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Zwischen Mäusen und Menschen

Wissenschaftliche Befunde an Versuchstieren werden gerne für allgemeingültig und übertragbar gehalten. Sie sind es aber oft nicht. Ein trotziges Plädoyer für die Grundlagenforschung

Ich liebe die Grundlagenforschung. Jederzeit würde ich sie gegen Angriffe verteidigen. Neugier ist die köstlichste Frucht der Intelligenz und der Motor aller Kreativität. Die Suche und Sucht nach Wissen, der Wille, die Welt besser zu verstehen, brauchen keine Rechtfertigung. Sie sind eines der Fundamente menschlicher Kultur. Ich wollte in keinem Umfeld leben, in dem die zwecklose Erkundung von Zusammenhängen verpönt wäre.

Manchmal macht es mir die Natur zwar nicht leicht. Aber gerade dann zeigt sich bei näherem Nachdenken der Wert der Grundlagenforschung.

Ist eine Maus eine Maus? Eine verwirrende Tagung

Zum Beispiel gibt es bei Ratten [1] und Mäusen [2] eine seit mehr als zehn Jahren bewährte Methode, um die erwachsene Sehrinde wieder dazu zu bringen, ihre Verschaltung zu ändern, wenn ein Auge für ein paar Tage verschlossen wird: Man hält die Tiere vorher fünf bis zehn Tage in absoluter Dunkelheit.

Als das erstmals gefunden wurde, wurde es höchstrangig publiziert, wirft es doch einerseits ein Licht auf die Mechanismen, wie die Formbarkeit kortikaler Verschaltungen geregelt wird, und bietet andererseits eine minimal-invasive, einfache Methode, wie eine Amblyopie (also die induzierte Fehlsichtigkeit eines Auges) zu heilen sein könnte.

Könnte. Denn einige Jahre später wiederholten Forscher aus dem kanadischen Halifax die Untersuchung mit Katzen [3]. Ebenso wie Menschen, aber anders als Nagetiere, haben Katzen nach vorne gerichtete Augen. Ebenso wie Menschen, aber anders als Nagetiere, haben Katzen eine nach Augen- und Orientierungspräferenz wohlsortierte Sehrinde. Ebenso wie Menschen, aber anders als Nagetiere, verlassen sich Katzen auf ihren Gesichtssinn (s. hier [4] eine Demonstration dafür, wie grottenschlecht Mäuse sehen). - Anders als Nagetiere zeigen Katzen keine erhöhte Plastizität nach zehn Tagen in Finsternis. Mäuse sind anders als Katzen

Ich erinnere mich auch an eine Konferenz in Amsterdam, auf der ich vor einigen Jahren war und Ergebnisse auf einem Poster vorstellte. Eine Kollegin aus dem Labor, in dem ich arbeitete, hatte gleichzeitig ein Poster. Sie hatte gezeigt, dass ein Schlaganfall, der ein gutes Stück weiter vorne in der Hirnhälfte lag, verschiedene Formen von Plastizität in der Sehrinde blockierte. Die Frage war: Wie?

Kurz zuvor erschienene Studien, die an Ratten gemacht worden waren, legten nahe, dass Wechselwirkungen zwischen den Hemisphären eine Rolle spielen könnten. Aber nach den Versuchen meiner Kollegin zu schließen, spielten solche Interaktionen zwischen den Hirnhälften bei Mäusen keine Rolle.

Eine aktuelle Studie [5] schlägt in dieselbe Kerbe: Neurobiologen aus Detroit haben untersucht, wie der global ausgeschüttete Botenstoff Serotonin das Feuerverhalten von Nervenzellen im Stirnhirn beeinflusst. Serotonin ist einer der Transmitter, die unseren Schlaf-Wach-Rhythmus bestimmen, und damit auch die Ableitung neuronaler Aktivität im EEG. Zu verstehen, was es an Einzelzellen tut, könnte also letztlich zu erklären helfen, wie die Hirnrinde wach wird, und wie die EEG-Wellen entstehen. Es scheint also nützlich zu wissen, dass Serotonin bei Ratten diejenigen Neuronen aktiviert, die aus der Hirnrinde in tiefere Regionen Verbindungen machen, aber diejenigen Neuronen hemmt, die sich innerhalb der Hirnrinde unterhalten. Bei Ratten. Bei Mäusen ist es genau umgekehrt. Mäuse sind anders als Ratten.

