Großbritannien: Eiskalte Zeiten

"Liz Truss ist noch mehr als Boris Johnson eine Endzeitfigur." Bild (November 2021): Simon Dawson / No10 Downing Street / Open Government Licence v3.0

Güte, Ausgleich, Mitgefühl sind mit Liz Truss vom Tisch. Die Energiekrise hat das UK erfasst. Erbarmungslose neoliberale Politik und kurzsichtige Planung bilden einen gefährlichen Cocktail. Der Widerstand von Bürgern, die ihre Energierechnungen nicht mehr zahlen wollen, wächst.

Den beliebten deutschen Weihnachtsmarkt in der Stadt Leeds wird es dieses Jahr wohl nicht geben. Weihnachtsmärkte in Glasgow, Edinburgh, möglicherweise in Cambridge und vielleicht sogar der im Londoner Hyde-Park-Markt sind gecancelt, ohne Nennung von Gründen, oder weil die Veranstalter abgesprungen sind. Wenn Weihnachten abgesagt wird, dann ist das kein gutes Zeichen.

Die Situation spitzt sich überall in Europa zu, in Großbritannien mit erhöhter Geschwindigkeit. Neu sind die Verelendungserscheinungen nicht. Angeblich war es im Berlin der späten 1920er Jahre häufig, dass Menschen ihre beste Kleidung anlegten, gut essen gingen und dann sagten, sie hätten schlicht kein Geld, um das Essen zu bezahlen. Aber was sollten sie tun?

Im Nach-Brexit, von Energiekrisen und Inflation gebeutelten Großbritannien legen die Einkäufer an der Supermarktkasse das Geld hin, das noch vorhanden ist. Dann der fragende Blick und die verzweifelte Erklärung: “I gotta eat.“

Der nächste Kunde springt mit Geld ein oder auch die Kassierer. Die Konfrontation mit quälender Armut ist für alle Beteiligten eine seelische Belastung.

Trussonomics auf Crashkurs

Die Stimmung ist so schlecht, dass einige auf der Straße befragte Passanten bereits wieder Boris Johnson nachtrauern. Seine – das muss man ihm lassen – heitere Herangehensweise an Probleme, die zu verstehen ihm schlicht nie in den Sinn kam, fehlt jetzt schmerzlich. Aus Downing Street blickt nun das kalte Gesicht der schamlosen Macht den Menschen entgegen.

Liz Truss ist noch mehr als Boris Johnson eine Endzeitfigur. Ihr darf wiederum zugutegehalten werden, dass sie aus ihrer Härte keinen Hehl macht. Sie hat nur wenige Tage im Amt gebraucht, um so beliebt zu sein wie Nagelpilz.

Ihre Vorgänger, von Cameron über May bis hin zu Boris Johnson, hatten stets Mitgefühl im Propaganda-Mix. Sie wollten "Ungerechtigkeit" bekämpfen, eine "große Gesellschaft" errichten und (irgendwie) für "Ausgleich" (levelling up) sorgen. Nichts davon haben sie selbstverständlich getan, aber Truss gibt sich nicht einmal mehr die Mühe Rhetorik dieser Art auszupacken.

Sie kündigt klar an, dass die Sozialleistungen nicht an die rasende Inflation angepasst werden. Zwar regt sich hier aktuell Widerstand in der eigenen Fraktion, aber jede Stärkung des Sozialstaats ist konträr zur Ökonomie der Premierministerin. Ihr recht unverhohlen angepriesenes Ziel liegt ja eben darin, die Krise zu nutzen, um den ungeliebten Staat schrumpfen zu lassen.

Zwar gewährte sie gleich zu Beginn ihrer Amtszeit einen Energiepreisdeckelung, aber dies war der Not geschuldet. Die teilweise Vervierfachung der Strom- und Gasrechnungen ist ganz offensichtlich für viele, auch im unteren Mittelstand, nicht mehr zu stemmen. Das Geld ist aber nur gestundet. Statt die märchenhaften Gewinne der Energieunternehmen zu besteuern, muss der Rest der Kosten wohl im nächsten Frühjahr von den Haushalten beglichen werden.

Das ist die eiserne Lady als Eisprinzessin. Gedankenspiele von Labour-Chef Keir Starmer, einen staatlichen Energiekonzern zu gründen, der grünen Strom produziert und partnerschaftlich von Regierung, Unternehmen und Gemeinden betreiben wird, kämen Truss nicht einmal im Traum in den Sinn.

