Nazivergangenheit: "Einen Endpunkt gibt es nicht in der Geschichte"

Flexibler Karrierist: Albert Speer (l.) mit Adolf Hitler und Architekt Ruff mit Bauplänen und Modellen des Reichsparteitagsgeländes in Nürnberg. Foto: Bundesarchiv / Urheber unbekannt

Warum das Naziregime nie restlos "bewältigt" ist – wie Altnazis nach dem Krieg zu Verbündeten der Westmächte wurden – und was das für nachfolgende Generationen bedeutet. Ein Gespräch mit dem Historiker Magnus Brechtken. (Teil 1)

Der Umgang mit dem Nationalsozialismus ebenso wie der Umgang mit ebendiesem Umgang ändern sich im Laufe der Zeit. Prof. Dr. Magnus Brechtken, stellvertretender Direktor des Instituts für Zeitgeschichte München-Berlin, hat ein mehr als 700 Seiten starkes Buch zu genau diesem Thema herausgegeben: Aufarbeitung des Nationalsozialismus. Ein Kompendium.

In 30 Beiträgen schreiben Brechtken und andere Historiker über einführende Perspektiven, Verfolgung und Holocaust, juristische Dimensionen, historische Orte und Erinnerungspolitik, Funktionäre und politische Akteure, Behörden und Auftragsforschung, Medien-Perspektiven, Raubkunst und Restitution, Kontroversen der Gegenwart und – in Form von zwei Interviews - Kleinkunst und Literatur.

Die Einleitung hat der Herausgeber Magnus Brechtken verfasst. Darin bietet er eine Geschichte der Aufarbeitung an – nicht der "Bewältigung", wie es oftmals heißt – wobei er die Aufarbeitung als "Kombination aus Quellensicherung, Analyse und Diskussion" (S. 9) versteht. Wieso diese Differenzierung, wie lief diese Geschichte ab, warum ändert sich der Umgang mit dem Nationalsozialismus überhaupt? Ein Gespräch mit dem Herausgeber.

Sie unterscheiden zwischen Aufarbeitung und Bewältigung. Ist das eigentlich eine neue These?

Prof. Dr. Magnus Brechtken: Der Blick ist insofern neu, als diese notwendige Klärung erstmals so durchdekliniert wird. Denn es ist wichtig, sich mit diesen Begriffen auseinanderzusetzen. Der Begriff "Aufarbeitung" wurde unmittelbar nach dem Krieg abgelehnt, etwa von Adorno, weil er meinte, dass der an Handwerk oder Möbel erinnere: daran, wie man ein Möbelstück aufarbeitet.

Deswegen passe der Begriff nicht. Im heutigen Sprachverständnis erscheint mir das völlig überholt. Die Diskussion um den oft benutzten Begriff "Vergangenheitsbewältigung" hat vielmehr gezeigt, dass "Bewältigung" deutlich problematischer und unpassender ist, weil er eben einen angenommenen Endpunkt impliziert. Den gibt es nicht in der Geschichte, auch nicht in der Diskussion über den Nationalsozialismus.

Mit der Forschung sind wir keineswegs an einem Endpunkt angelangt. Und Bewältigung war vor allem ein Begriff für die Generation, die aktiv dabei war. Diese Generation wurde oft von ihren Kindern aufgefordert, über das eigene Verhalten zu sprechen. Nicht selten verweigerten die Eltern diese Reflexion. Dieser Konflikt lässt sich als Prozess einer Bewältigung verstehen.

Das ist bei der heute aktiven Generation, die also Politik, Öffentlichkeit, Zivilgesellschaft prägt, so kaum noch der Fall. Wir, die wir heute leben und die Generation in der Verantwortung sind, haben einen historischen Zugang. Wir können das Dritte Reich nicht mehr direkt aus dem eigenen Erleben diskutieren, wir müssen einen analytischen Zugang wählen. Und das geht nur durch Aufarbeitung.

Sie schreiben, dass das Reden über den Nationalsozialismus in den 1950er und 1960er-Jahren bis heute wiederholt als "aktive Aufarbeitung" missverstanden werde. Stattdessen sei es ein "Herauserzählen" gewesen, in dem "konkrete Aspekte individueller Verantwortung und persönlicher Täterschaft beschwiegen oder verharmlost worden seien oder vernebelt" geblieben seien.

Prof. Dr. Magnus Brechtken: Ja: Diejenigen, die in den 1950er-Jahren aktiv waren und gelebt haben, das waren natürlich auch weithin diejenigen, die schon in den 1930er und 1940er-Jahren aktiv waren, also ungefähr die Jahrgänge von 1890 bis 1920. Das sind diejenigen, die den NS-Staat getragen haben, sowohl auf der Funktionsebene als auch in der breiten Masse.

Und die sehen sich natürlich nach 1945 damit konfrontiert, mit ihrer eigenen Lebensgeschichte umgehen zu müssen. Mit dem, was sie im Nationalsozialismus und für den Staat Hitlers getan hatten. In der Mehrheit haben diese Menschen vorgezogen, ihre Erlebnisse und ihr Tun zu beschweigen, also nicht darüber zu sprechen, oder eben sich herauszuerzählen.

Beschweigen meint, dass man natürlich in den 1950er-Jahren ganz gut wusste, was der Nachbar, der Arbeitskollege und andere gemacht hatten. Das offen zu diskutieren wäre für viele wohl traumatisch gewesen, nicht zuletzt wegen der moralischen Implikationen.

