsen.

Deutsche Putin-Fans fühlen sich zumindest von den Mächtigen hierzulande verarscht und herumgeschubst – aus mehr oder weniger guten Gründen. Manche von ihnen sind zwar formal nicht ungebildet, aber dennoch einfach gestrickt und denken nach dem Prinzip "Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht", dass immer das Gegenteil von dem stimmen muss, das etablierte Politiker und große Medien im deutschsprachigen Raum verbreiten.

Daher gibt es auch eine Überschneidung mit früher diffus Linksalternativen, die sich während der Corona-Krise einer "Mischszene" von Unzufriedenen und "Querdenkern" angeschlossen haben und anfällig für alle möglichen Verschwörungsmythen sind, die aus ihrer Sicht immer noch plausibler klingen als Regierungserklärungen.

Putin ist für sie, was für die Seeräuber-Jenny der Piratenkapitän ist – auch wenn sie nicht wirklich von einem Blutbad träumen, so legt sich Putin aus ihrer Sicht doch mit den Richtigen an, wenn er auf Konfrontation zu westlichen Regierungen geht. Aber diese "echten" Putin-Fans sind im Grunde eine Subkultur – die meisten von ihnen würden auch in Russland Probleme mit der Obrigkeit bekommen.

Generalverdacht der Feindbegünstigung

Ein paar K-Gruppen-Nostalgiker, die nicht wahrhaben sollen, dass Russland nicht mehr die Sowjetunion ist, sind auch dabei. Aber diese überschaubare deutsche "Putin-Fanbase" ist kein einflussreicher politischer Faktor, in dessen Bekämpfung die Verfechter deutscher "Kriegstüchtigkeit" viel Zeit und Energie stecken müssten.

Deshalb wird die Nähe zu Putin auch weniger weltfremden Personen und Organisationen angehängt, die den Aufrüstungskurs der Bundesregierung in Frage stellen.

Sahra Wagenknecht ihre Fehleinschätzung vor gut zwei Jahren vorzuhalten – geschenkt. Aber anzunehmen, sie sei bis heute "Putins Sprachrohr", nachdem sie so ahnungslos ins offene Messer lief, ist absurd. Erwartet wurde offenbar, dass alle, die vor einer Eskalation gewarnt hatten, dafür Abbitte leisten und mit wehenden Fahnen für maximale Aufrüstung eintreten – oder für immer schweigen.

Der Philosoph Jürgen Habermas [11] befand kurz vor dem ersten Jahrestag der russischen Invasion, der Westen übernehme mit den Waffenlieferungen an die Ukraine eine Mitverantwortung für den weiteren Verlauf des Krieges. Er stellte die Rückeroberung der Krim infrage und nannte die Wiederherstellung des "Status quo ante" vom 23. Februar 2022 als sinnvolle Verhandlungsgrundlage.

Zwischentöne unerwünscht, Wokeness vergessen?

Damit sprach er sich nicht für einen generellen Lieferstopp aus. Auch im "Manifest für Frieden" von Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer wurde nur ein Stopp der "Eskalation der Waffenlieferungen" gefordert. Sonst hätten manche der Erstunterzeichner nicht mitgemacht.

Aber solche Zwischentöne, die eine Chance zur Versachlichung der Debatte ermöglicht hätten, gingen im allgemeinen Empörungsgeschrei unter.

Sahra Wagenknecht zu verteidigen, macht aus "linksgrün"-feministischer Perspektive keinen Spaß. Aber als ihr pseudowitzig unterstellt wurde, sich "die Schamhaare zu rasieren, um Putin ein Verhandlungsangebot zu unterbreiten" – und das im bisher als progressiv geltenden Format des "Bohemian Browser Balletts" – war ein Grad der Verrohung in der Debatte erreicht, dem genau aus dieser Perspektive laut und massenhaft hätte widersprochen werden müssen. Dass dies nicht geschah, war gespenstisch.

"Woke und wehrhaft" steht auf einem T-Shirt, das vom Panzermuseum Munster als Merchandise angeboten wird. Aber mit der Wokeness, die bisher auch Antisexismus mit einschloss, ist es in diesem Fall im bellizistischen Lager nicht mehr weit her.

Stahlgewitter trifft Klimakatastrophe: Apokalypse now?

Unterdessen droht auch die Klimakatastrophe zu eskalieren – und mindestens zwei Prozent der Wirtschaftsleistung aller Nato-Staaten in deren Aufrüstung zu investieren, wird es nicht leichter machen, die Emissionen zu senken. Die "Doomsday-Clock" [12], die symbolische Weltuntergangsuhr des Bulletin of the Atomic Scientists berücksichtigt mittlerweile beide Bedrohungen: Atomkriegsgefahr und Klimakollaps. Und sie steht auf 90 Sekunden vor Mitternacht.

Fest steht: Wer hier angesichts der Herausforderungen für die gesamte Menschheit im 21. Jahrhundert glaubt, nur das richtige Nationalfähnchen schwenken und laut genug nach Waffen schreien zu müssen, damit alles gut wird, ist Teil des Problems.

Inzwischen ist das Geschrei nicht mehr ganz so laut wie vor einem Jahr. Vielleicht soll ja deshalb mehr in das "Mindset" der Deutschen investiert werden. Schließlich haben sich in Meinungsumfragen [13] wiederholt [14] Mehrheiten ein stärkeres Engagement für Verhandlungen gewünscht.

Sei es nur aus Sorge um die deutsche Wirtschaft oder auch um Menschenleben in der Ukraine, oder tatsächlich aus Angst vor der nuklearen Apokalypse.


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[1] https://www.facebook.com/B90DieGruenen/photos/a.103764373218/10161105035593219/?type=3
[2] https://www.zdf.de/nachrichten/politik/ausland/hohe-opferzahlen-ukraine-krieg-russland-102.html
[3] https://www.liberale.de/content/us-manoever-der-ukraine-ist-unklug
[4] https://www.spiegel.de/netzwelt/netzpolitik/ukraine-krieg-der-deutsche-lumpen-pazifismus-kolumne-a-77ea2788-e80f-4a51-838f-591843da8356
[5] https://www.berliner-zeitung.de/news/kriegsdienst-campino-wuerde-heute-nicht-mehr-verweigern-li.227923
[6] https://www.bundeswehr.de/de/aktuelles/meldungen/generalinspekteur-zur-kriegstuechtigkeit-bundeswehr-5718502
[7] https://www.telepolis.de/features/Strategische-Kommunikation-Nuklearbellizisten-gegen-Friedensbewegung-7463871.html?seite=all
[8] https://www.morgenpost.de/politik/article239344985/uran-munition-ukraine-usa-putin.html
[9] https://www.telepolis.de/features/Bericht-ueber-Kreml-Kampagne-Setzt-Russland-im-Netz-auf-deutschen-Egoismus-9610347.html
[10] https://www.telepolis.de/features/AfD-Zoff-um-Verhaeltnis-zu-Russland-9011551.html
[11] https://www.sueddeutsche.de/projekte/artikel/kultur/juergen-habermas-ukraine-sz-verhandlungen-e159105/?reduced=true
[12] https://thebulletin.org/doomsday-clock/current-time/#:~:text=It's%2090%20seconds%20to%20midnight,of%20the%20Doomsday%20Clock%20statement.
[13] https://www.tagesspiegel.de/internationales/umfrage-zum-ukrainekrieg-mehrheit-der-deutschen-wunscht-sich-starkeres-engagement-der-regierung-fur-friedensgesprache-9413837.html
[14] https://www.zeit.de/news/2023-05/12/mehrheit-fuer-verhandlungen-zwischen-ukraine-und-russland