Aber zurück nach Amsterdam: Quer in der anderen Ecke des Tagungssaals präsentierte zugleich eine ehemalige Kollegin aus Bielefeld ihre Daten [6]. Sie hatte den an schwarzen Labormäusen gemachten, viel beachteten und zitierten Befund, dass im Hippokampus mehr neue Nervenzellen entstehen, wenn die Tiere laufen können, an weißen Mäusen und an Wildfängen zu replizieren versucht. Die Replikation klappte - bei den schwarzen und den weißen Labormäusen. Bei den Wildfängen hatte Laufen keinen Einfluss. Mäuse sind anders als Mäuse.

Und gleich neben meinem Poster hing eines von Adam Ranson. Der hatte sich elektrophysiologisch angeschaut, auf welche Weise sich die Verschaltung in der Sehrinde verändert, wenn ein Auge für ein paar Tage verschlossen wird. Er hatte dazu die schwarze Standard-Labormaus genommen - aber einmal vom großen Tierzuchtunternehmen Charles-River und zum Vergleich vom anderen großen Lieferanten Harlan. Bei letzteren fand ein wichtiger Plastizitätsmechanismus nicht statt [7]. Und übrigens können auch wir die Mäuse vom nahen Uniklinikum nicht gebrauchen, weil sie absurde Werte liefern (was natürlich auf Gegenseitigkeit beruhen könnte). Schwarze Labormäuse sind anders als schwarze Labormäuse.

"Nichts ist klar und eindeutig"

Ich musste verstärkt an meinen Betreuer im Chemiepraktikum für Diplombiologen im Grundstudium denken. Ernst hieß er, glaube ich. Immer, wenn wir glaubten, ein unzweideutiges Ergebnis zu haben, sagte er seinen Lieblingsspruch: "Nichts ist klar und eindeutig." Ich weiß nicht, was aus ihm geworden ist. Aber er war zweifellos ein hervorragender Wissenschaftler.

Und natürlich fragte ich mich, was mein Tun für einen Sinn hatte. Ich finde an Mäusen etwas heraus. Genauer: an C57BL/6J-Mäusen, deren Alter und Geschlecht ich berücksichtige, unter einem 12h/12h-Tag/Nacht-Rhythmus, unter den klimatischen Bedingungen Mitteleuropas und in einer ziemlich unhygienischen Haltung. Ob sich das Ergebnis am Uniklinikum replizieren lassen würde oder an Mäusen aus sauberer Haltung, geschweige denn an Ratten oder beliebigen anderen Säugetieren, und ob es sogar irgendetwas über den Menschen aussagt - das kann ich nicht wissen. Ich muss es bezweifeln.

Zwar bezeichnen wir Mäuse gerne als "Modellorganismus". Aber ein Modell sind diese halbblinden Biester allenfalls für sich selbst. Was bringt das?

Ratten sind keine Aliens (nur Mäuse, nicht wahr, Douglas?)

Darauf fallen mir drei Antworten ein.

Die erste: Es gibt keinen Grund, das Kind mit dem Bade auszuschütten. Trotz aller Diskrepanzen sind Mäuse keine Aliens, sondern Säugetiere wie Du und ich. Es ist ausgesprochen unwahrscheinlich, dass bei ihnen Alles anders ist. Daraus, dass man aus einem Mäusebefund nicht unhinterfragt auf einen Menschenbefund schließen darf, folgt nicht, dass kein Mäusebefund sich beim Menschen replizieren lassen wird.

