Türkei: Anschläge im Ausland im Auftrag des Staates

Österreich, Deutschland, Balkan: Vieles deutet auf ein dichtes türkisches Spitzel-Netzwerk im Ausland hin

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In Österreich hat sich ein ehemaliger Mitarbeiter des türkischen Geheimdienstes MIT beim Landesamt für Verfassungsschutz in Wien gestellt. Er berichtete von geplanten Anschlägen auf mehrere Personen der Grünen und der SPÖ, darunter auch auf den ehemaligen Nationalratsabgeordneten Peter Pilz. Sollte sich die von der Süddeutschen Zeitung veröffentlichte Agenten-Story bewahrheiten, könnte dies auch zu Untersuchungen der MIT-Aktivitäten in Deutschland führen.

Das österreichische Bundesamt für Verfassungsschutz hat sich nun des Falles angenommen. Alles deutet auf ein dichtes türkisches Spitzel-Netzwerk im Ausland hin. Im neuesten Länderbericht des Auswärtigen Amtes zur Türkei wird die Bespitzelung von Regierungsgegnern durch den MIT in Deutschland bestätigt.

Es ist wie in einem Agententhriller. Ausgangspunkt ist in Ankara die Zentrale des türkischen Geheimdienst MIT: Am 15. September geht ein türkischstämmiger Mann in Wien zielgerichtet in die Zentrale des Landesamts für Verfassungsschutz und erzählt den Beamten, er sei vom MIT beauftragt worden, Anschläge auf Berivan Aslan, die kurdisch-stämmige Wissenschaftlerin und Grünen-Kandidatin für die Wien-Wahl im Oktober, auf den ehemaligen Nationalratsabgeordneten und ehemaligen Grünen Peter Pilz sowie auf den SPÖ-Politiker Andreas Schieder zu verüben.

Aslan und Pilz hatten in der Vergangenheit mehrmals vor "Aktivitäten türkischer Spionagenetzwerke" gewarnt. Ihre Kenntnis über die Machenschaften des MIT und dessen Netzwerk aus Provokateuren und Spitzeln von Bregenz bis Wien dürfte der Hintergrund für die Anschlagspläne sein. Aslan und Pilz stehen mittlerweile unter Polizeischutz.

Feyyaz Ö., wie der Mann sich nennt, berichtete, es seien mehrere türkische Agenten in die Sache involviert. Bei den Anschlägen sei es nicht ausschlaggebend, ob bspw. Berivan Aslan getötet oder verletzt werde, es solle damit vor allem eine "Botschaft" überbracht werden. Der mittlerweile pensionierte Mann soll seit 1981 in Österreich gespitzelt haben. Die Beamten beschlagnahmten zwei italienische Handys und Datensticks. Darauf befanden sich neben Kontaktdaten und Chats anderer MIT-Agenten auch serbische Telefonnummern. Dies weist auf Balkanverbindungen des türkischen Geheimdienstes hin.

Während die türkische Botschaft die Geschichte als wenig glaubhaft abtut, gibt es durchaus Hinweise auf die Glaubwürdigkeit von Feyyaz Ö. Er gehörte nämlich zu einer Gruppe "geheimer Zeugen", die für den MIT manipulierte Aussagen in politischen Prozessen machten. Ö. sagte bspw. 2017 als Zeuge in einem Prozess gegen den türkischen Mitarbeiter der US-Botschaft in Istanbul, Metin Topuz aus. Diesem wurde die Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung und Verbindungen zur Gülen-Bewegung vorgeworfen.

US-Außenminister Michael Pompeo setzte sich für Topuz ein und bezeichnete die Vorwürfe gegen Topuz als "unbegründet", woraufhin der türkische Premier Binali Yildirim der US-Regierung zu verstehen gab, dass die Türkei sich nicht vorschreiben lasse, wen sie verhaften oder anklagen dürfe. Aufgrund der - nach eigenen Angaben erzwungenen - Falschaussage von Feyyaz Ö. wurde der Botschaftsmitarbeiter zu acht Jahren Gefängnis verurteilt.

Feyyaz Ö. begründete seinen Entschluss, sich den österreichischen Behörden zu stellen und Auskunft über die Anschlagspläne zu geben mit der Befürchtung, der MIT würde ihn fallenlassen, sobald er den Auftrag ausgeführt hat. Nach einem Bericht des österreichischen Onlinemagazins Zackzack befürchte Ö., er würde dann in der Türkei ohne Prozess in einem Gefängnis verschwinden:

"In der Türkei machen sie das so. Sie werfen dich für zwei bis drei Jahre ins Gefängnis, auch ohne Beweise."

