Ist Ehrgeiz eine Tugend?

Philosophische Anmerkungen zur Industriegesellschaft

Ist Ehrgeiz wirklich eine Tugend? Der vorliegende Text geht der Psychologie der Industriegesellschaft auf den Grund und regt zur kritischen Reflexion über das an, was gemeinhin als normal gilt.

Es ist verzwickt: Für gewöhnlich erkennen wir gerade das nicht, was für uns normal ist. Dabei hat gerade das, was wir als selbstverständlich betrachten, den allergrößten Einfluss auf uns und die Welt in der wir leben. Legen wir die Normalität unserer Industriegesellschaft deshalb einmal gedanklich auf den Seziertisch. Es ist erstaunlich, was alles in ihr Platz findet. In der Summe vieler kleiner Handlungen exekutieren wir in der industrialisierten Welt jeden Tag einen Betrieb, der menschliches Leid und die sich entfaltende ökologische Katastrophe routiniert ignoriert.

Wir verbreiten irreführende Propaganda zum Schutz von Profiten etwa in der Tabak-, Öl- oder Zuckerindustrie; wir verwenden generell einen großen Prozentsatz unserer gesamten Wirtschaftstätigkeit auf systematisches Aufbauschen und Irreführen (Marketing) und überfluten dabei etwa Kleinkinder mit Werbung für gesundheitsschädliche "Lebensmittel".

Wir produzieren Personenminen, die dann weniger Soldaten töten als spielende Kinder verstümmeln; wir erfinden Papiere, mit denen wir auf den Wertverfall genau der Papiere spekulieren, die wir unseren eigenen Bankkunden gestern noch als Geldanlage verkauft haben; wir nutzen nie verrottende Wegwerfprodukte für alltägliche Mahlzeiten und geben das Plastik damit den Fischen der Meere zu fressen; wir subventionieren unsere Agrarprodukte so, dass Bauern in ärmeren Erdteilen konkurrenzunfähig werden, und lassen die oft vor diesem Elend Flüchtenden in unseren Grenzmeeren ertrinken, während wir die Überlebenden mit Grenzzäunen aus Rasierklingen willkommen heißen.

Das Rätsel unserer Normalität entschlüsseln

Viele Ergebnisse unserer Zivilisation sind alles in allem grauenvoll. Und die meisten dieser Missstände bringen wir durch unsere Arbeit und durch unser Konsum- und Wahlverhalten mit zustande - sei es im Einzelfall auch nur aus Lethargie, Desinteresse und Ignoranz. Alle oben genannten Praktiken sind in unserer Gesellschaft als unterschiedliche Ebenen der Politik- und Erwerbsarbeit etabliert oder stellen legales Freizeitverhalten dar.

Dennoch betreiben wir unsere Industriegesellschaften in der vagen und behaglichen Einbildung, für das Elend der Welt selbst unzuständig zu sein. Wie verbergen wir dabei unser tatsächliches Tun vor uns selbst und voreinander? Wie verschleiern wir vor uns selbst und voreinander das, was wir über uns selbst und unser Tun doch eigentlich wissen, so als lebten wir in einer moralischen Anästhesie? Wie kommt es, dass wir so verlässliche Matrosen eines sinkenden Schiffs sind? Dies ist das Rätsel unserer Normalität.

Die Lösung dieses Rätsels verlangt weitreichende Überlegungen; den Versuch einer stimmigen Antwort habe ich in meinem Buch "Erfolgsleere – Philosophie für die Arbeitswelt" unternommen. Darin geht es um die objektiven, geschichtlichen Bedingungen der Industriegesellschaft, aber auch um die individuellen und psychologischen Aspekte unseres kulturellen Krankheitsbildes.

Greifen wir also hier nur je einen objektiven und einen individuellen Faktor heraus, die zusammen zu des Rätsels Lösung zumindest etwas beitragen. Der objektive Faktor ist die Tatsache, dass unsere Gesellschaft in separate "Arbeitswelten" gegliedert ist, der individuelle Faktor ist der eigene Ehrgeiz.

Systematische Scheuklappen in der Arbeitswelt

Wenn wir uns in einer Arbeitsumgebung bewegen, dann nehmen wir diese für gewöhnlich als eine abgeschlossene Umgebung mit eigener Logik, Atmosphäre und Routine wahr, wie eine "eigene Welt". Die "Welt", von der im Ausdruck "Arbeitswelt" die Rede ist, kann jedoch nicht die Wirklichkeit, sondern nur ein Teil des Ganzen sein. Damit bleiben zwei Fragen: Damit bleiben zwei Fragen: Was ist das tatsächliche Verhältnis unserer "Arbeitswelten" zur (weiteren, gesamten) Wirklichkeit? Und was nützt es uns, dieses Verhältnis zu verstehen?

Jede "Arbeitswelt" ist die Innenseite einer Institution - einer Organisation, die um eines bestimmten Zweckes willen da ist und die auf diesen Zweck hin eingerichtet ist. Entscheidend für uns ist, dass jede "Arbeitswelt" ihre Insassen dafür belohnt, so zu agieren, als gebe es nichts außer ihr: Belohnt wird, was den Zweck der Institution erfüllen hilft. Jemanden, der sich auf diese Vereinseitigung gut versteht, nennt man anerkennend "professionell". Unsere Professionalität ist also unser Kapital in den "Arbeitswelten", nicht unser kritisches Nachfragen darüber, welche Rolle unsere Erwerbsarbeit wohl in der Welt insgesamt genau spielt. Das zeigt sich auch in der Gestalt der (noch) herrschenden Wirtschaftswissenschaft: Sie ist fixiert auf die Transaktionen, die Unternehmen und staatliche Akteure betreiben, und betrachtet ihre Folgen außerhalb dieser Institutionen als "Externalitäten". Sie werden in ihrer Buchhaltung nicht abgebildet, weil sie sich weder in Budgets noch in der Gewinn- und Verlustrechnung direkt spiegeln.