NATO-Kriterien: Versteckte Rüstungsausgaben

Für die Bundesregierung ist es überaus attraktiv, immer mehr Posten in andere Haushalte zu verschieben, sie aber bei der NATO dennoch anzumelden

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Stolz verkündete die Bundesregierung pünktlich kurz vor den Feierlichkeiten zum 70-jährigen Nato-Jubiläum, für das kommende Jahr seien dem Bündnis erstmals Militärausgaben von über 50 Milliarden Euro gemeldet worden. Der offizielle Haushalt soll laut Kabinettsbeschluss im Jahr 2020 allerdings "nur" 44,9 Milliarden Euro umfassen.

Die Ursache für diese Lücke sind Umfrageergebnisse wie etwa vom Deutschlandtrend im April 2019: Sie zeigen ein ums andere Mal, dass sich eine Mehrheit der Bevölkerung - in diesem Fall von 53 Prozent - gegen eine vor allem von den USA massiv eingeforderten Erhöhung der Militärausgaben auf 2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) ausspricht.

Insofern ist es für die Bundesregierung überaus attraktiv, immer mehr Posten in andere Haushalte zu verschieben, sie aber bei der NATO dennoch anzumelden. Das hilft, den offiziellen Haushalt mit Blick auf die skeptische Bevölkerung halbwegs niedrig zu halten und trotzdem bei den NATO-Kollegen auf Schönwetter machen zu können.

Konsequenterweise geht die Schere zwischen offiziellem BMVg-Haushalt und den der NATO übermittelten Zahlen seit Jahren immer weiter auseinander. Lagen die NATO-Zahlen im Jahr 2014 "nur" rund 2,3 Milliarden Euro über dem, was der Bevölkerung weisgemacht wurde, werden es im kommenden Jahr schon 5,5 Millliarden Euro sein.

Und diese Kluft wird in den kommenden Jahren mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit noch weiter zunehmen - so ist etwa geplant, die als NATO-relevant eingestuften milliardenschweren deutschen Beiträge für die kommenden neuen EU-Rüstungstöpfe dem Einzelplan 60 (Allgemeine Finanzverwaltung) zu entnehmen. Doch auch damit könnte das Ende der Fahnenstange noch nicht erreicht sein, an darüber hinausreichenden Vorschlägen herrscht kein Mangel.

Zuletzt meldete sich Ende letzter Woche der ehemalige Kommandierende der US-Landstreitkräfte in Europa, Ben Hodges, zu Wort, der der Bundesregierung eine Reihe weiterer Tipps gab, wie Militärausgaben in andere Haushalte verschoben und dennoch bei der NATO gemeldet werden könnten.

Chronisch unterfinanziert?

Im Jahr 2014 rief die damalige Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen die "Agenda Rüstung" aus, mit der durch mehrere Trendwenden die militärische Schlagkraft der Bundeswehr deutlich erhöht werden sollte. Dazu gehörte auch die "Trendwende Finanzen", die geschickt das Debakel um - vor allem durch die lausig arbeitende Rüstungsindustrie verursachte - Ausrüstungsmängel mit der Forderung nach einer massiven Erhöhung der Rüstungsausgaben verband.

Seither bemühen Politik, Industrie und nicht zuletzt auch die Medien, das Bild von der "kaputtgesparten Bundeswehr", um auf massive Etaterhöhungen zu drängen: Die Bundeswehr sei "stahlgewordener Pazifismus" (Die Zeit), sie sei "Schrott" (Bild), weil sie "chronisch unterfinanziert" (Deutschlandfunk) sei, befanden diverse "Leitmedien" in der Woche unmittelbar nach Ausrufung der Agenda Rüstung.

Dabei war es schon zum damaligen Zeitpunkt keineswegs so, dass sich die Militärausgaben im Sinkflug befunden hätten - im Gegenteil: Sie stiegen zwischen dem Jahr 2000 (24,3 Mrd. Euro) und 2014 (32,4 Mrd. Euro) auch inflationsbereinigt deutlich an. Dennoch verfing die Propaganda, weshalb die Erhöhungen in den Folgejahren noch ganz andere Dimensionen annahmen. Zufrieden konnte deshalb die Bundeswehr die bisherige Entwicklung auf ihrer Homepage mit folgenden Worten bilanzieren:

Die mit dem Haushalt 2015 eingeleitete Trendwende Finanzen setzt sich auch mit dem Haushalt 2019 fort. […] In den vergangenen Jahren ist der Verteidigungshaushalt schrittweise angestiegen. 2014 betrug der Soll-Etat noch 32,4 Milliarden Euro. 2017 erhöhte er sich bereits auf rund 37 Milliarden Euro. Im Jahr 2019 liegt er nunmehr bei rund 43,2 Milliarden Euro.

