Raketeneinschlag in Polen: Wohl doch kein Nato-Bündnisfall

Im Pentagon wurden zunächst Informationen ausgewertet. Foto: David B. Gleason / CC0 1.0

Themen des Tages: Wie schnell ein Versehen zur Eskalation führen kann. Warum das Ende der menschlichen Zivilisation nicht als großer Knall daherkommen muss – und was bisher gegen ein Ende in Zeitlupe getan wird.

Liebe Leserinnen und Leser,

1. Kommt der Dritte Weltkrieg aus Versehen?

2. Wird die Klimakatastrophe noch immer unterschätzt?

3. Wie geht der Ausbau der Erneuerbaren Energien weltweit voran?

Aber der Reihe nach.

Es war ein Morgen, an dem nicht nur Fans der US-Außenpolitik froh sein mussten, dass es im Pentagon doch etwas besonnener zugeht als in der Bild-Redaktion.

"Nichts Genaues weiß man nicht" wäre für das Boulevardblatt eine unbefriedigende Aussage gewesen, als am Dienstag eine Rakete im polnischen Przewodow nahe der ukrainischen Grenze einschlug und zwei Menschen tötete. "Ob ein Versehen oder nicht – dies ist ein bewaffneter Angriff auf Nato-Territorium", hieß es dort stattdessen. Letzteres wäre der Bündnisfall und hätte der endgültige Auslöser des Dritten Weltkriegs inklusive atomarem Schlagabtausch zwischen Russland und der Nato sein können.

Die zwei wahrscheinlichsten Möglichkeiten sind: Entweder Putins Soldaten haben aus Versehen Polen getroffen. Sie sind oft schlecht ausgebildet und betrunken. Dann muss sich der Tyrann formvollendet entschuldigen, sozusagen auf Knien um Vergebung betteln, während bewaffnete Nato-Kampfflugzeuge um sein Land fliegen. (...)

Oder Putin hat die Nato mit Absicht angegriffen. Dann muss das Militärbündnis hart zurückschlagen. Denn die Nato kann ihr Territorium nicht einfach bombardieren lassen, ihre Bürger nicht im russischen Bombenhagel sterben lassen. Putin reagiert nur auf Gewalt.


Bild-Chefredakteur Johannes Boie

Tatsächlich verdichteten sich am Mittwochmorgen die Hinweise, dass die für zunächst für unwahrscheinlich gehaltene dritte Möglichkeit zutrifft. Die Rakete könnte aus einem S-300-System der ukrainischen Luftabwehr stammen.

US-Präsident Joe Biden lagen nach eigener Aussage Informationen über die Flugbahn vor – die Rakete sei wahrscheinlich nicht von Russland aus abgefeuert worden, sagte Biden laut Spiegel online am Mittwochmorgen (Ortszeit) auf der indonesischen Insel Bali, wo er anlässlich des G20-Gipfels weilt.

Polens Präsident Andrzej Duda erklärte, es gebe noch keine gesicherten Erkenntnisse zur Frage, wer für den Abschuss der Rakete verantwortlich sei. Er sprach aber von einem "isolierten" Vorfall. Es deute nichts darauf hin, dass mit weiteren Raketeneinschlägen zu rechnen sei.

Die medizinische Friedensorganisation IPPNW hatte in diesem Jahr mehrfach vor einem "Atomkrieg aus Versehen" gewarnt. Wer zuerst die Nerven verliert, wäre in der Konsequenz egal. Mit Antje Vollmer warnte nun auch eine ehemalige Bundespolitikerin der Grünen im Gespräch mit Telepolis vor der Eskalationsspirale:

Jetzt hilft nur noch die Weisheit des westfälischen Friedens. Die aber heißt: Wir fangen an, unsere gegenseitigen Sicherheitsbedürfnisse ernst zu nehmen. Wir akzeptieren unsere Unterschiede. Wir regeln mit Verhandlungen, was wir zu regeln vermögen. Den Rest muss eine höhere Macht oder die zukünftige Generation bewältigen. Erst einmal müssen die Waffen schweigen.


Antje Vollmer

Klimapolitik "auf Crashkurs" mit dem Planeten

Die vergangene Nacht hat zumindest gezeigt, dass auch die Verantwortlichen der Großmächte irgendwie noch am Leben hängen und im Ernstfall einen kühlen Kopf behalten können. Aber wie sieht es aus, wenn der große Knall ausbleibt, wenn aber das Ende der menschlichen Zivilisation in Zeitlupe droht?

Die deutsche Klimapolitik der letzten Jahre und Jahrzehnte, wie sie aktuell immer noch fortgesetzt wird, ist "auf Crashkurs" mit dem Planeten, wie Telepolis-Autor Wolfgang Pomrehn schreibt.

Weltweit gesehen verbleiben noch 380 Milliarden Tonnen CO2, um bei der menschengemachten Erderwärmung die 1,5-Grad-Celsius-Grenze nicht zu überschreiten. Wenn die Emissionen auf diese Menge beschränkt werden können, gibt es zumindest eine 50-Prozent-Chance, dass die Erwärmung nicht größer wird.

Interessant wird es, wenn man diese 380 Milliarden Tonnen CO2 gleichmäßig auf alle acht Milliarden Erdenbewohner verteilt. Dann entfielen auf Deutschland noch knapp vier Milliarden Tonnen, also so viel, wie in den letzten fünfeinhalb Jahren in die Luft geblasen wurden.

Die im Klimaschutzgesetz fixierten Emissionsziele sehen hingegen einen Treibhausgasausstoß von rund fünf Milliarden Tonnen zwischen 2023 und 2030 vor, wobei die Emissionen des Militärs noch nicht mitgerechnet sind, für die es keinerlei Begrenzungen gibt. Außerdem ist keinesfalls geplant, die Treibhausgasemissionen ab 2031 einzustellen.


Wolfgang Pomrehn

Wo die Richtung stimmt, das Tempo aber noch nicht ausreicht

Da ist es schon fast ein Grund zur Erleichterung, dass größere Volkswirtschaften wie China beim Ausbau der Erneuerbaren Energien deutlich schneller sind als Deutschland – wenn auch noch nicht schnell genug.

Als Land mit großen Küstenmetropolen scheint China der Thematik aber auch aus Eigeninteresse eine höhere Priorität einzuräumen und ging beim G20-Gipfel erkennbar auf Distanz zu Russland, um eine Verschärfung der Ost-West-Konfrontation in Zeiten multipler Krisen zu vermeiden.