Von "Nine Eleven" über Afghanistan bis zum Abzug

Von den Flugzeugattacken am 11. September 2001 ahnten US-Geheimdienste angeblich nichts. Trotzdem stand danach sofort der mutmaßliche Drahtzieher fest. Foto: Robert on Flickr / CC-BY-SA-2.0

Der "Kreuzzug gegen der Terror" von 2001 bis 2021: Wie alles anfing

Seit wenigen Tagen ist Afghanistan wieder in den Schlagzeilen und die Weltöffentlichkeit blickt auf das Land am Hindukusch. Da war doch was? Nach 20 Jahren ziehen die letzten Soldaten des "Kreuzzuges gegen den Terror" aus Afghanistan ab. Die Taliban, die man 20 Jahre bekämpft hatte, kehren zurück, erobern Stadt für Stadt und haben die Macht übernommen. Die Bilanz dieses zwanzigjährigen Krieges ist niederschmetternd. Man lässt wahnwitzige Zerstörung, ein völlig kaputte Gesellschaft, endlose Lügen und Versprechungen zurück.

Man wird sehen, dass alle, die an diesem "Kreuzzug gegen den Terror" beteiligt waren, ganz schnell alles vergessen wollen - und dafür sorgen, dass auch die Weltöffentlichkeit das vergisst. Bezeichnend ist auch, dass jetzt das alles beherrschende Thema ist, warum man die Taliban so unterschätzt, warum man die Marionetten-Regierung in Afghanistan so überschätzt habe, warum man das glaubte, was man glauben wollte.

Die Fragen, ob dieser Krieg von Anfang an ein Verbrechen war, ob die dort begangenen Handlungen als Kriegsverbrechen zu werten sind, ob jene, die die Kriegslügen zu verantworten haben, zur Verantwortung gezogen werden - all diese Fragen sind kein Thema. Die regierungsnahen Medien halten dicht und zusammen. Denn es ginge doch um die Frage, wer alles vor zwanzig Jahren diesen Krieg befürwortet hatte und von Anfang wusste, dass auch Terroranschläge wie die vom 11. September 2001 in New York kein Grund sind, um ein Land anzugreifen, in dem man die Drahtzieher vermutet.

Wenn dies internationales Recht wäre, dann gäbe es in den USA, in Frankreich, in England (um ein paar große Nationen aus dem ‘freien’ Westen zu erwähnen) permanenten Krieg. Wenn also jetzt die Soldaten des "Kreuzzuges gegen den Terror" abziehen, dann haben die Kriegslügen weiterhin oberste Priorität. Dazu gehört die imperiale Logik des früheren SPD-Verteidigungsministers Peter Struck, der doch ganz ernsthaft "Deutschland am Hindukusch verteidigen" wollte.

Muss jetzt also Deutschland schleunigst evakuiert werden? Und noch etwas bleibt völlig tabu und unbeschadet und unter dem "Konsens der Demokraten" begraben. Als vermeintliche Antwort auf "Nine Eleven", den Terror von New York, wurden in fast allen westlichen Ländern massive Einschränkungen der Grund- und Freiheitsrechte beschlossen - im Zuge des selbsterklärten Ausnahmezustandes. Darüber herrscht weitgehendes Stillschweigen.

Der entfristete Ausnahmezustand

Immerhin berichtete die Süddeutsche Zeitung (SZ) am 18. August darüber, allerdings nicht über Deutschland, sondern über die USA: Unter dem Titel "Ewiger Ausnahmezustand" wurde hier im Dossier: "20 Jahre nach 9/11" all das aufgerollt, was sich in den USA verändert hat: "Exzessives Datensammeln, Folter, Tötungen". Und die SZ vergaß dabei nicht, ein zentrales Merkmal von Ausnahmezuständen zu benennen: Der Anlass mag lange vorbei sein, die drastischen Einschränkungen bleiben: "Wie sich die USA nach dem 11. September von ihren Werten entfernten. Und nie wieder ganz zurückfanden…"

Das geografisch und inhaltlich Näherliegende - Deutschland - hat die SZ ausgespart. Kein Wort über die "Otto-Gesetze", also angebliche Anti-Terror-Gesetze, die unter Federführung des SPD-Innenministers Otto Schily verabschiedet wurden. Dazu schrieb Dr. Rolf Gössner, Rechtsanwalt und Publizist und seit 2003 Präsident der "Internationalen Liga für Menschenrechte", bereits am fünften Jahrestag der Anschläge in der Tageszeitung junge Welt:

