Ein Hauch von Zwangsehe: Die Linke und die Fünf-Prozent-Hürde

Es wirkt wie ein Rosenkrieg: Die Linke kann sich nicht einfach trennen. Symbolbild: Engin Akyurt auf Pixabay (Public Domain)

Die Stimmenverluste der Partei Die Linke haben nicht nur einen Grund. Ihre öffentliche Selbstzerfleischung dürfte ein wesentlicher sein. Eine Trennung wäre trotzdem kein einfacher Schritt

Die Partei Die Linke habe bei der Bundestagswahl am 26. September die "Todesstrafe auf Bewährung" erhalten, schrieb deren Bundesgeschäftsführer Jörg Schindler, nachdem sie eigentlich knapp an der Fünf-Prozent-Hürde gescheitert war und nur dank ihrer drei Direktmandate wieder in Fraktionsstärke einziehen konnte.

Seine Partei habe in den letzten Jahren ein widersprüchliches Bild abgegeben. Ihr sei es in wichtigen Fragen ab 2015 nicht mehr gelungen "trotz einmütiger Beschlüsse einen für alle Mitglieder verbindlichen Positionskorridor herzustellen, der nicht verlassen werden darf". Als Stichworte nannte er das Thema Einwanderungsgesellschaft, die Dringlichkeit des Klimawandels, die Art und Weise der Bekämpfung der Corona-Pandemie sowie "das Ende des Interventionismus", die Veränderung der Weltordnung mit den Polen USA, EU, Russland und China. Statt eines "positiven Pluralismus" habe es in der Bundestagsfraktion eine "schlechte Vielstimmigkeit" gegeben.

Schindlers Kritik an "medienstarken Teilen der Bundestagsfraktion", die sich einer politischen Debatte "in und mit der Partei" entzogen hätten, um sie über die Presse weiterzuführen, war ziemlich eindeutig auf die ehemalige Fraktionschefin Sahra Wagenknecht gemünzt. Jedenfalls sagen einige aktuelle und ehemalige Abgeordnete ihrer Fraktion, es sei in den letzten Jahren schwer bis unmöglich gewesen, mit ihr ins Gespräch zu kommen, während sie großen Medien gerne Interviews über mutmaßliche Fehler von Linken allgemein und ihrer Partei im Besonderen gab und identitätspolitische Positionen kritisierte.

Dass Wagenknecht im April das Buch "Die Selbstgerechten: Mein Gegenprogramm - für Gemeinsinn und Zusammenhalt" veröffentlichte, verstanden viele als Abrechnung mit ihrer Partei und als Bashing junger Protestbewegungen wie Fridays for Future und antirassistischen Gruppen, mit denen ihre Fraktionskollegen zusammenarbeiteten. "So hart Wagenknecht mit den vermeintlich 'Selbstgerechten' auf der Linken ins Gericht geht, so versöhnlich tritt sie nach rechts auf", schrieb die innenpolitische Sprecherin der Fraktion, Ulla Jelpke seinerzeit in einem Kommentar in der jungen Welt.

Allerdings hielt es Jelpke für "verfehlt, Wagenknecht AfD-Nähe unterstellen zu wollen", wie es durchaus einige Parteifreunde taten. Jelpke ordnete Wagenknechts Argumentation als "durchweg im rechtssozialdemokratischen Rahmen" ein.

Manche Mitglieder sahen das anders und einzelne stellten sogar wenige Monate vor der Bundestagswahl einen Ausschlussantrag gegen Wagenknecht, die auf der nordrhein-westfälischen Landesliste als Spitzenkandidatin antrat. Den meisten innerparteilichen Wagenknecht-Kritikern ging das allerdings zu weit. Bundesgeschäftsführer Schindler hielt den Ausschlussantrag für "nicht richtig und nicht gerechtfertigt", wie er am 11. Juni erklärte.

Tatsächlich dürfte die Eskalation des Konflikts mitten im Wahlkampf zu den Stimmenverlusten beigetragen und sowohl Stimmen von Wagenknecht-"Fans" als auch von Wagenknecht-"Hatern" gekostet haben. Erstere fanden den Umgang mit ihr unmöglich und hätten es klüger gefunden, ihre Partei hätte Wagenknecht zur Kanzlerkandidatin gekürt, weil sie doch so populär sei. Letztere meinten, sie sei eben eher in rechten Kreisen populär und eine linke Partei werde durch sie "unwählbar". Beides war mehrfach in "sozialen Netzwerken" zu lesen.

Warum alle Schuldzuweisungen richtig und falsch sind

Beide Motivationen könnten bei den Stimmenverlusten eine Rolle gespielt haben, auch wenn sich die verfeindeten Lager nun gegenseitig vorwerfen, jeweils ganz allein oder hauptsächlich daran schuld zu sein. Wer eine Partei nur wegen einer Person wählt oder nicht wählt, die weder Partei- noch Fraktionschefin ist, betreibt Personenkult. Und es gab sicherlich auch ganz anderen Motivationen.

Neben den von Schindler genannten Punkten, an denen sich die Linke entzweite und der Personalie Wagenknecht war aber ein weiterer Streitpunkt, ob und unter welchen Umständen sich Die Linke an einer Regierungskoalition beteiligen sollte. In den nächsten vier Jahren steht das im Bund nun nicht auf der Tagesordnung. Einigen Mitgliedern stößt aber schon seit mehreren Jahren die tatsächliche oder vermeintliche "Regierungsgeilheit" mancher Spitzenpolitiker ihrer Partei sauer auf - und sie stellten sie nicht nur in einer Parteiströmung fest.

