Ruhe! Ich seh' nichts!
Unsere Sinne beeinflussen einander. Versuche an Mäusen verdeutlichen, warum Blinde besser hören und fühlen
Am Ende ist alles eins. Die Gegenstände in unserer Wahrnehmung - bzw. deren mentale und neuronale Repräsentationen - erscheinen als Einheiten, die auf verschiedene Sinne wirken und dabei doch immer Urheber der Wahrnehmung bleiben. Ich kann einen Menschen sehen, hören, fühlen, riechen und in besonderen Situationen auch schmecken, und erfahre damit Eigenschaften dieses Menschen.
Aber am Anfang, da scheint alles getrennt zu sein. Die Musik im Radio kann ich nur hören, die Landschaft vor dem Zugfenster nur sehen, den Schweiß in der U-Bahn nur riechen. Jede Sinnesmodalität wird anscheinend gesondert aufgenommen und verarbeitet. Erst die fertigen Bilder, Geräusche, Gerüche und Fühleindrücke werden zu Repräsentationen verbunden auf eine Weise, die noch rätselhaft und hier nicht Thema ist - mutmaßlich über das synchrone und schnelle Feuern weitläufig vernetzter Neuronen aus den beteiligten Gehirngebieten.
In diesen Gebieten aber wird jeder Sinneseindruck, der von den Sinnesorganen kommt, zunächst einmal ganz für sich ausgewertet. Daher gibt es eine Sehrinde am Hinterende des Großhirns, und völlig getrennt davon eine Hörrinde auf dem Schläfenlappen, und wiederum ganz woanders, im Scheitellappen hinter der Zentralfurche, die Fühlrinde.
Doch diese vermeintliche Trennung täuscht. Interaktionen zwischen den Sinnen geschehen schon ganz früh in der Verarbeitung. Es gibt direkte anatomische Verbindungen zwischen den drei genannten Rindenfeldern, über welche Sehen, Hören und Fühlen einander beeinflussen können, lange bevor ihr Ergebnis bewusst wird.
Grundsätzlich ist das seit Langem bekannt. Dass Blinde besser hören können als Sehende, ist Allgemeinwissen. Jedoch bedarf gerade Allgemeinwissen der wissenschaftlichen Überprüfung (die schon vor Jahren positiv ausgefallen ist - und übrigens können Blinde auch besser riechen), und außerdem fängt damit die Geschichte doch eigentlich erst an.
Es beginnt mit der naheliegenden Frage: Warum? Arbeitet die Hörrinde von Blinden effizienter, weil sie mehr gefordert wird? Oder greift die auditive Verarbeitung auch auf die nutzlos gewordene Sehrinde zurück?
"Kreuzmodale Plastizität"
Natürlich: beides. Die verbesserte Verarbeitung innerhalb der verschonten Rindengebiete wird "intramodale Plastizität" genannt und ist auch an der Hörrinde vielfach demonstriert worden - etwa mit Hinweisen auf eine effizientere Verarbeitung von Tönen. Gleichzeitig aber lässt das Gehirn Gebiete nicht ungenutzt liegen. Wenn die Sehrinde keine Informationen mehr von den Augen erhält, sucht sie sich andere Aufgaben. Das Ergebnis nennt man dann "kreuzmodale Plastizität". Insbesondere bei Menschen, die früh erblindet sind, ist die Sehrinde daher sehr aktiv, wird beim Braille-Lesen genutzt und auch für auditive Aufgaben genutzt.
Umgekehrt gilt dasselbe. Schon eine frühe Studie an taub geborenen Menschen stellte mithilfe des EEG erheblich stärkere Antworten der Sehrinde auf Reize im äußeren Gesichtsfeld fest, also eine Form von intramodaler Plastizität. Und kreuzmodale Plastizität wurde z.B. bei tauben Katzen gezeigt, die übernormal gute Sehfähigkeiten ausbilden und dafür verschiedene Anteile der arbeitslosen Hörrinde benutzen.
Veränderungen innerhalb von Minuten
Gleichartige kompensatorische Prozesse haben Kollegen um die Doktoranden Manuel Teichert und Marcel Isstas im Institut für Allgemeine Zoologie und Tierphysiologie in Jena, wo auch ich arbeite, jüngst in Mäusen demonstriert. Und zwar - was die Sache noch faszinierender macht - nicht bei Tieren, die langfristig eines Sinnes beraubt waren. Sondern innerhalb weniger Tage. Ja, die ersten Veränderungen geschehen schon nach Minuten.