Auch hier gibt es ein schönes Gegenbeispiel aus dem Sehsystem: Mäuse und Ratten werden bekanntlich blind geboren und öffnen ihre Augen, wenn sie 13 bis 15 Tage alt sind. Forscher aus Pisa massierten [8] neugeborene Rattenbabies ab der Geburt bis zum zwölften Lebenstag, um besondere mütterliche Fürsorge zu imitieren. Diese Behandlung beschleunigte die Entwicklung des Sehsystems mit schnellerer Reifung der elektrophysiologisch messbaren Reizverarbeitung und früher ansteigender Sehschärfe bis zum Beginn der Pubertät.

Im selben Artikel beschrieben die Kollegen auch, wie sie dieselbe Behandlung an Frühchen im Geburtskrankenhaus von Pisa durchführten: dreimal täglich eine kurze Massage am ganzen Körper. Und auch bei den Menschenbabys reifte das Sehsystem früher.

Sowohl bei den Ratten als auch bei den Menschen fand sich eine höhere Konzentration des Wachstumsfaktors IGF im Blut, wenn sie massiert wurden. Und bei den Ratten war das möglich, was bei Menschen undenkbar war, nämlich eine Kontrollbehandlung mit einem Gegenmittel gegen IGF. Dieses verhinderte tatsächlich den Effekt des Streichelns.

Zugegeben: Das waren Ratten, keine Mäuse, und vielleicht sind Ratten uns Menschen tatsächlich ähnlicher als Mäuse ("Lasst den Ali in Ruhe, der ist doch eine Ratte wie wir!" [9]). Aber die Studie demonstriert, was für bildschöne Wissenschaft dabei herauskommen kann, wenn man "Modellorganismen" sinnvoll benutzt.

Der Unterschied, der den Unterschied macht

Die zweite Antwort: Ehrlichkeit vorausgesetzt, hat jeder Unterschied in den Befunden eine Ursache. Und Naturwissenschaft ist die Suche nach Ursachen. Es können winzige, ja, völlig absurd erscheinende Kleinigkeiten sein, die beeinflussen, ob sich ein Befund replizieren lässt.

Ich habe miterlebt, dass die Ethanolverdünnung - getreu Bondscher Maßgabe - geschüttelt werden musste, nicht gerührt, weil sich sonst die Schnitte entfärbten. Oder dass Versuche nicht mehr funktionierten, als die Destille kaputt ging und das destillierte Wasser aus dem Nachbargebäude geholt werden musste. Aber wenn man dran bleibt - und die Möglichkeiten hat -, kann die Suche nach dem Unterschied, der einen Unterschied macht, ihrerseits zu Entdeckungen führen.

Als zwei Labore den hochrangig publizierten Befund [10] des Altersforschers Gordon Lithgow, dass Antioxidantien die Lebenszeit des Fadenwurms Caenorhabditis elegans (noch so ein "Modellorganismus") um die Hälfte verlängern, nicht replizieren konnten, sponsorte das National Institute of Aging ein Verbundprojekt, in dem alle drei Labore ihre Methoden so lange vereinheitlichten, bis ihre Ergebnisse übereinstimmten. Das dauerte vier Jahre [11] und brachte nebenbei die Entdeckung, dass die identischen Würmer anscheinend zwischen zwei Lebensspannen "wählen" können.

Viele interessante Entdeckungen beruhen auf dem Unwillen, unerklärliche Diskrepanzen einfach hinzunehmen oder in einer vergrößerten Stichprobe verschwinden zu lassen. Wenn man zweimal scheinbar dasselbe tut, aber zwei unterschiedliche Ergebnisse erhält, kann eine Detektivarbeit einsetzen, die frustrierend, aber auch sehr lohnend sein kann.

Wissenschaft ist ein Spiel

Die dritte Antwort: Es muss nichts bringen. Man ist geistig 200 Jahre früher geboren, als es im Ausweis steht, wenn man die Grundlagenforschung um ihrer selbst willen verteidigt. Denn die Haltung geht auf den Humanismus der Aufklärung zurück. Doch was damals geschrieben wurde, gilt heute noch.

