"… wenn Putin keine Grenzen gesetzt werden"
Offener Brief kritisiert SPD-Politik zu Russland und Ukraine. Autoren fordern harten Kurs gegen Moskau. Hier das Schreiben im Wortlaut.
Telepolis dokumentiert den offenen Brief von sozialdemokratischen Wissenschaftlern, die die Russland-Politik der aktuellen Parteispitze kritisieren. Der Brief wurde am 20. März 2024 verfasst und über Medien lanciert.
Liebe Mitglieder des Parteivorstands,
als Genoss*innen und als Wissenschaftler*innen beobachten wir mit wachsender Sorge die Positionierung der SPD zum russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Olaf Scholz hatte erklärt, die Ukraine dürfe den Krieg nicht verlieren und von einer "Zeitenwende" gesprochen.
Seine jüngsten Äußerungen und auch die der Parteiführung lassen jedoch die nötige Klarheit und unzweideutige Solidarität vermissen, die daraus eigentlich folgen müsste.
Da es hier um eine zentrale sicherheitspolitische Frage geht, nämlich um den Umgang mit einem neoimperialen Russland, die für die Zukunft, Deutschlands und Europas und damit auch für die SPD in den nächsten Jahren und Jahrzehnten von zentraler Bedeutung sein wird, appellieren wir an den Parteivorstand, die notwendige Positionsklärung vorzunehmen und eindeutig in der Öffentlichkeit aufzutreten. Dabei geht es uns insbesondere um folgende drei Punkte:
Erstens: Die Kommunikation des Kanzlers, der Partei- und der Fraktionsspitzen in Fragen von Waffenlieferungen wird in der Öffentlichkeit zu Recht scharf kritisiert. Argumente und Begründungen sind immer wieder willkürlich, erratisch und nicht selten faktisch falsch. Zudem ist die Abstimmung mit den Verbündeten unzureichend.
Dies sollte klar sein: Putin wird jegliche Uneinigkeit nur als Ermunterung verstehen. Er wird überdies nur dann überhaupt zu ernsthaften Verhandlungen bereit sein, wenn ihm unzweideutig vermittelt wird, dass der Westen seine erheblich größeren Ressourcen so lange wie nötig einsetzen wird, um eine Niederlage der Ukraine zu verhindern.
Dabei ist es nicht hilfreich, öffentlich und noch dazu unabgestimmt zu erklären, was Deutschland auf keinen Fall zur Unterstützung der Ukraine tun werde.
Wenn Kanzler und Parteispitze rote Linien nicht etwa für Russland, sondern ausschließlich für die deutsche Politik ziehen, schwächen sie die deutsche Sicherheitspolitik nachhaltig und spielen Russland in die Hände.
Als besonders fatal empfinden wir die Äußerungen des Fraktionsvorsitzenden Rolf Mützenich, der von einem "Einfrieren" des Ukrainekrieges gesprochen hat, was faktisch eine Beendigung zugunsten des Angreifers bedeuten würde.
Die unter dem Schlagwort "Friedenspartei" verfolgte Politik einiger Genossen operiert zudem mit einem kurzsichtigen Friedensbegriff, der sowohl die Erfahrungen mit den Minsker Verträgen als auch das Geschehen in den russisch besetzten Gebieten der Ukraine und nicht zuletzt die Drohungen Russlands, weitere europäische Länder anzugreifen, ignoriert.
Die Vorstellung, Risiken würden allein durch Zurückhaltung minimiert, ignoriert die Eskalationsgefahr, die entsteht, wenn Putin keine Grenzen gesetzt werden.
Zweitens: Innerhalb der SPD fehlt eine ehrliche Aufarbeitung der Fehler in der Russlandpolitik der letzten Jahrzehnte.
Weder die Verstrickungen verschiedener Genoss*innen mit Interessenvertretern Russlands noch die fehlgeleitete Energiepolitik, die Deutschland in eine fatale Abhängigkeit von Moskau geführt haben, wurden bisher ernsthaft problematisiert. Vielmehr wird die Tradition der Bahrschen (sic!) Außenpolitik nach wie vor unkritisch und romantisierend als Markenzeichen der SPD hochgehalten.
Auf diese Weise macht sich die Partei unglaubwürdig und angreifbar. Vor allem aber wird so nicht nur ein falsches Bild von russischer Politik und russischen Interessen gezeichnet, sondern auch eine gefährliche, weil irrige Basis auch für die künftige Außenpolitik geschaffen.
Drittens: Besonders problematisch ist aus unserer Perspektive schließlich der Umgang mit den Aussagen von Expert*innen.
Sowohl Expert*innen für Sicherheitspolitik als auch Wissenschaftler*innen mit dem Regionalschwerpunkt Osteuropa und Spezialist*innen für Völkerrecht bieten seit Kriegsbeginn 2014 und verstärkt seit dem Beginn der Vollinvasion 2022 umfassende Analysen an.
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Der Bundeskanzler und viele SPD-Spitzenpolitiker ignorieren aber diese wertvollen Wissensressourcen, anstatt diese für ihre Entscheidungsfindung zu nutzen. Oftmals stehen Behauptungen aus Kanzleramt und SPD den Expert*innenaussagen sogar diametral entgegen, so beispielsweise in Bezug auf die technischen Eigenschaften von Waffensystemen.
Besonders erschreckend ist, dass inzwischen sogar ausgesprochen wissenschaftsfeindliche Aussagen und abwertende Äußerungen zu Expert*innen zu hören sind.
Die SPD macht sich so unglaubwürdig und bereitet einer gefährlichen Desinformationskultur den Boden.
Eine echte Zeitenwende würde vor allem eines erfordern: Das Verständnis dafür, dass Russland bereits seit Jahren einen hybriden Krieg gegen Europa führt und seit Beginn der Vollinvasion den Plan verfolgt, die Ukraine vollständig zu zerstören. Vor allem aber müssen wir begreifen, dass Putin nur dann ein Interesse daran hat, diesen Krieg zu beenden, wenn ihm die notwendige Stärke entgegengesetzt wird.
Diese Erkenntnis scheint sich in der SPD nach wie vor nicht durchgesetzt zu haben. Wir halten diese Realitätsverweigerung für hochgefährlich und appellieren an Euch, endlich eine klare Strategie für einen Sieg der Ukraine zu benennen, verbunden mit der ebenso klaren Aussage, dass es nicht darum geht, Russland anzugreifen und zu schädigen, sondern die 1991 auch von Russland anerkannte Unabhängigkeit der Ukraine wiederherzustellen. Prof. Dr. Jan C. Behrends, Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder) Prof. Dr. Gabriele Lingelbach, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel Prof. Dr. Dirk Schumann, Georg-August-Universität Göttingen Prof. Dr. Heinrich August Winkler, Humboldt-Universität zu Berlin Prof. Dr. Martina Winkler, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel