Ist Ehrgeiz eine Tugend?
Seite 2: Fragloser Gehorsam als Professionalität
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"Arbeitswelten" sind wie Pfeile: Jede zielt auf einen eng begrenzten Zweck hin; Insofern lenkt unsere Einbindung in die "Arbeitswelt" uns jeden Tag von der Wirklichkeit ab. Denn zur erfolgreichen Ausführung einer bestimmten Funktion reicht uns Professionalität, das heißt der im Wortsinne fraglose Gehorsam gegenüber dem Zweck der Institution, in deren "Arbeitswelt" wir stecken.
Die Betreiber unserer Unternehmen, Verwaltungen und sonstigen Einrichtungen werden dabei dauernd vom Bedenken der größeren sozialen Zusammenhänge abgehalten. Die diversen eigenständigen Ziele unserer "Arbeitswelten" drohen, unsere Vernunft auszuschalten - unseren Blick für das Ganze der Zusammenhänge und unsere Sorge um seine richtige Einrichtung. Kollektiv verschlafen wir deshalb aufgrund unserer zweckbeschränkten Arbeitsumgebungen die Wirklichkeit immer in gewissem Grade.
Hat dieses pathologische Verpennen der Wirklichkeit einen Grad erreicht, der unsere Institutionen und unsere soziale Stabilität gefährdet, dann haben wir eine Krise. In dieser Situation müssen die professionellen Scheuklappen abgenommen werden. Die Wirklichkeit muss wieder in Betracht gezogen, die Frage nach dem gut geordneten Ganzen muss neu beantwortet und die "Arbeitswelten" müssen an diese neue Antwort angepasst werden.
An diesem Punkt sind wir jetzt, an dem wir erkennen, dass unser spekulationsbasiertes Finanzsystem und unser konsumtives Wirtschaftssystem sich auf mittlere Sicht selbst beenden werden.
Ehrgeiz: Das Gegenteil moralischer Eigenständigkeit
Die gerade beschriebene Dynamik unserer "Arbeitswelten" können wir als einzelne nur bedingt verändern, leiten wir nicht gerade unser eigenes Unternehmen. Jedoch haben wir es in der Hand, uns ein genaueres Bild des psychologischen Treibstoffs des industriellen Systems zu machen und daraus dann im Alltag Konsequenzen zu ziehen. Dieser psychologische Treibstoff des Betriebs ist das ehrgeizige Streben nach Erfolg.
Ehrgeiz hat einen unverdient guten Ruf. Wir meinen gewöhnlich, dass Ehrgeiz etwas Gutes sei, solange er sich auf etwas Gutes richte. Diese Sichtweise ist deshalb so verbreitet, weil sie uns in der für das industrielle System richtigen Richtung motiviert. Aber sie ist falsch. Als persönliche Eigenschaft betrachtet ist Ehrgeiz der Wille, um des Erfolges willen so zu erscheinen, wie die anderen mich mutmaßlich gerne hätten, denn "Ehre" ist ein soziales Phänomen - womit sich der Ehrgeiz von der simplen Zielstrebigkeit unterscheidet.
Tatsächlich ist Ehrgeiz das Gegenteil moralischer Eigenständigkeit und sabotiert unser kritisches Nachdenken und damit auch unsere Kreativität von Grund auf. Ehrgeiz ist, wie Wittgenstein einmal bemerkt, "der Tod des Denkens".
Ablenkung von den eigenen Wertvorstellungen
In unseren "Arbeitswelten" ist das, was von mir erwartet wird, als "Professionalität" meist klar definiert. Unser Verhalten vorsichtig nach diesen Erwartungen auszurichten ist die Voraussetzung jedes erfolgreichen Karriereschritts. Folgen wir diesem Muster des ständigen, mühevollen Erratens fremder Erwartungen, so lenken wir uns damit permanent von unserem eigenen Nachdenken und von unseren eigenen Wertvorstellungen ab. Insoweit wir ehrgeizig sind, verzichten wir darauf, uns an unserer eigenen Beurteilung der Sachverhalte zu orientieren und übernehmen stattdessen tendenziell die Haltung, die wir bei den maßgeblichen anderen vermuten.
Ehrgeizig sein bedeutet eine stete innere Verrenkung: Wir kehren ein für andere simuliertes Innenleben nach außen in der Hoffnung, damit "weiterzukommen". Das ist psychologisch anstrengend, entfremdet uns von den eigenen Gedanken und Werten und ist insofern gerade nicht der berühmte Weg des geringsten Widerstands.
Ehrgeiz ist das Gegenteil moralischer Eigenständigkeit, seine Kultivierung ist willentliche moralische Selbstaufgabe. Und anders als unsere Zugehörigkeit zu dieser oder jener "Arbeitswelt", die wir zum Überleben nötig haben, erfolgt diese Kapitulation immer in persönlicher Verantwortung.
Daraus erklärt sich, dass Ehrgeiz geradezu als Leittugend der Industriegesellschaft erscheint und durchweg positiv verstanden wird. Der planvolle, ja sportliche Eifer, zugunsten des Fortkommens auch ja so zu erscheinen, wie die anderen mich mutmaßlich gerne hätten, ist das zuverlässigste äußere Zeichen der Systemfrömmigkeit eines Menschen: Man zeigt Desinteresse an eigenen Wertungen und Haltungen und demonstriert damit "Einsetzbarkeit".
Ehrgeizige Konformisten machen gerade keinen Unterschied, und deshalb werden sie von unserer (wie auch jeder anderen) etablierten Ordnung bevorzugt herangebildet. Neben der Wirklichkeitsentfernung, in die wir in unseren "Arbeitswelten" geraten können, ist es also auch unser Ehrgeiz, der uns zu treuen Matrosen unseres sinkenden Schiffs macht.
Eigenständiges Denken als Gegenmittel
Die Krise unseres Wirtschaftssystems verlangt es, überkommene Strukturen infrage zu stellen und wirklich Neues – das heißt dem Establishment Verhasstes – auf den Weg zu bringen. Dazu braucht es Mut zum eigenen Urteil. Darin liegt meines Erachtens der Kern von Moralität: Wir behalten uns aufgrund eigenen Nachdenkens ein Veto gegen das vor, was in unserer Umgebung gesagt und getan wird.
Anstatt um des Erfolges willen einfach eifrig (und vor allem für Umstehende bestens sichtbar…) mehr vom Gleichen zu liefern, rafft sich die moralische Person auf, die Dinge selbst zu beurteilen und danach zu handeln. Genau diese Praxis ist das Gegenmittel zum ehrgeizigen Konformismus, der in unseren Karrieren angelegt ist - das Gegenprogramm, mit dem wir unsere Welt verändern können.
Michael Andrick ist Philosoph und Manager aus Berlin mit internationaler Arbeitserfahrung und einer Philosophischen Kolumne in der Berliner Zeitung. Sein kurzes Buch Erfolgsleere – Philosophie für die Arbeitswelt (Verlag Karl Alber 2020) ist zugleich Gegenwartsdiagnose und Heranführung ans Philosophieren.
Dieser Text ist in ähnlicher Form zuerst erschienen in Forum Nachhaltig Wirtschaften 06/2021.