Sie steht für Thatchers Credo, es sei einfacher für eine Regierung ein privates Unternehmen zu kontrollieren, als ein staatliches. Unausgesprochener, aber in der Praxis leicht ablesbarer Subtext: Die Kontrolle sieht so aus, dass es keine gibt. Die Unternehmen erbeuten die Gewinne, die Öffentlichkeit steht vor dem Scherbenhaufen zerfallender Infrastruktur.

Truss ist Turbo-Thatcher. Sie hat es geschafft innerhalb von wenigen Tagen das Pfund in nie erreichte Tiefen zu führen, die Anleihen drastisch zu verteuern und die ohnehin schon trüben ökonomischen Aussichten nochmals enorm zu verfinstern. Ob ein wirklicher Plan dahinter steckt?

Schwer zu sagen, nur mit Sicherheit erfüllt dies die Oligarchen-Träume. Denn endlich kann der Sparzwang durch wirtschaftlichen Niedergang begründet werden und die Einsparungen und Privatisierungen vorgenommen werden, die man immer geplant hatte. "Disaster Capitalism made in the UK."

Der Widerstand wächst

Güte, Ausgleich, Mitgefühl sind mit Liz Truss vom Tisch. Insofern ist die Einstellung der Weihnachtsmärkte durchaus folgerichtig. Die Lebenskosten sind so hoch geworden, dass viele Menschen ihre Grundbedürfnisse nicht mehr decken können. Sie beginnen sich nun zu organisieren.

Zur kontrapunktisch eingesetzten 1990er Dance-Hymne "Freed from Desire" (Ohrwurm-Zitat: "My love has got no money") verbrennen Familien ihre Rechnungen in Ölfässern auf der Straße. Die Stimmung ist gut, denn so fühlt sich Selbstermächtigung an. Per WhatsUpp aufgerufen, kamen Anfang Oktober Tausende zu den in 18 Städten abgehaltenen "Don’t Pay"-Protesten. Plakate der Extinction-Rebellion verraten die thematische Nähe anderer Kämpfe. Auch Gewerkschaften unterstützen die Bewegung.

Die Organisation "Don’t Pay UK" hat bereits Hunderttausende Verpflichtungen von Bürgern eingesammelt ihre Energierechnung nicht zu bezahlen. Die Grassroots-Bewegung will die Schwelle von einer Million erreichen und dann empfehlen tatsächlich nicht zu bezahlen.

Ein Akt des zivilen Ungehorsams der nicht ohne Gefahren ist. Wer nicht zahlt, kann zur Strafe einen jener berüchtigten PrePay-Zähler installiert bekommen. Dann gibt es Energie nur mehr gegen Vorausbezahlung.

Louis Ford ist einer der Organisatoren von “Don’t Pay UK“. Im Fernsehinterview sieht er aus wie ein Mann, der nicht mehr weiter weiß. Selbst die von der Organisation anvisierte Deckelung der Energiepreis auf den Stand von April 2021 wäre zu viel für viele Haushalte aufgrund der allgemeinen Teuerung.

Kleine Kinder, schlecht bezahlter Job und das Geld reicht bald nicht einmal mehr für die Grundnahrungsmittel. Die weitere, rasende Erhöhung der Energiekosten ist einfach zu viel. Den sprichwörtlichen britischen Humor kann Louis Ford aus Hull nicht mehr finden, er ist einfach verzweifelt.

Was viele Aktivisten betonen: Wir sind so lange schon arm. Wenn uns jetzt in den Medien generöse Tipps zum Energiesparen gegeben werden, dann bringt dies das Fass zum Überlaufen. Das Sparpotenzial ist unten längst aufgebraucht. Gerade bei der Energie hilft jetzt nur mehr abschalten und hoffen der milde Golfstrom macht den Winter einigermaßen erträglich. Nur, Kälte quält mit der Dauer. Wer es wochenlang nie richtig warm hat, wird krank.

Sicherlich kann in den typischerweise schlecht isolierten britischen Häusern viel getan werden. Doppelte Verglasung, Isolation der Dachböden etc. Das steht aber ärmeren Familien, die ohnehin nur zur Miete wohnen, als Option nicht offen. Sie können Schals aufs Fensterbrett stopfen und damit sind ihren Möglichkeiten erschöpft.

Die geplante Kampagne der britischen Regierung zum effizienten Energiesparen mit konkreten Tipps wurde übrigens von Liz Truss eingestampft. Einfach zu teuer.