"Das Tragische am Bandera-Kult ist, dass Ukrainer oft nicht wissen, wen sie eigentlich verehren"

Stepan-Bandera-Statue in Ternopil (etwa 80 km östlich von Lwiw). Bild: Mykola Vasylechko / CC-BY-SA-4.0

Ein Gespräch mit dem Historiker Grzegorz Rossoliński-Liebe über den Bandera-Kult, die Aufarbeitung der Geschichte in der Ukraine, Putin und den Umgang mit der kulturellen Vielfalt in dem heterogenen Land.

Herr Rossoliński-Liebe, mit dem Krieg in der Ukraine ist auch die historische Figur Stepan Bandera in den Fokus der Öffentlichkeit geraten. In der Süddeutschen Zeitung bezeichnete Heribert Prantl ihn kürzlich als Nazi-Kollaborateur. Der ukrainische Botschafter in Deutschland, Andrij Melnyk, antwortet ihm öffentlich, man wolle sich nicht von Deutschen vorschreiben lassen, wen Ukrainer verehren sollen. Ist das Gedenken an Stepan Bandera ihrer Meinung nach unproblematisch?

Grzegorz Rossoliński-Liebe: Das Gedenken an eine Person, die ukrainischen Nationalismus radikalisierte, ukrainischen Faschismus maßgeblich prägte und der Führer eines ethnisch-homogenen Staates in Hitlers "Neuen Europa" werden wollte, ist aus demokratischer Perspektive eindeutig problematisch.

Es ist aber interessant, dass solche Themen in der Öffentlichkeit erst jetzt diskutiert werden, nachdem Putin die Ukraine im Februar 2022 angegriffen hatte. Meine Biographie von Stepan Bandera wurde Ende 2014 veröffentlicht. Per Anders Rudling, Franziska Bruder, Alexander Prusin, Omer Bartov, Kai Struve, John-Paul Himka und andere Kolleginnen und Kollegen haben ihre Publikationen zum Holocaust und Zweiten Weltkrieg in der Ukraine auch schon vor ein paar Jahren vorgelegt. Sie wurden aber nur in kleinen Kreisen rezipiert und wirkten sich kaum auf die Öffentlichkeit und geschichtspolitischen Diskurse in der Ukraine, Deutschland, Polen oder Russland aus. In etwas größerem Umfang wurden sie in Israel, Nordamerika und anderen englischsprachigen Ländern rezipiert.

Grzegorz Rossoliński-Liebe arbeitet als Historiker an der Freien Universität Berlin. Im Jahr 2014 erschien seine Biografie über den ukrainischen Politiker Stepan Bandera. Er ist ein Experte für die jüdische, ukrainische, polnische und russische Geschichte sowie die Geschichte des Holocaust, Faschismus, Antisemitismus und Nationalismus.

Bandera schloss sich damals der 1929 in Wien gegründeten Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) an, die eine inhaltliche Nähe zum italienischen Faschismus pflegte. Durch welche Positionen zeichnete sich die OUN aus? Und kann man Bandera als Faschisten bezeichnen?

Grzegorz Rossoliński-Liebe: Der Faschismus wurde in der Ukraine bereits in den frühen 1920er Jahren rezipiert. Zuerst aus Italien und später in den 1930er Jahren überwiegend aus Deutschland. Hitler war wegen seines kompromisslosen Antisemitismus in der OUN beliebt. Zugleich wurde der ukrainische Faschismus auf der Basis des radikalen ukrainischen Nationalismus konzipiert.

Verwirrend ist, dass ukrainische Faschisten sich relativ selten "Faschisten" bezeichneten, obwohl sie sich als Faschisten verstanden. Sie benutzten überwiegend den Namen "Nationalisten". Dahinter stand die Überlegung, dass Faschismus keine genuine ukrainische Bewegung war und dass sie als Agenten von Mussolinis Italien oder Hitlers Deutschland wahrgenommen werden konnten.

In den Diskursen, die sie in ihren eigenen Publikationen führten, setzte sich die Idee, dass die OUN faschistisch ist, spätestens in den frühen 1930er Jahren durch. Seitdem war allen Mitgliedern der Bewegung klar, dass zwischen radikalem Nationalismus und Faschismus kein Widerspruch besteht und dass sie zugleich Nationalisten und Faschisten sind.

Viele waren auch stolz, einer europäischen, transnationalen Bewegung zuzugehören, die von Mussolini und Hitler angeführt wurde. Die Erfindung des ukrainischen Faschismus ist auch deshalb interessant, weil in der Zwischenkriegszeit kein ukrainischer Staat bestand. Die Konzeptualisierung des Faschismus verlief aus diesem Grund ähnlich wie in Kroatien, das ein Teil von Jugoslawien war. Die OUN arbeitete mit der kroatischen Ustascha zusammen. Beide wurden in denselben Orten in Italien mit Mussolinis Unterstützung ausgebildet.

Bandera, der 1933 zum Führer der OUN in der Westukraine (damals Südostpolen) gewählt wurde, nahm an der Erfindung des ukrainischen Faschismus aktiv teil. Während der Gerichtsverfahren in Warschau und Lemberg 1935 und 1936, die wegen des Attentats auf den polnischen Innenminister Bronisław Pieracki geführt wurden, trat er wie der Führer einer faschistischen Bewegung auf, die die Ukraine befreien will. Im Gerichtsaal wandten OUN-Angeklagte mehrmals den faschistischen Gruß "Slava!" (Ehre) und "Slava Ukraïni!" (Ehre der Ukraine) an, um Bandera und andere Mitglieder zu begrüßen, obwohl sie deshalb zusätzliche Strafen erhielten. Sie waren stolz, Faschisten zu sein und empfanden keinen Widerspruch zwischen Faschismus und Nationalismus.

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