Die Taliban und das "Verschwinden" der Frauen

Frauen beim Einkauf auf einem afghanischen Markt (2010). Bild: Institute for Money, Technology and Financial Inclusion / CC-BY-2.0

Wie die Sozialisierung der Jungen in einem brutalen Milieu gewalttätige und misogyne Einstellungen als Teil der Identität gefördert hat. Ein Rückblick (Teil 4 und Schluss)

Ihre Frauenpolitik war gleichzeitig konstitutiv für die Expansion der Taliban: Die Restriktionen gegen Frauen gehörten immer zu den ersten Dingen, die durchgesetzt wurden, wenn die Taliban die Kontrolle über eine neue Provinz übernahmen und wurden von den Taliban selbst mit ihrem "Sicherheitsdiskurs" begründet.

Die Taliban erließen ein Arbeitsverbot für Frauen. Die Fenster der Häuser mussten geschwärzt werden, damit Frauen von der Straße aus nicht gesehen werden konnten.

Das Tragen der Burka, die sich nicht alle leisten konnten, war obligatorisch. Mädchenschulen wurden geschlossen. Frauen war es nicht erlaubt, ohne die Begleitung eines männlichen Familienmitgliedes das Haus zu verlassen oder mit fremden Männern zu sprechen. Das Tragen von Schmuck, Make-up und Schuhen mit Absätzen wurde untersagt. Ehebruch und unehelicher Sex wurden nach der Scharia bestraft. Weibliche Kriegsgefangene wurden als Sklavinnen benutzt.1

Den gesellschaftlichen Ausschluss von Frauen begründeten die Taliban damit, dass sie eine Korrumpierung ihrer Truppen verhindern und die Einheit ihrer Kräfte erhalten wollten. Mehr noch: die Genderpolitik spiegelte einen integralen Teil ihrer Weltsicht wider.

In den Religionsschulen, wo die Studenten ein Leben in Seklusion führten, galten die Kontrolle über Frauen und ihr praktischer Ausschluss als ein starkes Symbol für Männlichkeit.

Dort wurde gelehrt, dass Frauen eine unnötige Ablenkung vom Dienst an Allah und vor allem eine Versuchung (fitna) darstellten. Die männliche Kontrolle über Frauen sei folglich notwendig.2

Die pauschal unterstellte aggressive Verführung, die Frauen vermeintlich permanent im Sinn hätten, wurde mit moralischer und sozialer Destruktivität gleichgesetzt. Komplementär dazu wurde männliches Begehren als unaufhaltbar stark skizziert und die Erfüllung illegitimer Begehrlichkeiten zur großen sozialen Grenzüberschreitung gemacht, die jegliche (soziale) Ordnung ins Wanken brächte.3 Die Sozialisierung der Jungen in einem brutalen Milieu beförderte gewalttätige und misogyne Einstellungen als Teil der Identität.

20 Jahre Krieg in Afghanistan (14 Bilder)

Trümmer des World Trade Centers nach dem Anschlag am 11. September 2001, dem Auslöser des Krieges. Bild: NOAA

Ihre Interpretation des Dschihad, der sich auch gegen Frauen richtete, unterschied die Taliban grundsätzlich von der Auffassung des Dschihad der Mudschaheddin. Die Unterjochung der Frauen wurde zu einer Mission der wahrhaft Gläubigen.4 Insbesondere urbane Frauen waren in den Augen der Taliban lasterhaft und provokant:

Die ganze Stadt ist voll von Obszönität. Aber mit Gottes Gnade wendet sich mein Kopf immer nach der anderen Seite und meine Augen werden niemals unrein. Den Augen dienen dem Streben nach Wissen und sie sollen keine Obszönität sehen und sündigen Wegen folgen

Talib; In: Murshed 2003: 406

Auch die obligatorische Burka, mit der eine rigide Trennung zwischen den Geschlechtern und auch zwischen öffentlicher und privater Sphäre vollzogen wurde, ist ein Indiz für das Kontrollbedürfnis der Taliban.

Indem Situationen der Unsicherheit und des Kontrollverlustes vermieden wurden, sollte die soziale Ordnung hergestellt und stabilisiert werden.