Es war einfacher, sich auf andere Dinge, auf die Aufgaben der Gegenwart zu konzentrieren. Das ist ein sehr menschliches Verhalten, hat aber natürlich weder mit Bewältigung noch mit Aufarbeitung zu tun, ist vielmehr eine aktive Form des Verdrängens durch Beschweigen. Seit Anfang der Sechzigerjahre war das so einfach nicht mehr möglich.

Die Historikerin Hanne Leßau hat im selben Verlag wie Sie "Entnazifizierungsgeschichten" veröffentlicht. Sie hat Dokumente wie Tagebücher, Briefe und Verfahrensakten analysiert – mit dem Ergebnis, dass die politische Überprüfung eine intensivere und ernsthaftere Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit im Nationalsozialismus angestoßen habe, als allgemein angenommen. Steht das im Widerspruch zu Ihren Forschungen?

Prof. Dr. Magnus Brechtken: Es sind verschiedene Perspektiven. Frau Leßau hat aus der britischen Zone eine Stichprobe von 800 Fällen analysiert. Sie nutzt dabei neben den Entnazifizierungsunterlagen auch Tagebücher, Briefe etc., um zu zeigen, wie sich diese Menschen mit der Entnazifizierung auseinandersetzten.

Das sind konkrete Beispiele, aus denen wir individuelle Wege ablesen können. Das ist alles ausgesprochen wichtig und weiterführend für unser Verständnis, auch mit Blick auf die Frage, warum der Nationalsozialismus für die Mehrheit der Gesellschaft nach dem Krieg dann keine Attraktivität mehr hatte.

Mit anderen Worten: Für die Frage, wie aus Millionen deutschen NS-Anhängern binnen einiger Jahre nicht-nationalsozialistische Menschen in einer demokratischen Bundesrepublik wurden. Meine Perspektive zielt auf etwa anderes, nämlich diese Gesamtgesellschaft der Bundesrepublik und die Frage, welche Gewichtung die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus in Politik, Gesellschaft und öffentlicher Diskussion einnahm, und in welchen Kategorien darüber gesprochen wurde.

Kategorien?

Prof. Dr. Magnus Brechtken: Dabei lassen sich die einschlägigen Haltungen des Nicht-aktiv-mit-der-eigenen-Verantwortung-auseinandersetzen-Wollens recht eindeutig und über lange Jahre in Politik, Medien und öffentlichen Diskursen erkennen. Nehmen wir ganz prominent das Beispiel von Albert Speer und dessen Fabeln über seine Rolle im Nationalsozialismus.

Objektiv und für jeden, der das Dritte Reich erlebt hatte oder sich die Quellen der Zeit ansah, war Albert Speer ein führender Nationalsozialist und Kriegsverbrecher, der noch Millionen Menschen in den Kriegseinsatz trieb, als die Niederlage lange absehbar war.

Nach 1945 tat er so, als sei er mehr zufällig und irgendwie schicksalhaft in seine Führungsrolle gekommen. Als habe er "nur seine Arbeit" getan, die irgendwie zufällig in die Zeit des Nationalsozialismus fiel. Speer wusste, dass er lügt, aber die ganz überwiegende Mehrheit wollte das nicht diskutieren, weil sie sich dann mit ihren eigenen Lebenslügen hätte auseinandersetzen müssen.

Für viele Millionen Deutsche, besonders die sogenannten Funktionseliten, die nun in der Bundesrepublik ihre Karrieren fortsetzten, waren Speers Fabeln eine perfekte Vorlage für das Herauserzählen. Wenn schon Speer als Freund Hitlers und allmächtiger Rüstungsminister "eigentlich" nur irgendwie von Ferne mit dem Nationalsozialismus zu tun hatte, so die Formel, dann konnten Millionen andere erst recht sagen, dass sie doch selbst "nur ihre Arbeit" gemacht hatten – vielleicht verführt, jedenfalls nicht wirklich verantwortlich. Und diese Selbsterzählung hat bei Vielen jahrzehntelang funktioniert, weil sie es so wollten und damit durchkamen.

Das war übrigens auch im Ausland willkommen, besonders in Großbritannien und den USA. Dort wirkte Speer wie eine Art Brückenerzähler zur Bundesrepublik. Ein vermeintlich reumütiger Ex-Nazi und gern gesehener Zeitzeuge, der nun als Beispiel galt, wie sich die neuen Verbündeten in der Bundesrepublik gewandelt hatten.

Woher kommen dann die Veränderungen?

Prof. Dr. Magnus Brechtken: Das ist eine Folge des Generationenwechsels. Das lässt sich sehr gut an den Reaktionen auf meine Speer-Biografie ablesen: Zum Buch kamen sehr viele Leser- und Leserinnenbriefe, die meisten von der Generation derer, die zwischen 1940 und Anfang der 1950er geboren wurden. Ich nenne das die Generation Heinrich Breloer. Der hatte 2005 ein Dokudrama über Speer gezeigt.

Er nannte als Motiv für sein immer wiederkehrendes Interesse an Themen wie diesen, dass er sich seit den 1960ern mit der Elterngeneration, deren Verantwortung und Schuld beschäftigt habe. Die Leserbriefe zu meinem Speer-Buch kamen ganz überwiegend von genau dieser Generation, mit genau diesen Motiven. Sie schrieben über ihre Erfahrungen und Kämpfe seit den 1960er-Jahren, die Auseinandersetzungen mit der Elterngeneration. Das wirkt bis heute nach.

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