Falsche Erinnerung, falsche Lehre, falscher Weg

Soldaten vor brennendem Gebäude, Sowjetunion, Oktober 1941. Bild: Bundesarchiv, Böhmer, CC-BY-SA 3.0

80 Jahre nach dem Überfall der Wehrmacht auf die Sowjetunion nehmen deutsche Politiker das Verbrechen zum Anlass für eine neue Frontstellung. Die Umdeutung der Geschichte hat System

Im Grunde war absehbar, was nach dem 22. Juni 1941 geschehen würde. Der Überfall auf die Sowjetunion war keine kurzfristig getroffene Entscheidung, kein übereilter Entschluss. Einer der folgenschwersten Angriffskriege der modernen Geschichte war Ergebnis langfristiger Planungen, Rückversicherungen und Strategien. Vor allem aber war einer der folgenschwersten Angriffskriege der modernen Geschichte ideologisch untermauert.

"Wir können unseren Auftrag nur daher nehmen, dass wir sagen, es ist von Gott gewollt, dass eine höhere Rasse über eine mindere herrschen soll", schrieb der Nationalliberale Hans Grimm schon 1926. Er fuhr fort: "Wenn für beide nicht genügend Raum ist, dann muss die mindere Rasse verdrängt und, wenn notwendig, zum Vorteil der höheren Rasse ausgerottet werden."

"...sofort mit der Waffe zu erledigen" – Anlage zum Kommissarbefehl vom 6. Juni 1941". Bild: 1000dokumente.de

All das war nicht nur 15 Jahre vor dem Überfall auf die Sowjetunion nachzulesen, der Romantitel Grimms diente den Nazis als Motto für Ihren Vernichtungsfeldzug: "Volk ohne Raum". Welche Folgen die "Lebensraumpolitik" hatte, wissen wir heute: ausgelöschte Dörfer, verbrannte Erde, Kommissarbefehl, Sühnebefehl, Kugelerlass, Nacht- und Nebel-Erlass. Belagerung Leningrads. Entmenschlichung. Tod.

Zum 80. Jahrestags des Angriffskriegs stellte sich auch in der Bundesrepublik dieser Tage die Frage, welche Lehren aus der Geschichte gezogen werden sollen. Verfolgte man am 9. Juni die Debatte zum Jahrestag im Bundestag, musste man zu dem Schluss kommen, dass es die falschen Lehren sind.

Die Mehrheit der Redner – vor allem aus dem Regierungslager – schafften es, eines der größten Verbrechen der jüngeren deutschen Geschichte in wenigen Zeilen zum Argument für eine neue Frontstellung gegen Russland und diejenigen osteuropäischen bis zu kaukasischen Staaten zurechtzubiegen, die keinen Anschluss an den Westen suchen; also an die EU auf politischer und die Nato auf militärischer Ebene.

"Zu einem bewussten Umgang mit dieser Vergangenheit gehört auch (…) eine weitere Vertiefung der europäischen Integration", gab Außenminister Heiko Maas die Linie vor. Was konkret bedeutet: Eine Ausdehnung der westlichen Bündnisse von EU bis Nato bis an die russische Westgrenze hinan, Militärmanöver wie Defender Europe eingeschlossen, in deren Zuge deutsche Soldaten wieder von den Kommandoständen deutscher Panzer auf Russland blicken.

Mit Auschwitz in den ersten Kriegseinsatz seit 1945

Die Kunst, die Verbrechen von Wehrmacht und Auswärtigem Amt zwischen 1933 und 1945 geopolitisch zum eigenen Nutzen umzudeuten, ist nicht neu. "Auschwitz ist unvergleichbar. Aber ich stehe auf zwei Grundsätzen, nie wieder Krieg, nie wieder Auschwitz, nie wieder Völkermord, nie wieder Faschismus. Beides gehört bei mir zusammen", sagte der damalige Außenminister Joseph Fischer (Bündnis 90/Die Grünen) im Jahr 1999, um den ersten deutschen Kriegseinsatz nach der Zerschlagung des Dritten Reiches zu ermöglichen.

Fischer legte damit Angehörigen eines Opfervolkes ein Verbrechen des eigenen Vorgängerstaates zur Last. Was als schamloser diplomatischer Fauxpas hätte abgehakt werden können, machte Schule.