In erster Linie: natürlich Humboldt. Ziel der Bildung ist, die eigene Beziehung zur Welt zu verstärken. Mit allen geistigen und körperlichen Möglichkeiten nach der Welt auszugreifen und sie sich zu Teil zu machen. Der Mensch bereichert sich - seine Seele, seinen Charakter, seinen Geist, wie immer man es nennen mag -, indem er die Welt mit allen seinen Fähigkeiten erlebt und sie erkennt. Die Komplexität der Welt und die Komplexität der Seele entsprechen einander, spiegeln einander. Schlichte Gemüter haben schlichte Weltbilder, aber wer ein vielfältiges Wissen von der Welt hat, trägt diese Vielfalt auch in sich.

Schiller schrieb ungefähr zeitgleich vom Spieltrieb, dessen Erfüllung den Menschen erst zum Menschen macht. Er sah die Ausübung des Spieltriebs, worin sich Sinnlichkeit und Formwille verbinden, zuvörderst in der Kunst. Aber auch Wissenschaft ist Kunst, ist, im ernstesten und höchsten Sinne, ein Spiel.

Das alles ist immer noch richtig. Unter der alles assimilierenden kapitalistischen Verwertungslogik aber ist es immer schwieriger zu verteidigen. Heute muss alle Forschung sich rechtfertigen mit ihrem vermeintlichen oder möglichen Nutzen. Der einst zwecklose Laser und die CD, Raumfahrt und Teflon, Quantenphysik und Kryptographie . . . wir alle kennen das.

Kaum eine tierexperimentelle Publikation, egal wie grundlegend ihr Thema auch sein mag, kommt heute ohne den Schlusssatz aus: "These results may lead to new treatments for neurodegenerative diseases." Oder so ähnlich. Es ist ein Lippenbekenntnis, gewiss. Das aber anscheinend jedermann für nötig hält.

Dabei hatte Schiller eine deutliche Meinung zu den "Brodgelehrten", wie er sie in seiner akademischen Antrittsrede in Jena nannte. "Beklagenswerter Mensch", wetterte er 1789, "der mit dem edelsten aller Werkzeuge, mit Wissenschaft und Kunst, nichts Höheres will und ausrichtet als der Taglöhner mit dem schlechtesten! Der im Reiche der vollkommenen Freyheit eine Sklavenseele mit sich herumträgt!"

Er sähe heute in den Universitäten nur beklagenswerte Menschen und Sklavenseelen - auch an jener, an der er (ebenso wie ich) sich habilitierte und lehrte, und die heute seinen Namen trägt. Denn "vollkommene Freyheit" meint selbstverständlich auch und gerade: Freiheit von Kosten-Nutzen-Erwägungen, von Verwertbarkeitsansprüchen, von politischem Druck.

Und darum verteidige ich die Grundlagenforschung. Auch und gerade dann, wenn die Natur es uns schwer macht. Je weiter sie sich der Vereinfachung entzieht, desto weiter entzieht sie sich auch der Verwertung. Wenn das Mäusegehirn uns nichts über das Menschengehirn sagt - was tut's? Es sagt uns trotzdem noch etwas über mögliche Mechanismen in komplexen Systemen, über Muster unseres Denkens. Es bereichert trotzdem meine Welt.


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-4047700

Links in diesem Artikel:
[1] https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/16540572
[2] https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/25220148
[3] https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/26878686
[4] https://www.heise.de/tp/features/Ruhe-Ich-seh-nichts-3963515.html
[5] https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/29445767
[6] https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/23079634
[7] https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/22232689
[8] https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/19420271
[9] https://www.heise.de/tp/features/Lasst-den-Ali-in-Ruhe-der-ist-doch-eine-Ratte-wie-wir-3363391.html
[10] http://science.sciencemag.org/content/289/5484/1567
[11] https://www.nature.com/news/a-long-journey-to-reproducible-results-1.22478?WT.ec_id=NATURE-20170824&spMailingID=54768018&spUserID=NjE3OTU1NDg3MQS2&spJobID=1224039369&spReportId=MTIyNDAzOTM2OQS2