Er wisse, dass die türkischen Behörden ihn in der Hand haben. Seine Konten seien durch die türkische Regierung gesperrt worden, seine Familie würde bedroht.

Innenminister Karl Nehammer (ÖVP) berichtete auf einer Pressekonferenz, Ö. sei ursprünglich in der Türkei inhaftiert gewesen. Um wieder frei zu kommen, hätte er sich bereit erklärt, im Dienste Ankaras in Österreich türkischstämmige Staatsangehörige zu bespitzeln. Trotz seiner Pensionierung wurde er vom MIT in Belgrad nochmals mit der Ausführung eines Anschlags beauftragt. Das gibt Rätsel auf.

Ö. arbeitete jahrelang als Verbindungsmann des türkischen Geheimdiensts zur US-amerikanischen Drug Enforcement Administration (DEA). Der Herausgeber von Zackzack, Peter Pilz, berichtete über einen Anruf des Verfassungsschutzes bei ihm:

"Bei uns hat sich ein Türke gestellt, der sagt, dass er vom türkischen Geheimdienst MIT den Auftrag hat, einen Anschlag auf eine österreichische Politikerin auszuführen. Er hat auch weitere Namen von Zielpersonen genannt. Eine davon sind Sie."

Ö. sollte auf ein Zeichen aus Innsbruck warten, bevor er zur Tat schreite. Im Hotel Wombat in Wien wartete er auf weitere Instruktionen. Bei seiner Vernehmung gab Ö. an, die Identitäten weiterer Agenten zu kennen. Wobei er in Österreich nur die kleinen Spitzel kenne, die Top-Agenten würden auf dem Balkan sitzen.

Besorgnis über den Einfluss der türkischen Regierung in Österreich

Eine der kleinen Fische scheint eine weitere im Juli in Wien verhaftete MIT-Agentin zu sein. Sie gestand, an der Organisation der Angriffe auf kurdische und linke Einrichtungen in Wien Ende Juni beteiligt gewesen zu sein. Die faschistischen "Grauen Wölfe" und türkische Nationalisten griffen Ende Juni mehrmals Protestdemonstrationen gegen das Erdogan-Regime sowie linke Projekte wie das Ernst-Kirchweger-Haus (EKH) an.

Ein direkter Zusammenhang zwischen dem Agenten Feyyaz Ö. und den Angriffen auf kurdische und linke Einrichtungen in Wien-Favorite scheint nach den zugänglichen Informationen jedoch nicht zu bestehen. Allerdings wurde eine Sonderkommission aus Vertretern des Bundesamts für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung (BVT) sowie des Landesamts für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung (LVT) und des Bundeskriminalamts (BK) eingerichtet, die beide Fälle in ihre Ermittlungen einbezieht.

Nach Informationen von Innenminister Nehammer hat die Sonderkommission Kenntnisse über weitere türkische Spitzel in Österreich. Diese hätten offenbar Fotos von Kurden, die in Österreich an pro-kurdischen Kundgebungen teilgenommen hatten, an die Behörden in der Türkei weitergegeben. 35 Personen seien daraufhin bei ihrer Einreise in die Türkei von den Behörden festgenommen, mit den Fotos erpresst und genötigt worden, für die Türkei zu spionieren.

Der österreichische Verfassungsschutz, der kurdische Kundgebungen in Wien-Favoriten beobachtete, soll dort laut Innenminister Nehammer "Dokumentationsteams" gesehen haben, die ihre Kameras ausschließlich auf die Versammlungen von Kurden und Linksaktivisten gerichtet hätten, schreibt ANF

Österreichs Integrationsministerin Susanne Raab (ÖVP) zeigte sich besorgt über den Einfluss des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan im Land. Über türkische Vereine und Moscheen werde Einfluss auf Menschen mit türkischen Wurzeln ausgeübt. Die Türkei wolle dabei die Spaltung in der österreichischen Gesellschaft vorantreiben. Dieser Einfluss sei Gift für die Integration in Österreich.

Innenminister Nehammer kündigte an, das Problem internationalisieren zu wollen. Man müsse sich in Europa gemeinsam gegen den Einfluss Ankaras wehren. Vermutlich sei man erst an der Spitze des Eisbergs angelangt.

Der Spionage-Experte Dr. Thomas Riegler nannte für Österreich ca. 200 aktive Informanten - fast so viel wie die des russischen Geheimdienstes. Er erläuterte, dass es sich bei den in Österreich festgenommenen MIT-Leuten nicht um echte Spione, sondern um Informanten handele.