Erst wenn geeignete Standards für Seklusion (purdah) in Schulen, im Gesundheitswesen und an Arbeitsplätzen gewährleistet wären, würden Frauen ihre Rechte zurückerhalten.5

Unterschiedliche Situation der Frauen in Stadt und Land

In den Städten waren die zahlreichen Kriegswitwen durch das Arbeitsverbot fast ausnahmslos zum Betteln und zur Prostitution gezwungen. 1998 wurden die Büros fast aller Hilfsorganisationen gewaltsam geschlossen, nachdem die NGOs einen respektvolleren Umgang mit Frauen verlangt hatten. Frauen und Kinder waren die ersten Leidtragenden:

Die Frauen müssen sich damit abfinden, dass es nichts zu essen gibt und ihre Kinder unterernährt sind. Sie leiden an Hysterie, sind traumatisiert und depressiv, weil sie nicht wissen, wann der nächste Raketenangriff erfolgt. Wie können sich Kinder auf die Disziplin und Zuneigung ihrer Mütter verlassen, wenn sie gesehen haben, wie sich die Erwachsenen gegenseitig töten? Ihre Mütter können sie nicht mit dem Grundlegendsten versorgen. Der Stress ist so groß, dass die Kinder nicht einmal untereinander Vertrauen haben. Eltern haben die Kommunikation mit ihren Kindern aufgegeben, weil sie ihnen gar nicht mehr erklären können, was da vor sich geht

Sofie Elieussen, Leiterin von "Save the Children"; Rashid 2001: 191

Die Organisation Ärzte für Menschenrechte berichtete über einen horrenden Anstieg teils grauenhafter Suizide. Viele Frauen versuchten, sich durch Selbstverbrennung oder das Trinken von Bleiche das Leben zu nehmen.6

Unter der ländlichen weiblichen Bevölkerung hingegen wurden die Taliban häufig als "Brüder" bezeichnet, womit eine Zuneigung oder Wertschätzung mitschwingt, die dem sehr realen Zuwachs an Sicherheit, die sie in vielen Gegenden erreichten, Rechnung trägt. Dennoch äußerten auch Frauen auf dem Land Bedenken hinsichtlich der Frauenpolitik:

Dieben die Hände abzuschneiden ist gut, denn vor zwei oder drei Jahren gab es so viele Diebe, dass man nachts nicht schlafen konnte. Wir hatten immer Angst vor Plünderungen. [...] Jetzt haben die Diebstähle und Morde aufgehört. Jetzt leben alle Menschen in Sicherheit. Dass Frauen nicht mehr arbeiten und Mädchen nicht mehr zur Schule gehen dürfen, macht uns Angst. Aber wir hören immer von den Taliban, dass sie es erlauben werden, wenn sich die Situation normalisiert. Dann freuen wir uns und denken an unsere kleinen Töchter und hoffen, dass sie in Zukunft etwas lernen.

In: Skuse 2005: 175

In der afghanischen Gesellschaft vor dem Krieg, die die Taliban nicht kennengelernt hatten, wurde das Verhalten von und die Kontrolle über Frauen als integral für die Ehre der Familie und des Stammes angesehen.

Mit der kommunistischen Regierung unter Führung der Demokratischen Volkspartei Afghanistans (DVPA) erhielten Frauen mehr Rechte und der Brautpreis wurde gesetzlich abgeschafft; im Krieg übernahmen viele Frauen auf dem Land die Rolle von Haushaltsvorständen und verfügten über eine größere persönliche Autonomie.

In den pakistanischen Flüchtlingslagern hingegen wurden Frauen zu Symbolen der Differenz zwischen Kommunisten und Islamisten, die jeweils ihre Vorstellungen von der Rolle der Frau dort umsetzten. Viele Frauen internalisierten die Erfordernisse und unterstützten den Dschihad aktiv.

Mit dem Sieg über die sowjetischen Truppen und dem Aufstieg der islamistischen Regierung ab 1992 wurden die Frauenrechte massiv beschnitten.

Die Taliban institutionalisierten eine deformierte Version des paschtunwali, bzw. Konzeptionen über die gesellschaftliche Rolle von Frauen, die auch in den Dörfern kaum akzeptiert wurde: In vielen paschtunischen Dörfern monierten die Frauen, dass ihre unmittelbaren männlichen Verwandten das Sagen zu den ihnen zugestandenen sozialen "Freiheiten" haben sollten und nicht die Taliban.7

Die Taliban ignorierten das Privatleben der Familien und maßten sich die Kontrolle über alle Frauen an. Paschtunische Frauen waren unter den Taliban nicht nur aus dem öffentlichen Leben ausgeschlossen; sie hatten sowohl ihre Position als Akteurinnen, die durch die Performanz weiblicher Ehre (gham) zum Ansehen ihrer Familie beitrugen, als auch die Rolle als Mütter und Schwestern der Märtyrer, die sie im Dschihad einnehmen konnten, verloren.

Der Nicht-Status von Frauen als Eigentum und Signifikanten für Ehre und Kultur bedeutete, dass ihnen jegliche soziale Funktion aberkannt wurde.

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