Militärmanöver in Europa: "Das Bewusstsein der Bevölkerungen ist der Schlüssel"
(Bild: Michele Ursi/Shutterstock.com)
Was zeigen militärische Planspiele über eine mögliche nukleare Eskalation? Und wie kann öffentliche Meinung dem entgegenwirken? Ein Telepolis-Interview.
Jährliche Militärmanöver der Nato und Russlands sowie Studien über die Folgen eines Atomkriegs auf europäischem Boden zeigen, dass eine militärische Eskalation des Ukrainekrieges für beide Konfliktparteien denkbar ist. Ein Gespräch über historische und aktuelle Militärmanöver und Planspiele, damit verbundene Gefahren sowie mögliche Auswege. Dr. Jonas Tögel ist Amerikanist und Propagadaforscher. Er kritisiert die Vorstellung, militärische Übungen würden zur Abkühlung der Gemüter beitragen. Und fordert eine stärkere öffentliche Debatte.
▶ Im Januar dieses Jahres erscheint Ihr neues Buch "Kriegsspiele: Wie Nato und Pentagon die Zerstörung Europas simulieren" im Westend-Verlag. Herr Tögel, was hat Sie dazu bewegt?
Jonas Tögel: Ich habe das Buch aus zwei Gründen geschrieben: Einerseits möchte ich meiner Verantwortung als Wissenschaftler nachkommen und andererseits spüre ich natürlich auch eine persönliche Betroffenheit angesichts der Inhalte der militärischen Planspiele, die ich im Buch aufzeige.
Als Wissenschaftler ist es mir ein Anliegen, grundlegende Zusammenhänge zu verstehen. Hier beschäftige ich mich als Propagandaforscher ausführlich mit sogenannten Soft-Power-Techniken und der Frage, wie es möglich ist, uns zu täuschen.
Man kann das bildlich gesprochen mit einem Vorhang aus Verwirrung und Täuschung verdeutlichen, der vor unsere Augen gezogen wird. Wie diese Techniken funktionieren und wie man sie neutralisieren kann, habe ich ausführlich in meinem ersten Buch "Kognitive Kriegsführung" erläutert.
Als Amerikanist möchte ich herausfinden, was man erkennen kann, wenn man den Vorhang der Verwirrung lüftet und auf aktuelle Entwicklungen blickt, die durch fortwährende Ablenkung oft unserem Blick entzogen werden.
Dabei stechen meiner Ansicht nach die Inhalte aktueller militärischer Planspiele als besonders wichtig hervor, die durch den Ukraine-Krieg nochmals eine besondere Brisanz erhalten. Ihnen widmet sich mein neues Buch "Kriegsspiele", das sowohl historische als auch aktuelle Militärmanöver in den Blick nimmt und ihre geostrategischen Hintergründe sowie die Gefahr, die von ihnen ausgeht, aufzeigt.
▶ Sie untersuchen aktuelle Kriegsszenarien wie "Steadfast Defender" aus dem Jahre 2024. Was wird in diesen Manövern erprobt und gegen wen sind sie de facto gerichtet?
Jonas Tögel: Die Nato-Übung "Standhafter Verteidiger" fand vom 22. Januar bis 31. Mai 2024 in Europa statt und war mit insgesamt ca. 90.000 Soldatinnen und Soldaten und vielen Hunderten Panzern und Kampfjets die größte Nato-Übung seit dem Ende des Kalten Krieges.
Wie bereits im "alten" Kalten Krieg geht es auch heute, im "neuen" Kalten Krieg in Steadfast Defender, um einen Konflikt zwischen der Nato sowie mutmaßlich Russland – auch wenn Russland selbst nicht explizit in der Übung genannt wird.
Simuliert wird dabei ein fiktiver Angriff "durch einen nahe gelegenen Gegner" auf ein Nato-Land und das Auslösen des Nato-Artikels fünf der sogenannten "kollektiven Verteidigung". Da es sich bei dem fiktiven Gegner der Übung aller Wahrscheinlichkeit nach um Russland handelt, wird in der Übung der militärische Konflikt zwischen der Nato und Russland geprobt.
Eine solche Konfrontation käme, zugespitzt formuliert, einem Dritten Weltkrieg gleich. Wie eine Vielzahl an historischen Planspielen zeigen, würde ein solcher Konflikt jedoch mit großer Wahrscheinlichkeit zu einer nuklearen oder konventionellen Vernichtung Deutschlands und weiterer Länder Europas führen – ein fast unvorstellbares, jedoch leider gut dokumentiertes Ergebnis militärischer Planspiele.
▶ Ausführlich skizzieren Sie militärische Planspiele im Kalten Krieg. Das Nato-Manöver "Able Archer" im Jahre 1983 führte beinahe zu einem Nuklearkrieg, da die Sowjetunion es kaum von einem realen Erstschlag unterscheiden konnte. Was ziehen Sie aus der Betrachtung dieser historischen Pläne? Inwieweit halten Sie einen erneuten "Able-Archer-Moment" für möglich?