"Es ist ein altes Gesetz in der Spionage, dass man Leute unter Druck zur Zusammenarbeit überredet", sagte der Experte mit Blick auf die verhaftete türkische MIT-Agentin, die anscheinend ebenso wie Feyyaz Ö. vorher in der Türkei inhaftiert war.

Plant der türkische Geheimdienst auch Anschläge in Deutschland?

Erdogan-Kritiker in Deutschland sind besorgt. Plant der MIT auch Anschläge in Deutschland? Werden sie von deutschen Behörden über mögliche Anschlagpläne informiert?

Die Skepsis scheint berechtigt, denn den deutschen Diensten, der Justiz und der Polizei scheint eins gemein zu sein: sie alle legen den Fokus ihrer Beobachtungen, Ermittlungen und Anklagen auf linke Gruppen der türkischen und kurdischen Community. Türkisch-stämmige Nationalisten und Islamisten und ihre Organisationen werden, wenn überhaupt, nur halbherzig beobachtet.

Mehmet Kilic, Rechtsanwalt und ehemaliger Bundestagsabgeordneter der Grünen weist darauf hin, dass Erdogan schon 2014 das Geheimdienstgesetz der Türkei so habe ändern lassen, dass "operative Geschäfte" im Ausland ausdrücklich erlaubt sind. "Als operative Geschäfte gelten auch Entführungen und Tötungen", sagt Kilic in der Frankfurter Rundschau. Im Juni enthüllte das ZDF-Magazin "Zoom", wie der türkische Staat in Deutschland Regierungskritiker bespitzelt.

Dem Bericht zufolge gibt es in Deutschland bis zu 8.000 MIT-Spitzel. Der Geheimdienstexperte Erich Schmidt-Eenboom spricht von einer "gigantischen Zahl", die bedeute, dass der MIT dadurch in Deutschland präsenter sei als der amerikanische Geheimdienst CIA.

Die Spitzel arbeiten in Banken, Unternehmen, als Übersetzer für die Justiz und wie wir mittlerweile auch wissen, bei der Polizei und vermutlich auch bei den deutschen Diensten. Im Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) arbeiten angeblich Spitzel als Dolmetscher und Sicherheitsleute, wie Report Mainz berichtete.

Dabei geht es nicht nur um die Weitergabe von Informationen. Auch in Deutschland geht es um Mord, Entführungen und Einschüchterungen von Regimegegnern. Hayko Bagdat, ein armenischer Journalist und Erdogan-Kritiker lebt seit vier Jahren in Berlin im Exil. Er steht unter Polizeischutz, weil im Auftrag des MIT ein Mordkommando auf ihn angesetzt ist. Die deutschen Sicherheitsbehörden bestätigten dies.

In Hamburg wurde 2017 der wegen Spionage angeklagte MIT-Spion Fatih S. zu zwei Jahren Haft auf Bewährung verurteilt. Die Richterin am Hanseatischen Oberlandesgericht sah es zwar als erwiesen an, dass der Angeklagte für den türkischen Geheimdienst MIT gearbeitet hat, wertete die Angelegenheit jedoch als "innertürkischen Konflikt, der in Deutschland ausgetragen werde".

Dass dieser Agent einen Mordauftrag an dem kurdischen Politiker Yüksel Koc hatte, wurde nicht einmal in die Verhandlung einbezogen. Für den kurdischen Politiker, der seitdem kein normales Leben mehr führen kann, aber auch keinen Polizeischutz bekommt, keine entspannende Nachricht.

Türkische Spitzel auch im Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF)

Dass die MIT-Aktivitäten in Deutschland in Zusammenhang mit einem internationalen Netzwerk zu betrachten sind, zeigen nicht zuletzt die Morde an drei kurdischen Aktivistinnen der kurdischen Arbeiterpartei PKK 2013 in Paris. In dem schon erwähnten ZDF-Beitrag im Juni dieses Jahres erzählt ein ehemaliger MIT Spitzel über eine geplante Entführung eines in der Schweiz lebenden, vermeintlichen Gülen-Mitglieds. 100.000 Franken sollen dafür geboten worden sein.

Der Politikwissenschaftler Prof. Burak Copur aus Essen hat schon öfter Morddrohungen bekommen. Nun bekam sein Vater in der Türkei einen Anruf von einem Mitarbeiter des türkischen Geheimdienstes MIT, der nach eigenen Angaben für Nordrhein-Westfalen zuständig sei.

Er sagte dem Vater, es gäbe beim MIT eine Akte über seinen Sohn, dieser solle "sich künftig mit Kritik an der Regierung Erdogan zurückhalten". Burak ist sich sicher, dass der Geheimdienst hinter dem Anruf steckt, denn der Anrufer habe zahlreiche persönliche Details genannt, die nicht öffentlich bekannt sind.