Bundeswehr

Obwohl es sich hierbei um eine - inflationsbereinigte! - Erhöhung von ziemlich genau 35 Prozent seit der Jahrtausendwende handelt, scheinen die interessierten Akteure den Hals nicht voll genug zu bekommen. Abgesehen von der - vorsichtig formuliert - fragwürdigen Herangehensweise, den Material- und Finanzbedarf einer Armee in die Relation zu seiner Wirtschaftsleistung zu setzen, handelte es sich bei dem viel bemühten 2%-Ziel ohnehin nie um eine zwingend bindende Verpflichtung, sondern lediglich um eine äußerst lose Absichtserklärung, sich in die grobe Richtung dessen zu begeben.

Im Gegensatz dazu hat sich die Bundesregierung inzwischen aber relativ bindend gegenüber der NATO darauf festgelegt, im Jahr 2024 satte 1,5 Prozent des BIP bei der NATO zu melden. Da passt es doch perfekt, dass das Verteidigungsministerium seinen Finanzbedarf exakt auf diesen Betrag beziffert hat und in einem Papier der Bundeswehr-Universität München ausrechnen ließ, dass dies 2024 einer Summe von 58 Mrd. Euro entsprechen würde.

Die darüber hinausgehenden Vorstellungen präsentierte Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer in ihrer Münchner Grundsatzrede Anfang November, als sie sich hinter die Forderung schmiss, den Militärhaushalt perspektivisch noch weiter auf geschätzte 75 Mrd. Euro aufzuplustern:

Ja, wir haben in den letzten Jahren enorm aufgeholt. Und wir haben für das nächste Jahr zum ersten Mal, bei der Summe, die wir an die NATO melden, die Schallmauer von 50 Milliarden durchbrochen. Das ist eine enorme Leistung. Aber das reicht noch nicht aus, denn wir brauchen die Steigerung auf 1,5% des BIP bis 2024 und 2% bis spätestens 2031.

Annegret Kramp-Karrenbauer

Dies würde allerdings einen nochmaligen - politisch nur schwer verkaufbaren - drastischen Anstieg des offiziellen Haushaltes erfordern. Alternativ bietet es sich deshalb an, mehr und mehr Gelder in andere Haushalte zu verschieben und dennoch bei der NATO anzumelden.

NATO-Kriterien unter Verschluss

Auf eine Anfrage der Linksfraktion räumte die Bundesregierung in ihrer Antwort Ende August 2019 zunächst einmal ein, dass diverse militärische Ausgabenposten auf andere Haushalte verteilt sind:

Wenn von Verteidigungsausgaben die Rede ist, ist stets der entsprechende Betrachtungsrahmen zu beachten. Aus Sicht des Bundeshaushalts zählen hierzu im Wesentlichen die Ausgaben des Einzelplans 14. Der Begriff der Verteidigungsausgaben nach NATO-Kriterien ist weiter definiert. Er enthält neben den Ausgaben des Einzelplans 14 auch Ausgaben aus anderen Einzelplänen.

Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der Linksfraktion

Ein Blick in die NATO-Angaben zur Anrechenbarkeit von Ausgaben zeigt, dass zu den in Deutschland nicht dem Verteidigungsetat zugerechneten Posten unter anderem Dinge gehören wie die Ausgaben für UN-Einsätze (Einzelplan 5: Auswärtiges Amt) oder für die "Ertüchtigung" (Einzelplan 60: Allgemeine Finanzverwaltung), also für die Ausbildung und Aufrüstung "befreundeter" Akteure.

Gleichzeitig legte die Bundesregierung in ihrer Antwort aber keinerlei Bereitschaft an den Tag, für Transparenz zu sorgen, um welche konkreten Beträge es sich hier in welchen Haushalten handelt:

Aufgrund der sich daraus ergebenden verteidigungspolitischen Sensibilität dieser detailscharfen Daten ist die detaillierte Gesamtübersicht der Ausgaben außerhalb des Einzelplans 14, die als Verteidigungsausgaben angerechnet werden, "VS-vertraulich" eingestuft und wird als Anlage gesondert hinterlegt. […] Die Antwort ist in der Geheimschutzstelle des Deutschen Bundestages hinterlegt und kann dort nach Maßgabe der Geheimschutzordnung eingesehen werden.

Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der Linksfraktion

Das bedeutet, dass die diesbezüglichen Informationen von Bundestagsabgeordneten zwar eingesehen werden dürfen, es ist ihnen aber verboten, sich dabei Notizen zu machen oder später öffentlich darüber zu berichten.