Jonas Tögel: Das Jahr 1983 gilt nicht zuletzt wegen der Nato-Übung "Able Archer" als eines der gefährlichsten Jahre im Kalten Krieg. Die Gründe liegen in den durch die Übung ausgelösten, russischen Ängsten vor einem möglichen atomaren Erstschlag der Nato.
Auch bei aktuellen Planspielen gibt es immer die Gefahr einer möglichen Eskalation, zumal wichtige Schutzbalken gegen eine atomare Eskalation, wie der ABM-Vertrag von 1972 oder der INF-Vertrag von 1987 heute von den USA oder beiderseitig aufgekündigt wurden.
Im Zuge der weiter oben angesprochenen Steadfast-Defender-Übung hielt Russland ebenfalls militärische Übungen ab und das russische Außenministerium wies auf die gefährliche Dynamik hin, die sich aus dieser von beiden Seiten vorangetriebenen Eskalation entwickelt: "Sie führen die Situation bewusst in Richtung einer weiteren Eskalation der Ukraine-Krise hin zu einer offenen militärischen Auseinandersetzung zwischen den Nato-Ländern und Russland", so der Vorwurf an die Nato-Staaten.
Durch die eigenen, militärischen Übungen wolle man "die Hitzköpfe in den westlichen Hauptstädten abkühlen", so Russlands Kalkül, das jedoch im Widerspruch zu den Erfahrungen der Vergangenheit steht.
So lehren die Erfahrungen beispielsweise aus Able Archer 1983, dass solche Kriegsspiele immer die Gefahr einer Eskalation bergen. Sollten die Übungsinhalte von Steadfast Defender oder ihres russischen Gegenparts tatsächlich Realität werden, wären die Folgen für die Zivilbevölkerung so dramatisch, dass es unbedingt nötig ist, die Risiken in den öffentlichen Debattenraum zu tragen.
▶ Vor dem Hintergrund militärischer Aufrüstung – verbunden auch mit einer kognitiven Kriegsführung – konstatieren Sie eine Eskalationsgefahr laufender Kriege, wie des Ukraine-Krieges. Worin sehen Sie mögliche Auswege aus dieser Situation?
Jonas Tögel: Man kann über die zerstörerischen Inhalte militärischer Planspiele der Nato, des Warschauer Paktes oder des Pentagon viel aus der Vergangenheit lernen. Ebenso viel kann jedoch auch über den größten und wichtigsten Schutzbalken gegen eine mögliche, militärische Eskalation lernen: die öffentliche Meinung.
Sie steht nicht nur heute im Zentrum der hochmodernen, psychologischen beziehungsweise "Kognitiven Kriegsführung", sie war auch über viele Jahrzehnte hinweg das mächtigste Mittel, um den Einsatz von Atomwaffen zu verhindern.
Im Hinblick auf die militärischen Planspiele ergibt sich somit eine paradoxe Situation: Einerseits kann uns das Wissen im ihre Inhalte bedrücken und dazu führen, dass wir uns nicht gerne mit ihnen beschäftigen.
Andererseits führt die Verbreitung des Wissens über die simulierte Zerstörung Europas und Atomwaffenabwürfe beispielsweise in Deutschland, Italien oder Österreich dazu, dass der Widerstand der Bevölkerung wächst und die Eskalationsgefahr dadurch abnimmt.
Das Bewusstsein der Bevölkerungen aller an einem Krieg beteiligten Nationen ist somit der Schlüssel, um diesen zu beenden.
Bereits 1958 bemerkte der Arzt, Theologe und Friedensnobelpreisträger Albert Schweitzer in diesem Zusammenhang:
"Die Regierungen können durch solche, die anderer Meinung sind, abgelöst werden. Die Völker sind das Bleibende. Ihr Wille ist das Entscheidende. In unserer Zeit müssen wir uns also darüber im klaren sein, daß, wenn keine öffentliche Meinung der Völker für die Abschaffung der Atomwaffen vorhanden ist, diese nicht durchgeführt werden kann. […] Die Völker als solche müssen gegen die Atomwaffen sein, wenn es gelingen soll, diese loszuwerden."
Benjamin Roth sprach mit Jonas Tögel. Jonas Tögel ist Amerikanist und Propagandaforscher. Derzeit arbeitet er als Mitarbeiter am Institut für Psychologie der Universität Regensburg. Sein Buch "Kriegsspiele" erschien am 13. Januar im Westend-Verlag. Sein Buch "Kognitive Kriegsführung" erschien am 10. Juli 2023 im Westend-Verlag. Die Zitate stammen aus: Jonas Tögel (2024): Kriegsspiele. Wie NATO und Pentagon die Zerstörung Europas simulieren, auf den Seiten 72, 74, 83 und 92.