Tokyo: Stadt als Terminal und Terminal als Stadt

Seite 3: Virtuelle Stadt

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Anfang der 80er Jahre ging Tokyo online. Behutsam zunächst, da die stark regulierte Telekommunikationslandschaft die Initiativen für BBS oder akademische Internetze nach Kräften behinderte, aber doch unaufhaltsam, spätestens seit dem Gore-Schock 1993, der Japan erkennen ließ, daß es im neuen Schlüsselmarkt wieder nicht Nummer Eins ist. Die globale Datenkommunikation, bis dahin Wissenschaftlern und Konzernen vorbehalten, wird jetzt den Einzelnen zugänglich.

Der Medienhorizont öffnet sich. In der Turing Galaxis kann man nicht nur hören und sehen, sondern auch handeln. Alte Medien verbinden den Ort, den der physische Körper einnimmt, mit realen oder fiktiven entfernten Räumen. Die Matrix erlaubt zum ersten Mal die Begegnung an einem "dritten Ort" - weder hier noch dort -, der aber dennoch als Raum der gemeinsamen Anwesenheit erfahren wird.

Technisch gesehen haben wir als Bewohner dieser Welt zwar eine Adresse, diese aber hat keinen Ort. Die Kommunikation existiert in der Augenblicklichkeit, d.h. in der Zeit, nicht im Raum. In der Matrix existieren nur Zeichen, die im Kopf expandiert werden müssen. Gerade deshalb taucht das Bedürfnis nach einer Stadtmetapher auf. Baudrillard hatte ähnliches als eine Strategie des Realen bezeichnet, sein Verschwinden zu verbergen.

Tokyos erste Stadtentwicklung, die ganz ohne materiale Architektur auskommt, war \. Eine operierende Stadt reduziert auf ihre kommunikativen Prozesse. Eine Metropole, in der nichts ist, was nicht digital ist. Habitat, das auf Fujitsu's NiftyServe läuft, ist ein Spiel- und Kommunikationsraum. Avatare begegnen einander in Zimmern, treiben Handel, bestehlen und heiraten sich. Das Spiel mit Identitäts- und Geschlechtswechsel hat besondere Reize. Vorwiegend wird allerdings schriftlich geredet. Die grafische Repräsentation erlaubt auch in der gerade erschienenen Habitat II-Version keine komplexeren non-verbalen Ausdrucksformen. Beim Chatten ist die Grafik nicht mehr als Zierrat.

Virtueller Grund- und Boden - also: Speicherplatz und Bandbreite - wird immer billiger. Enstprechend sprießen neue Cyber Cities. Future Pirates hat mit Franky Online einen neuen Stadtstaat ins globale Internet gehängt. Franky öffnete seine Tore Mitte Juli 1995 und hatte Ende August bereits 13.000 Abonnenten. Piraten-Chef Takashiro Tsuyoshi ist bekannt für seine Videospiele und Animationen. Entsprechend sieht die CD-ROM-basierte Benutzeroberfläche aus: Internet, der Comic. Zu den Örtlichkeiten gehören Buch- und Spielzeuggeschäfte, eine MIDI-Radiostation, ein Quicktime-Fernsehsender und ein Zeitungsstand mit zehn täglich aktualisierten Zeitschriften, ein Wahrsager, eine Boxhalle, eine Galerie und demnächst ein Kasino. Der originellste Dienst: Franky-Bürger können Nachrichten an Delphine verschicken, die auf Hawaii über einen Unterwasserlautsprecher abgespielt werden, sowie an mögliche Außerirdische, denen die Nachricht per Radioteleskop ins All zugleitet wird.

Noch ist es eine menschenleere Stadt. Außer dem animierten Personal in den Läden begegnet man dort niemandem. Avatare, die Takashiro "Netizens" nennen will, sind in Arbeit. Nicht geplant sind Implementationen der politischen Funktionen der Stadt. Bürgermeisterwahlen, Demokratiemodule oder ähnliches seien langweilig. Stattdessen denkt Takashiro an Wettbewerbe mit Preisen, z.B. für die besten Web-Seiten der Frankiyaner.

Franky Online ist ein Beispiel dafür, wie der verhältnismäßig einfachen Funktionalität eines Bestellprogramms ein Comic-Gesicht übergestülpt wird, um es "niedlicher" zu machen, eine Anthropomorphisierung der urbanen Funktion Shopping.