Die ‚Antiterrorgesetze‘ von 2002 sind die umfangreichsten Sicherheitsgesetze, die in der bundesdeutschen Rechtsgeschichte jemals auf einen Streich verabschiedet worden sind - ohne auch nur die Frage zu stellen, ob nicht die bereits geltenden Gesetze zur Bewältigung der Gefahren ausgereicht hätten. Schließlich gab es längst ein ausdifferenziertes System von ‚Antiterrorregelungen‘ mit zahlreichen Sondereingriffsbefugnissen für Polizei, Justiz und Geheimdienste. (…)

Künftig sollen die Geheimdienste noch mehr Befugnisse bekommen und hochsensible Auskünfte bei Banken, Flug- und Telekommunikationsunternehmen nicht nur zur Terrorabwehr abfragen dürfen, sondern auch schon zur Aufklärung verfassungsfeindlicher Bestrebungen im Inland, sofern diese einen Gewaltbezug haben oder die Bereitschaft zu Gewalt erkennen lassen oder fördern könnten. Eigenhändige Gewaltanwendung ist nicht erforderlich - womöglich könnten schon Demonstrationsaufrufe gegen Neonazis oder Castortransporte genügen.

Mit dem ursprünglichen Zweck der Terrorabwehr hat diese Ausweitung nur noch wenig zu tun; aus geheimdienstlichen Antiterrorinstrumenten mit Ausnahmecharakter werden so Regelbefugnisse des Alltags zur erweiterten ‚Vorfelderfassung‘. (…) Der ‚Antiterrorkampf‘ hat sich als ein enormes Umgestaltungsprogramm herausgestellt - ein Programm der Demontage des Völkerrechts, der Menschen- und Bürgerrechte und des demokratischen Rechtsstaats.

(Rolf Gössner: "Der ganz normale Ausnahmezustand", 11. September 2006)

Wurden diese Ausnahmegesetze zurückgenommen? - Nein, sie wurden zunächst verlängert und im Dezember 2020 endgültig entfristet.

Der folgende (gestraffte) Text ist im Jahr 2001 geschrieben worden und ruft die Stimmung, die Argumente und den Irrsinn wach, die für diesen Krieg mobilisiert wurden. Wenn man sich dies heute, 20 Jahre später vor Augen führt, darf man auch sich selbst fragen, warum so viele, auch Linke, diesen Krieg irgendwie "gerecht" fanden.

Am 11. September 2001 wurde das World Trade Center in New York durch zwei entführte Linienflugzeuge zerstört. Am selben Tag beschädigte ein drittes entführtes Flugzeug Teile des amerikanischen Verteidigungsministeriums, des Pentagon, in Washington schwer. Ein viertes Flugzeug zerschellte, ohne ein weiteres, unbekanntes Ziel zu treffen.

Wer auch immer das World Trade Center und das Pentagon mit Mitteln angreift, die sich in der Logik derer bewegen, die mit diesem Anschlag getroffen werden sollen, verbreitet keine Hoffnung, sondern Terror. Die Bilder, die wir seitdem tagtäglich vom eingestürzten World Trade Center auf den Bildschirm bekommen, die Gesichter und Stimmen, die von Angst, Ohnmacht und Fassungslosigkeit gezeichnet sind, machen sprachlos. (…)

(Aus: Krieg ist Frieden. Über Bagdad, Srebrenica, Genua, Kabul nach …, Unrast Verlag 2002)

Nachdem der US-Präsident Bush zwei Tage in unterirdischen Kommandozentralen versteckt gehalten worden war, meldete er sich am Abend des 12. September 2001 in einer Fernsehansprache zu Wort:

Dieser Massenmord sollte dazu dienen, unsere Nation einzuschüchtern und in Chaos und Resignation zu treiben. Dies ist nicht gelungen. Unser Land ist stark. Ein großes Volk ist dazu angespornt worden, eine große Nation zu verteidigen (...) Amerika wurde zum Angriffsziel, weil wir in der Welt die strahlendste Fackel der Freiheit und der Selbstverwirklichung sind. Und niemand wird den Glanz dieses Lichtes auslöschen. Heute hat unsere Nation das Böse gesehen, die schlimmste Seite der menschlichen Natur.

(George W. Bush, zitiert von: Frankfurter Rundschau, 13. September 2001)

Später stellte der republikanische US-Präsident Bush seine Kriegserklärung in die Reihe der Verbrechen, die im Namen christlicher Kreuzzüge begangen wurden, und erklärte, der Kampf gegen den Terrorismus werde ein "langer Kreuzzug" sein. Dass religiöser, fanatischer Fundamentalismus in islamischen Ländern, also weit weg von der "zivilisierten Welt" zu finden ist, wissen wir aus der freien Presse des Westens.