Allerdings sind Mäuse keine Menschen. Wir forschen zwar vornehmlich am Sehsystem, aber tatsächlich können Mäuse auf ihre Augen ganz gut verzichten. Ihr räumliches Auflösungsvermögen beträgt ungefähr ein Hundertstel des unseren. Würde man den Horizont in mehr als etwa 200 schwarz-weiße Streifen unterteilen, wäre das für eine Maus ein gleichförmiges Grau. Daher kommt das Sehen in der Hierarche der Sinne bei der Maus ganz unten. Wenn man sie blind macht, ändert sich für das Hören und Fühlen schlicht: nichts.
Hören hingegen können Mäuse bis in den Ultraschallbereich hinein, wo sie auch bevorzugt kommunizieren, und mit ihren Schnurrhaaren (Vibrissen) tasten sie aktiv und präzise die nähere Umgebung ab. Der Verlust eines dieser Sinne stellt Mäuse also vor echte Herausforderungen.
Das zeigt sich in Gehirn und Verhalten. Und zwar sehr schnell und auch im reiferen Alter. Viele Arbeiten zu den Anpassungen an den Verlust eines Sinnes widmen sich Individuen, die schon taub oder blind geboren sind oder kurz danach ertaubt oder erblindet sind. In solchen Fällen hat sich das Gehirn während der Reifung auf die neue Situation eingestellt.
In den Studien von Manuel Teichert und Kollegen dagegen wurden erwachsene Mäuse taub gemacht. Innerhalb von Minuten stieg daraufhin die Aktivität in der Sehrinde an, und wenn die Kollegen physiologisch die Sehschärfe der Tiere maßen, verbesserte sich diese merklich um über zehn Prozent. Es war dazu noch nicht einmal nötig, das Gehör der Tiere zu schädigen: Schon eine Art Ohropax hatte denselben Effekt. Mäuse brauchen Ruhe, um besser zu sehen.
Wie kann sich eine scheinbar so grundlegende Fähigkeit wie die Sehschärfe so schnell ändern? Die Lösung liegt in den bereits erwähnten Verbindungen zwischen den Sinnesrinden. Die Nervenbahn von der Hör- in die Sehrinde endet bevorzugt auf hemmenden Neuronen. Wenn nun die Hörrinde nicht mehr angeregt wird, hemmt sie auch die Sehrinde weniger stark. So fährt diese in Minutenschnelle ihre Aktivität hoch und verbessert die Verarbeitung.
Diesen Soforteffekt baut das Gehirn dann längerfristig aus. In einer weiteren, gerade veröffentlichten Studie, an der ich auch beteiligt war, haben wir untersucht, was über eine Woche nach Verlust eines Hauptsinnes mit dem Sehen geschieht. In dem Fall schnitten wir den Tieren die Schnurrhaare ab und rasierten täglich nach. Der längere Zeitrahmen erlaubte es, die Sehschärfe auch verhaltensbasiert zu messen, also in einem Test, bei welchem die Tiere Streifen von Grau unterscheiden mussten. Das konnten sie innerhalb weniger Tage nach Verlust der Schnurrhaare um etwa 40% besser als zuvor.
Schon leises Rauschen verschlechtert die Sehleistung merkbar
Lässt sich das nun wieder auf den Menschen rückübertragen? Möglicherweise ja, zumindest teilweise. Japanische Forscher setzten ihre Probanden kürzlich vor eine Art Sehtest und ermittelten die Anzahl korrekter Antworten bei Stille im Vergleich zu weißem Rauschen unterschiedlicher (aber stets milder) Lautstärke (45 bis 65dB). Schon das leise Rauschen genügte, um die Leistung messbar um etwa zehn Prozent zu verschlechtern.
Und Kollegen aus der Jenenser Klinik für Neurologie unter Otto Witte zeigten kürzlich, dass die Fähigkeit, mit den Fingerspitzen Unterschiede zu erfühlen, sofort besser wird, wenn wir die Augen schließen. Und zwar unabhängig davon, ob es hell oder dunkel ist. Das heißt: Selbst im Dunkeln, wenn wir ohnehin schon nichts sehen, verbessern wir unseren Tastsinn noch, indem wir die Augen zumachen. Mit gleichzeitiger funktioneller Magnetresonanztomographie bestätigte die Arbeitsgruppe zudem, dass beim Liderschließen der Einfluss der Sehrinde auf die Fühlrinde sinkt.
Bezüglich des Hörens kennen wir das aus alltäglicher Erfahrung und nutzen es regelmäßig: wenn wir die Augen schließen, um die Musik besser zu hören. Das ist nicht bloß affektierte Masche, und es dient, so zeigen uns die Mäuse, nicht allein der verbesserten Konzentration. Sondern wir nehmen die Musik dann tatsächlich genauer, vielleicht auch lauter, wahr. Längst, bevor das Gehirn die Melodie erkannt hat, nämlich schon bei der ersten Verarbeitung der Töne, hat das Sehen das Hören gestört, solange die Augen offen sind.