Unlängst posierte der Ko-Vorsitzende der Grünen, Robert Habeck, im Stahlhelm in der Ostukraine.

Seine Amtskollegin Annalena Baerbock nannte den Einsatz ihres Nazigroßvaters für die Wehrmacht in Polen in einem Atemzug mit ihrem Einsatz für die europäische Einigung. („Und mein eigener Großvater kämpfte etwa im Winter 1945 an diesem Fluss, an dieser Grenze. Und ich stand 2004 auf dieser Brücke (…) als Joschka Fischer (…) zusammen mit seinem Kollegen von der polnischen Seite erneut die Wiedervereinigung Europas gefeiert hat.“)

"Die Geschichte verbietet uns nicht, in dieser Konsequenz" - also des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion und des Vorstoßes gegen Moskau - "uns an Sanktionen gegen Russland zu beteiligen", sagte der CDU-Abgeordnete Johann Wadephul im Bundestag.

Für eine solche Argumentation ist ein derartiges Maß an Dekontextualisierung nötig, das im Fall des Opferstaates Israel zu Recht Stürme der Entrüstung provozieren würden. Im Fall von Russland aber funktioniert die Strategie der Enthistorisierung, was sich auch in der medialen Berichterstattung zeigt. Wenn etwa das Nachrichtenmagazin Der Spiegel die Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz auf Snapchat der "amerikanischen Armee" zuschreibt.

Dahinter steht, darf man hoffentlich vermuten, kein Vorsatz, sondern eine Verdrängung und Umdeutung der Geschichte, in deren Folge ein junges Redaktionsmitglied sich nicht mehr vorstellen kann, dass die Rote Armee das Lager befreit hat und der entsprechende Fehlschluss, es haben nur die Amerikaner sein können, jegliche redaktionelle Prüfung passiert.

Bundespräsident Steinmeier setzt Gegenakzente

Schlimmer ist, dass die meisten Reden im Bundestag jüngst von historischen Relativierungen und Umdeutungen durchsetzt waren. Sie lagen damit auf einer Linie mit Ex-Präsident Donald Trump, der zum 75. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz denjenigen dankte, "die ihr eigenes Leben riskiert haben und von denen viele das ultimative Opfer gebracht haben, um zur Befreiung der Lager beizutragen", ohne die Herkunft dieser Befreier zu nennen.

Es ist Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier vor diesem Hintergrund hoch anzurechnen, in seiner Rede zum Jahrestag des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion einen Gegenakzent gesetzt zu haben, indem er betonte:

Ich mache mir große Sorgen, dass die leidvolle Geschichte, an die wir heute erinnern, selbst mehr und mehr zur Quelle von Entfremdung wird. Wenn der Blick zurück auf eine einzige, nationale Perspektive verengt wird, wenn der Austausch über unterschiedliche Perspektiven der Erinnerung zum Erliegen kommt oder er verweigert wird, dann wird Geschichtsschreibung zum Instrument neuer Konflikte, zum Gegenstand neuer Ressentiments. Und deshalb bleibt meine Überzeugung: Geschichte darf nicht zur Waffe werden!

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier

Eines mag man anfügen, eingedenk der Vorhersehbarkeit historischer Entwicklungen. Heute wird in Bezug auf die Entwicklung vor dem Zweiten Weltkrieg viel über den Hitler-Stalin-Pakt gesprochen, aber wenig über das Münchner Abkommen 1938, mit dem das junge Sowjetrussland, maßgeblich auf Betreiben des Briten Neville Chamberlain, isoliert wurde.

Diese verheerende Entscheidung führte, so bedächtige Historiker heute, letztlich in die Eskalation. Der Weg zu Krieg und Zerstörung wurde bereits Ende September 1938 in München eingeschlagen, nicht erst im August 1939 in Moskau.

Die Lehre aus diesem Jahrestag wäre also mehr Dialog mit Russland, mehr Mediation und Suche nach gemeinsamen Wegen im gemeinsamen europäischen Haus. Der erste Schritt dahin, so scheint es, wird, wenn überhaupt, nicht in Berlin getan werden.

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