Thüringens linker Ministerpräsident Bodo Ramelow, der mit SPD und Grünen als Juniorpartner regiert, und die ehemalige Fraktionschefin der Linken im Bundestag, Sahra Wagenknecht, werden zu unterschiedlichen Strömungen gezählt. Tatsächlich konnte aber auch Wagenknechts gescheiterte Sammlungsbewegung "Aufstehen", als Versuch verstanden werden, "Rot-Rot-Grün" als Regierungsoption zu ermöglichen - nur mit verändertem Kräfteverhältnis in allen drei Parteien. Dazu sollte jeweils der linke Flügel von SPD und Grünen gestärkt werden, während Die Linke - nun ja, anschlussfähiger werden sollte.

Im Bundestagswahlkampf 2021 spielte allerdings "Aufstehen" bis auf wenige Aktivisten keine wesentliche Rolle mehr. Als Befürworterin einer "rot-rot-grünen" oder "rot-grün-roten" Koalition tat sich unter anderem Ko-Parteichefin Susanne Hennig-Wellsow hervor.

Wer im Fall einer Regierungsbeteiligung faule Kompromisse befürchtet hätte, kritisiert das nun als "Anbiederei", die konsequente Linke abgeschreckt und etliche Stimmen gekostet habe. Allerdings dürften das kaum die Stimmen von mehr als 1,4 Millionen Wahlberechtigten sein, die von der Linken zu SPD und Grünen abgewandert sind, denn die hätten ja keinen Grund gehabt, einen Kuschelkurs gegenüber den "Originalen" abzulehnen. Insofern fällt auch die "Anbiederei" der Linken als alleiniger oder hauptsächlicher Grund aus.

Teile der Friedensbewegung sind der Meinung, das Thema Friedenspolitik sei entscheidend gewesen, weil Die Linke in ihrer Ablehnung von Militäreinsätzen im Ausland zu uneindeutig geworden sei. Nur eine Minderheit der Abgeordneten hatte zuletzt klar gegen den Evakuierungseinsatz in Afghanistan gestimmt; die Mehrheit hatte sich enthalten, weil sie die Rettung von Menschen unterstützenswert fand, aber nicht das Mandat insgesamt. Ex-Parteichefin Katja Kipping will an Infoständen im Wahlkampf eher zu hören bekommen haben, dass die Enthaltungen und Nein-Stimmen zu dem Einsatz ein Fehler gewesen seien, wie sie im Interview mit der taz andeutete.

Der Verlust von mehr als 1,4 Millionen Wählerstimmen an SPD und Grüne ist für Kipping ein klares Zeichen, "unsere Wähler:innen nicht einfach mehr Krawall wollen, sondern ernsthaft eine Durchsetzungsperspektive suchen". Auch das dürfte zumindest Teil der Wahrheit sein.

Wenn damit eine Durchsetzungsperspektive für soziale und ökologische Forderungen gemeint ist, werden diese Wahlberechtigten von SPD und Grünen in einer "Ampel-Koalition" aber höchstwahrscheinlich enttäuscht. Die Frage ist nun, was Die Linke daraus macht. Jörg Schindler beschreibt Chancen und Risiken so:

Ab jetzt haben wir vier Jahre Zeit zu zeigen, dass wir gesellschaftspolitischen Wert haben. Das ist unsere Bewährungsauflage. Eine Chance, die wir jetzt nutzen müssen. Sonst droht unausweichlich unser Tod.

Jörg Schindler

"Der Tod", das wäre aus seiner Sicht der Absturz unter die Fünf-Prozent-Hürde ohne rettende Direktmandate. Und diese Sperrklausel ist sicherlich ein Grund, warum ein Streit wie der um Sahra Wagenknechts Positionen nicht einfach zur geordneten Trennung führen kann. Ohne diese Hürde gäbe es keinen Zwang, zusammenzubleiben und dementsprechend auch kein gegenseitiges Distanzierungsbedürfnis.

Die Beteiligten könnten einfach zwei Parteien angehören, die im Parlament an einem Strang ziehen, wenn es passt - und ansonsten getrennte Wege gehen, sich aber nicht als politische Hauptgegner behandeln. Vielleicht bliebe beiden Parteien dann sogar ausreichend Energie, um jeweils über fünf Prozent zu kommen. Platz für zwei neue linke Parteien gäbe es nach vier Jahren "Ampel" ganz sicher, weil dann wohl wirklich niemand mehr auf die Idee kommt, dass SPD und Grüne noch zum linken Lager gehören.

Wie undemokratisch ist die Fünf-Prozent-Hürde?

Interessant ist, dass das Bundesverfassungsgericht im Fall der Europawahlen eine solche Sperrklausel für verfassungswidrig erklärt hat: Es kippte 2014 sogar die deutsche Drei-Prozent-Hürde, weil diese gegen die Chancengleichheit der Parteien verstoße. "Alle Wähler sollen mit der Stimme, die sie abgeben, den gleichen Einfluss auf das Wahlergebnis haben", heißt es in dem Beschluss.

Bei den Bundestagswahlen aber werden weiterhin Wahlberechtigte gezwungen, taktisch zu wählen, wenn sie ihre Stimme nicht "verschenken" wollen. Solange es aber diese undemokratische Hürde gibt, muss Die Linke pragmatisch damit umgehen.