Wer hat Angst vor der Katar-WM?

Bild: tabitha turner/Unsplash

Die moralisierende deutsche Frage zur "Blut-WM": Wie schlecht müssen wir uns fühlen, wenn wir die Spiele anschauen?

Katar war schon immer ein wichtiger ökonomischer und politischer Partner des Westens. "Ein strategischer Partner", wie das neuerdings im Diplomatendeutsch heißt. Jetzt, seit der politisch induzierten Energiekrise in Westeuropa, ist Katar auch ein Gaslieferant, von dem die Bundesrepublik in Teilen abhängig ist.

Dass die WM gekauft wurde, dass die FIFA in weiten Teilen korrupt ist – daran gibt es schon seit längerer Zeit kaum Zweifel. Allein schon, weil es ursprünglich die Bedingung in der WM-Ausschreibung war, dass die Weltmeisterschaft im Sommer stattfindet.

Ein Bericht in der Süddeutschen Zeitung enthüllte in der vergangenen Woche unter dem Titel "Der große Deal" (SZ vom 15.11.22) im Detail, wie die Fifa unter Gianni Infantino zu einer kriminellen Organisation und einem korrupten Skandalunternehmen wurde. "Die Justiz schaut zu" schrieben Johannes Aumüller, Claudio Catuogno und Thomas Kistner und enthüllen die Geschichte eines schmutzigen Masterplans.

Der lange Arm der Scheichs: Werden jetzt auch Spiele verkauft?

Werden jetzt auch die Spiele gekauft? Es spricht viel weniger dagegen, dass auch einzelne Spiele gekauft werden, als dass alles vollkommen sauber zugeht. Zum Beispiel das relativ arme lateinamerikanische Land Ecuador, das sich überraschend souverän und noch vor Uruguay als Dritter der lateinamerikanischen Qualifikationsrunde für die Fußball-WM qualifiziert hatte.

Oder auch der Senegal, der sich nur als Vierter Afrikas qualifiziert hatte. Beide Gruppengegner der Nationalmannschaft Katars sind anfällig für Korruptionsangebote seitens des superreichen Emirats.

Wenn dessen traditionsloses No-Name-Team jetzt irgendwelche Erfolge hat, sich klar qualifiziert, wird man das nicht anders verstehen können, als weiteren Ausdruck des langen Arms der Ölscheichs, der bereits Europas Fußball zunehmend gekauft hat (vgl. hierzu die ZDF-Dokumentation Die Skandal-WM - wie Katar den Fußball kauft).

Die zuletzt relativ kritische Berichterstattung vor allem im ZDF bis hin zu neuen Enthüllungen der Affaire um Ex-Bayern-Boss Karl-Heinz Rummenigge, dem der ZDF-Film indirekt unterstellt, dass er sich von Kataris hat bestechen lassen, ist verwunderlich und zeugt – wie die anderer öffentlich-rechtlicher Sender – von erstaunlicher Doppelmoral.

Denn es ist unverständlich und ein verantwortungsloser Umgang mit öffentlichen Geldern, wenn die öffentlich-rechtlichen Sender auf der einen Seite 220 Millionen Euro dafür bezahlen, dass sie diese Spiele zeigen dürfen, jetzt aber moralisch-aufgeregte Debatten darüber führen, ob man die Spiele sehen soll.

Soll man die WM-Spiele im Fernsehen anschauen?

Soll man die WM-Spiele im Fernsehen anschauen? Gegenfrage: Was wird besser dadurch, dass wir nicht hinschauen? Was geschieht, wenn jetzt ein paar Millionen nicht den Fernseher einschalten?

"Können wir uns unbeschwert die Fußball-WM anschauen?", fragte auch der Deutschlandfunk kürzlich im Interview ausgerechnet Gregor Gysi.

Vermutlich, weil man sich vom Star-Politiker der Linken und erklärtem Fan des FC Union Berlin einen zur Schau getragenen Zwiespalt zwischen Moral und Glück erhoffte. So wie, wenn es nach einem bestimmten Teil der deutschen Leitmedien geht, sich der Deutsche schlecht fühlen und beschwert fühlen soll, wenn er die Heizung aufdreht, weil er damit angeblich "Putins Krieg" aktiv unterstützt.

Oder er sich beschwert fühlen soll, wenn er Fleisch isst und Avocados, weil er damit angeblich den Untergang der Welt aktiv vorantreibt, anstatt ihn, wie es die moralische Pflicht gebietet, noch aktiver zu verhindern.

Trotzdem kann man auf die Frage "Können wir uns unbeschwert die Fußball-WM anschauen?" nur antworten: falsche Frage, dumme Frage. Sie heißt eigentlich auf Deutsch: "Müssen wir uns schlecht fühlen?" Es ist das übliche Moralisierungsdeutsch, das konkrete politische Fragen in diffuse Gefühligkeit verwandelt.

Besser hätte der Deutschlandfunk pragmatisch gefragt: Was bringt ein Boykott? Wozu ist ein Boykott gut? Wen trifft ein Boykott? Was kann man überhaupt boykottieren? Und schließlich: Hat Katar einen Boykott verdient?

Das sind alles Fragen, die man auch bei Sanktionspolitiken stellen könnte. Im Fall von Russland, China oder dem Iran werden sie gestellt. Da gibt es in deren Folge dann wirtschaftliche Sanktionen. Im Fall Katars wird man sich vor solchen Sanktionen hüten, denn das Land mit dem höchsten Pro-Kopf-Einkommen der Welt sitzt am längeren Hebel.

Stattdessen soll es im Fußballsport plötzlich moralische Sanktionen geben: Wir sollen uns "beschwert" fühlen, wenn wir die Fußball-WM anschauen, oder sie am besten gar nicht anschauen und unbeschwert sein.

"Wenn ich das boykottiere, boykottiere ich ja nicht Katar", skizzierte Gregor Gysi kühl seine Position. "Ich bin dagegen, dass wir immer dagegen sind." Wenn in Demokratien immer nein gesagt werde, finden derartige Sportveranstaltungen eben in Diktaturen statt.

Es stimmt, Fußball muss entkommerzialisiert werden. Aber das schaffe ich ja nicht dadurch, indem ich es negiere. Denn das Geld regiert ja trotzdem die Welt.

Gregor Gysi

Das Beispiel China ließ er ebensowenig gelten: "Den Uiguren ging es vorher auch nicht besser."

Ist das nicht Kapitalismus?

Eine etwas moralisch vorsichtigere Position nimmt dagegen der Sportphilosoph Gunter Gebauer im gleichen Sender ein: "Katar ist dabei, die gesamte Moral des Spitzenfußballs zu zerstören."

Auf die Frage des Moderators Dirk Müller, ob der Einfluss Katars und die Vermarktung der WM nicht einfach Kapitalismus sei, antwortete Gebauer: "Das ist Kapitalismus, der befeuert wird von einem feudalistischen System."

Aber warum soll man denn in Katar nicht Fußball spielen? Schließlich wird dort auch Tennis gespielt, es gibt Formel-1-Wettkämpfe, von Falkenjagd und Kamelrennen ganz abgesehen.

Warum muss ausgerechnet der Spitzenfußball Moral haben? Zumal der Fußball selber nicht moralisch gebrochen ist. Es sind die Bedingungen, die schlecht sind.