Deutsche Lehren aus dem Ukraine-Krieg

Wie sich die Koalition bei dem Versuch verheddert, sich vom außenpolitischen Druck der USA und der energiepolitischen Abhängigkeit von Russland zu befreien

In diese Situation will die deutsche Politik nicht noch einmal kommen: Abhängig sein von US-amerikanischer Übermacht und von unbotmäßigen Energielieferanten. Also rüstet sie auf und um, koste es, was es wolle. Und verabschiedet sich unter Schmerzen von den bislang nützlichen Sonderbeziehungen zu Russland.

Die deutsche Außenpolitik müsse ihre "Prinzipien neu überdenken" und "noch handlungsfähiger werden", sagte Tobias Lindner, Staatssekretär im Auswärtigen Amt, Ende Januar in einer Online-Veranstaltung der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik.

Alle "Politikfelder" seien "internationalisiert": Pandemie, Lieferketten, Arm und Reich und natürlich der Klimawandel. Russland müsse mit "ökonomischer Abschreckung" begegnet werden – um es vom Eingreifen in der Ukraine abzuhalten. Die Gesprächskanäle müssten jedoch offen gehalten werden, zum Austausch über russische und deutsche Sicherheitsinteressen.

Damals wies die rechte Hand von Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) die Kritik der USA zurück, Deutschland sei ein "schwarzes Loch" im Westen, es liefere keine Waffen in die Ukraine, halte an der Erdgaspipeline Nord Stream 2 fest.

Seit 2014 habe man schließlich im Wert von 13 Millionen Euro Unterstützung geleistet, hielt der Staatssekretär dagegen: mit einem Feldlazarett und der Ausbildung von ukrainischen Offizieren. Mit Blick auf seine Vorgänger im Amt kritisierte Tobias Lindner allerdings die Außenpolitik als "inkongruent" – ein Lazarett für Kiew, aber Waffen für Kairo?

Und für das Verhältnis zu China bräuchte es eine neue Strategie. Dieser Staat sei gleichermaßen "Partner und systemischer Rivale". Die Europäische Union müsse Peking gegenüber "selbstbewusster" auftreten. In puncto PR sei China einfach "derzeit besser". Überhaupt sei eine generelle neue nationale Sicherheitsstrategie vonnöten. Diese müsse integriert sein im "Kompass" von Nato und EU.

So schnell kann es gehen: Gut einen Monat später bereits liefert Deutschland Waffen an die Ukraine, stoppt Nord Stream 2, und von "offenen Gesprächskanälen" in Bezug auf russische Sicherheitsinteressen ist keine Rede mehr.

Das Credo von Staatssekretär Lindner hat aber Bestand: Deutschland müsse "handlungsfähiger" werden, bläuen die politisch Mächtigen bei jeder Gelegenheit ihrem Volk ein. Mit der "Internationalisierung" der "Politikfelder" ist eine harte Diagnose gemeint – Deutschland muss viel stärker werden, um in der Welt auf allen Gebieten mindestens die Regeln mitzubestimmen, wenn nicht gar sie zu bestimmen.

Das geht aktuell gegen Russland, doch ebenfalls gegen China, alsbald wohl hauptsächlich. Und zur Handlungsfähigkeit gehört, selbstständig gegen widerspenstige bis feindliche Staaten vorgehen zu können – auch ohne die USA.

Die bisherigen Russland-Beziehungen: ein Abgrund an Landesverrat

Bundeskanzler Olaf Scholz spricht von einer "Zeitenwende", die alles verändere, vor allem den Umfang der deutschen Aufrüstung. Außenministerin Baerbock will Russland "ruinieren" und spielt sich gleichzeitig als Hüterin von "Werten auf, gegen die sich kein Staat auf der Welt versündigen darf. Natürlich definiert das "gute" Deutschland diese Werte.

Für Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier haben die "Repräsentanten der Ukraine (…) jedes Recht, Russland anzuklagen und Solidarität und Unterstützung ihrer Freunde und Partner einzufordern. Die von Russland verübten Kriegsverbrechen sind vor den Augen der Welt sichtbar".

Und er bittet pflichtschuldigst um Verzeihung, denn jetzt gilt das bisher gepflegte Verhältnis zu Russland als eine Art Landesverrat:

Mein Festhalten an Nord Stream 2, das war eindeutig ein Fehler. Wir haben an Brücken festgehalten, an die Russland nicht mehr geglaubt hat und vor denen unsere Partner uns gewarnt haben.

Das Urteil steht für die deutschen Herrschaften also fest, und nicht nur für sie, sondern ganz im Einklang damit auch für Wirtschaft, Kultur, Medien, schlicht für die Elite der hiesigen Gesellschaft: Russland muss mit allen Mitteln bekämpft werden.

Ein bemerkenswerter Schwenk, wenn man sich an die deutsche Ostpolitik erinnert, bevor der Konflikt in der Ukraine Fahrt aufnahm. Und wenn man bedenkt, wie viele Schäden Deutschland für sich in Kauf nimmt, um Moskau empfindlich zu treffen.

Die Bundesregierungen seit dem Beginn der "Entspannung" in den 1970er-Jahren haben ihre jeweils guten Gründe gehabt, warum sie besondere Beziehungen zur Sowjetunion und später zu Russland unterhielten. Das wird heute geflissentlich ignoriert bei der Kritik an der "Ära Merkel" und ihren Vorgängern, sie hätten "Putin" hofiert und sich abhängig von Energielieferungen gemacht.

Gerade die Geschäfte mit Gas, auch mit Kohle und Öl, haben Deutschland eine Menge Vorteile gebracht – wirtschaftlich und politisch, bis heute. Aber dass dabei auch der Geschäftspartner einen Nutzen hatte, gilt nun als Unding – weil es sich um den Kriegsgegner handelt.