Fakten und ihre Einordnung: Was Ansichtssache ist und was nicht

Die Publizistin Hannah Arendt starb 1975, konnte die "Querdenker"-Bewegung nicht kennen und schrieb ihr dennoch gewissermaßen ins Stammbuch. Foto: Murray Buckley / CC0 1.0

Der Streit um Tatsachenwahrheiten führt oft zu nichts. Hannah Arendt hat in "Wahrheit und Politik" erklärt, warum (Teil 2 und Schluss)

Welche Rolle spielen die Tatsachenwahrheiten, das heißt Fakten, für die Meinungen? Die Tatsachenwahrheiten geben der Meinung ihren Gegenstand vor und halten sie in Grenzen, damit sie nicht ins Fantastische ausufert. Hannah Arendt (1906 - 1975) spricht in "Wahrheit und Politik" bezüglich der Tatsachenwahrheiten von einer "eigentümlichen Undurchsichtigkeit". Man kann nicht schlüssig sagen, warum es so ist, wie es ist. "Jedes Ereignis, jedes Geschehnis, jedes Faktum könnte auch anders sein, und dieser Kontingenz sind keine Grenzen gesetzt."

Tatsachenwahrheiten, also Fakten, sind eher zufälliger Natur. Das unterscheidet sie von Vernunftwahrheiten, die "zwingende Evidenz besitzen". Tatsachenwahrheiten umfassen die menschlichen Angelegenheiten, Vernunftwahrheiten die ewigen Dinge. Deshalb hat es die Philosophie lange abgelehnt, sich mit diesen menschlichen Dingen, dem "trostlosen Ungefähr" (Kant) zu beschäftigen. Ein weiterer Grund für die relative Instabilität von Tatsachenwahrheiten besteht darin, dass sie nur in der Vergangenheit rückblickend als gegeben gelten können.

Politisches Handeln, das auf die Zukunft gerichtet ist, hat mit Tatsachen nichts zu tun, da es diese Tatsachen der Zukunft eben noch nicht gibt. Wie der Name schon sagt: Tatsachen sind Sachen, die getan sind. Handlungen indes können so oder so ausfallen. Jede Tat wird eine Tatsache erzeugen. Diese erkennen wir aber erst im Nachhinein. Da Tatsachen mithin genauso wenig evident sind wie Meinungen, ist es möglich, "Tatsachenwahrheiten dadurch zu diskreditieren, dass man behauptet, sie seien eben auch Ansichtssache" (S. 65).

Dies findet man sehr oft in der Politik und insbesondere in den Diskussionen um die Corona-Maßnahmen. Der Streit darüber, ob diese Viruserkrankung gefährlich oder harmlos ist, oder ob etwa ein Mundschutz die Ansteckungsgefahr verringern kann oder nicht, wird zwar über Fakten ausgetragen, das heißt, man führt zahlreiche Messdaten, wissenschaftliche Untersuchungen oder die Aussagen von populistischen Kommentatoren ins Feld.

Man gibt sich also den Schein einer Faktizität. Aber die Selektion und die Bewertung der Fakten stützt nur die eigene Meinung und die Fakten werden sogar allzu oft behandelt, als seien sie Meinungen, wenn sie nicht sowieso verbogen werden. Ein schlagendes Beispiel ist die aufflammende Diskussion um die Anzahl der Teilnehmer an der "Tag der Freiheit"-Demonstration am 1. August 2020 in Berlin. Polizei und offizielle Stellen sprechen von 20.000 Teilnehmer:innen, die Veranstalter von 1,3 Millionen.

Es ist geradezu absurd, wie weit hier die Zahlen auseinanderliegen, und es wird offensichtlich, dass es hier gar nicht mehr um das Faktum, sondern um Macht und die Meinung im Sinne der politischen Überzeugung geht. Meistens handelt es sich bei den umstrittenen Fakten jedoch um feinere Unterschiede. Dann tritt die dahinterliegende Komponente nicht so deutlich zutage. Sobald also eine Tatsachenwahrheit den Meinungen und Interessen im politischen Bereich entgegensteht, ist sie mindestens so gefährdet wie irgendeine Vernunftwahrheit.

Meinungen

Deshalb ist es meines Erachtens müßig, im politischen Bereich über Tatsachen zu streiten. Es geht um die Meinungen und die Interessen. Der ganze Schlagabtausch von Fakten und "alternativen" Fakten ist Augenwischerei. Wir werden unseren Gegner niemals durch unsere Fakten und Argumente überzeugen können, genauso wenig wie sie uns. Viel wichtiger ist es deshalb, die hinter den Argumenten liegenden Grundthesen beziehungsweise die hinter den Fakten liegenden Meinungen herauszuarbeiten und zu offenbaren.

Wir müssen herausfinden, welche Grundtheoreme eine Person oder eine Gruppe ihren Argumentationen zugrunde legt. Dann wissen wir auch, um was es geht. Das ganze Hin und Her der Argumente und Fakten wird also bei sehr stark überzeugten Protagonisten zu keiner Veränderung ihrer Meinung führen. Allerdings können Argumente und Fakten bei Menschen wirken, die sich ihre Meinung noch nicht gebildet haben, da in einem realen und vernünftigen Diskurs die Tatsachenwahrheiten die Entscheidungsgrundlage sind.

Außerdem sollten wir in einer gesellschaftlichen Diskussionen so lange wie möglich diese Haltung der Offenheit beibehalten, in der wir keine dezidierte Meinung vertreten, um wirklich den Tatsachenwahrheiten und den Argumenten ausreichend Raum geben zu können, damit sie ihre Wirkung entfalten können.

Vertrauen

Neben diesen Grundüberzeugungen, die hinter den Fakten stehen, gibt es noch eine andere Kategorie, die unserer Ebene der faktischen Argumente vorangeht und sie bestimmt: das Vertrauen. Wenn wir die Frage der Fakten stellen, müssen wir oft zugeben, dass wir es nicht so genau wissen. Sei es, dass die Faktenlage wissenschaftlich sehr anspruchsvoll ist, zum Beispiel in der Frage, wie ein Virus biologisch und epidemiologisch funktioniert, oder sei es, dass die Beweiskraft der Tatbestände strittig ist, weil zum Beispiel Zeugen oder Dokumente nicht vertrauenswürdig sind.

Für den Fall, dass wir es nicht genau wissen, bleibt uns letztendlich nur das Vertrauen in Autoritäten, denen wir glauben, dass ihre Aussagen wahr sind. Um also herauszufinden, durch was eine bestimmte Partei motiviert ist, macht es Sinn, sich anzuschauen, wem diese Menschen vertrauen bzw. misstrauen.