Tokyo: Stadt als Terminal und Terminal als Stadt

Seite 5: Schluß

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Zum Schluß möchte ich einige Punkte ansprechen, die mir für die beiden Seiten von Stadt und Cyberspace wichtig erscheinen.

1. Die Forderung nach Zugang für alle. In keiner Stadt der Welt muß man Eintritt bezahlen. Die kommerziellen Funktionen liefern die Steuern für den Straßenbau und die Straßenreinigung, aber Window-Shopping und öffentliche Plätze sind frei. Ein ähnliches Model ist auch für die Matrix denkbar. Zugang ist die Möglichkeitsbedingung für alles weitere. Damit die digitale Stadt nicht eine der Privilegierten wird, muß Netzwerken ähnlich wie Strom, Wasser und Gas eine Grundversorgungsleistung werden. Und technisch ist es billiger als die anderen drei. So billig, daß es den Aufwand nicht rechtfertigt, dafür Gebühren einzutreiben. Marktführer wie Intel-Chef Andrew Grove sprechen davon, daß das bevorstehende Zeitalter der fast kostenlosen Bandkapazität den Computer befreien wird, seine wahren Fähigkeiten zu entfalten [nach Gilder 210]. Die einzigen, die uns weismachen wollen, daß Telekommunikation teurer werden muß, sind die ehemaligen staatlichen Monopolunternehmen.

2. Medien bieten Werkzeuge für die Beteiligung an der realen Stadtplanung. Ein Grund für die Misere der japanischen Stadtplanung ist, daß es für Bürger kaum Einspruchs-, geschweige denn Mitbestimmungsverfahren gibt. Medientechnologie würde es gerade erlauben, Expertenkompetenzen allen zugänglich zu machen und Bürger zu einer aktiven Beteiligung zu ermächtigen. An Simulationen können Wenn-dann-Modelle durchgespielt werden. 3D-Visualisierungen können die Verständnisbarrieren von Karten und Plänen senken. Workshops, Lokalfernsehen und Datenkommunikation könnten für einen kontinuierlichen Dialog eingesetzt werden. Werkzeuge dafür existieren und werden in den USA auch bereits erfolgreich verwendet. Auch die Werkzeuge aus der Computer Aided Collaboration ließen sich für ein Cyber-Äquivalent von Stadtteilgruppen oder Bürgerinitiativen nutzbar machen. Woran es Japan fehlt, ist nicht die Hardware, sondern die Bereitschaft, staatlichen Paternalismus und Obrigkeitsdenken abzubauen. Noch wird "Öffentlichkeit" im konfuzianischen Asien gleichgesetzt mit dem Staat.

3. Dezentralisierung wird für den Moloch Tokyo, in dem mit 30 Millionen Menschen fast ein Viertel der Bevölkerung Japans lebt, von allen Beteiligten seit langem angestrebt. Bislang ohne Erfolg. Es ist noch zu früh, um sagen zu können, ob die digitale Vernetzung Japans dazu beitragen wird. Für die Regionen wird es sicher einfacher, Information zu erhalten und unter Umgehung des Nadelöhrs Tokyo direkt international anzubieten. Doch die Machtkonzentration in Tokyo beruht nicht allein auf Informationen.

4. Sobald potentiell jeder Zugang hat und beteiligt ist, können wir uns an die gemeinsame Planung von virtuellen Städte machen, die mehr sind als eine Sammlung von Cyber-Malls und Disneylands. Für die gebaute Stadt gibt es Erfahrungen, was sie angenehm und lebenswert macht: ein bestimmtes Verhältnis von bebauten und Freiflächen, ein gewisses Maß an Vereinheitlichung und Variation, Grün, Verkehrsleitung, Mischungen in der sozialen Zusammensetzung und Nutzung. Vergleichbare Kriterien für eine virtuelle Stadtökologie stehen noch aus. Da es noch keine Experten dafür gibt, sind wir alle gleichermaßen gefragt. Es gilt also vor allem, zunächst ein Umfeld bereitszustellen, das Prozesse der Selbstorganisation fördert.

5. Auflösung des Widerspruchs zwischen Globalität und Urbanität. Globalisierung, nicht nur der Geldbewegungen und Elitekulturen, die Sassen beschreibt. Sie wirft politische und rechtliche Fragen auf. Das Verhältnis der Nationalstaaten zur UNO oder anderen möglichen meta-staatlichen Gremien muß neu ausgehandelt werden. Globalität gibt es jetzt aber auch auf Bürgerebene. Die jüngste digitale Protestflut gegen Frankreichs Atomtests ist ein Bespiel.

Eine vielfältige, multidimensionale Urbanität im Netz gibt es bis heute erst dort, wo unter der virtuellen eine reale Stadt liegt, z.B. The Well in San Francisco oder die Digitale Stadt in Amsterdam. Die Herausforderung wird es sein, den offenkundigen Widerspruch zwischen Globalität und Urbanität aufzulösen und Städte zu schaffen, die nur im Über-All existieren können, wie Ingo Günthers Projekt einer .

6. Ermächtigung von Individuen und kleinen Gruppen, von Konsumenten gegenüber den Produzenten, von einzelnen gegenüber Großstrukturen. Hier öffnet sich der Freiraum für die "Projektion von zwischenmenschlichen Projekten" (Vilém Flusser). Letztlich geht es um unsere persönliche Stadt in der Matrix, die wir mit unseren Freunden, Arbeitskollegen, Verwandten, Lovern, eben unserer persönlichen Untermenge der Weltbevölkerung zusammen bewohnen.

Der Weg in die Virtualität ist unausweichlich. Was jetzt von Nöten ist, ist eine neue Balance zwischen Tele und Präsenz, zwischen Stadt, Land und Globus, zwischen Hier und Über-All.

Literatur:

Magnusson, Warren, Social Movements and the Global City, in: Millenium. Journal of International Studies, vol.23, no.3, 1994

Michael Wegener, Stadtplanung in Tokyo aus Europäischer Sicht, Tokyo 1989

Sassen, Saskia, The Global City: New York, London, Tokyo, Princeton University Press, 1991

Hidenobu Jinnai, Tokyo. A Spatial Anthropology, California University Press, 1995

Boigon, Brian, Speedreading Tokyo, Tokyo 1990

Japan Almanach 1995, Asahi Shimbun

Neal Stephenson, Snow Crash, Bantam, N.Y. 1992

George Gilder, Life after Television, W.W.Norton, N.Y. 1994