Dass dieser religiöse, fanatische Fundamentalismus auch eine Massenbasis in den Vereinigten Staaten von Amerika hat, wissen wir spätestens aus den Umfragen, die nach den Ansprachen des US-Präsidenten gemacht wurden: Über 90 Prozent der US-BürgerInnen standen laut dieser Erhebungen hinter ihrem Präsidenten. Als der US-Präsident Bush neben der Nato auch noch Gott in seine Kriegsallianz einreihte ("Möge Gott Amerika weiter beschützen") wurde diese Art der Nato-Erweiterung abgenickt.

"Das Böse schlechthin ... hat gestern uns alle angegriffen."

(Unionsfraktionschef Friedrich Merz laut FR vom 13. September 2001)

Religiöser Wahnsinn und infantile Weltbilder bedingen sich gegenseitig, brauchen keine bestimmte Glaubensrichtung, sondern einen Nährboden aus Nationalismus, Autoritätshörigkeit und Unterwürfigkeit. Und der ist auch in Deutschland zur Genüge vorhanden. In Deutschland hat sich die Springer-Presse an die Spitze dieses mörderischen Kreuzzuges gestellt und im wahrsten Sinne des Wortes Flagge gezeigt: Die Solidarität mit den Vereinigten Staaten wurde in die Unternehmensgrundsätze aufgenommen. Das rote Bild-Logo wurde mit einer US-amerikanischen Flagge unterlegt.

Die Übersetzung dieses religiösen Fanatismus ins Deutsche blieb jedoch nicht nur der Springer-Presse überlassen. Auch die so liberale Frankfurter Rundschau (FR) beteiligte sich daran. Seiten füllte diese Zeitung mit Andeutungen und Mutmaßungen, die "die Komplexität des Bösen" darzulegen vorgaben. Unter dem Titel "Blow out ins Paradies" (25.9.2001) täuschte die FR ihren Leser:innen eine Antwort auf die selbstgestellte Frage vor: "Warum Bin Ladens Gotteskrieger lebende Bomben sind". Dabei scherte sich die FR einen Dreck darum, dass bis dato kein einziger Beweis dafür erbracht wurde, dass jener ominöse Top-Terrorist für diese Anschläge verantwortlich war.

Die Unschuldsvermutung, ein Rechtsinstitut in einer vermeintlich zivilisierten Gesellschaft zählt einfach nicht, wenn es darum geht, dem Krieg abendländisch, kulturalistisch Flankenschutz zu geben.

Selbstverständlich gab es neben der "Suche nach dem Bösen", der sich auch die taz in einer Artikelüberschrift anschloss, auch Stimmen, die das "Gute" gerne mit dem Markenoutfit einer "zivilen Gesellschaft" oder in Übergröße, mit der "Weltgesellschaft". einkleiden wollten. Der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) sagte am 19. September 2001 in einer Regierungserklärung:

Dies ist nicht nur ein Krieg gegen die USA, dies ist ein Krieg gegen die zivilisierte Welt.

(Bundeskanzler Gerhard Schröder / Regierungserklärung vom 19. September 2001)

Von einem "Anschlag auf die offene Gesellschaft überhaupt" sprach der Fraktionschef der Grünen, Rezzo Schlauch, laut einem Bericht der Tageszeitung Neues Deutschland schon Tage zuvor.

"Es ist ein Anschlag auf die zivile Gesellschaft, auf Kultur und Humanität. Es ist das Herz nicht nur der amerikanischen, auch der Weltgesellschaft getroffen", sagte der Fraktionschef der Linke-Vorläuferpartei PDS laut einem FR-Bericht vom 13. September 2001.

Mit weniger Weltgeist gefüllt ging es darum, einen weiteren Kriegseintritt Deutschlands zu rechtfertigen, die Teilnahme am "ersten Krieg des 21. Jahrhunderts" (US-Präsident Bush laut FR vom 14. September 2001). Mit Ausnahme der PDS sprachen sich alle Bundestagsfraktionen dafür aus.

Dass es Krieg geben würde, war allen klar. Worum es geht auch: "Nur wer mit im Boot sitzt, kann Einfluss auf die Richtung nehmen", so der damalige grüne Außenminister Joschka Fischer. Während die USA mit täglich wechselnden Kriegsdrohungen und der Ankündigung, ganze Staaten aus der Weltkarte zu streichen, die Rolle des "Bad Boy" ausfüllten, profilierten sich europäische Stimmen mit Bedacht und Weitsicht. Sie durften vor Überreaktionen warnen, vor blinden Rachegefühlen, vor falschen Fronten - um für Präzision und Zielgenauigkeit zu werben.

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