Russland und Belarus: gleiche Weltsicht, andere Interessen

Sie sehen sich oft, aber selten in Minsk. Alexander Lukaschenko (l.) und Wladimir Putin im März in Moskau. Archivbild: Pressedienst des Präsidenten der Russischen Föderation / CC BY 4.0

Spekulationen um ersten Putin-Lukaschenko-Gipfel in Minsk reißen nicht ab. Sollte Belarus zum Einstieg in den Ukraine-Krieg gedrängt werden? Wie der Juniorpartner dazu steht.

Als Russlands Präsident Wladimir Putin seinen belorussischen Amtskollegen Alexander Lukaschenko am Montag in Minsk besuchte, schossen in zahlreichen westlichen Zeitungen sofort Mutmaßungen ins Kraut, was wohl der sehr bedeutende Hintergrund dieses Treffens sein könnte.

Daran ist der Kreml-Chef nicht ganz unschuldig. Seit Lukaschenko nach der Niederschlagung der Proteste im eigenen Land in Abhängigkeit von Russland geriet, fanden alle Gipfeltreffen – und das waren sehr viele – stets so statt, dass der Minsker Herrscher Putin seine Aufwartung in Russland machen musste. Außer man traf sich "zufällig" am Rande von multilateralen Terminen.

Wenn Putin sich nun plötzlich doch bequemt, in Minsk persönlich vorbeizukommen, muss es für viele Beobachter etwas Bedeutendes sein, was er von Lukaschenko will. Eine Beteiligung am in Belarus ausgesprochen unpopulären Ukraine-Krieg? Ein Vollzug der lange stecken gebliebenen staatlichen Vereinigung von Russland und Weißrussland zu einem vollständigen gemeinsamen Unionsstaat? Deutsche Zeitungen waren voll von solchen Mutmaßungen.

Offizielle erste Ergebnisse erklären das Treffen nicht

Die ersten, offiziell verkündeten Ergebnisse des Gipfeltreffens klingen dagegen vergleichsweise unspektakulär und nebulös. Man habe über wirtschaftliche und militärtechnische Themen gesprochen, verkündeten die beiden Staatschefs laut der regierungsnahen russischen Nachrichtenagentur RIA Nowosti und betonten die gegenseitige Partnerschaft.

Der Ukraine-Krieg wurde auf der Pressekonferenz dagegen nicht einmal direkt erwähnt. Dafür glänzte Lukaschenko mit seiner üblichen Selbstdarstellung gegenüber dem westlichen Feind, für den er und Putin "die schädlichsten und giftigsten Menschen auf dem Planeten" seien.

Was Putin und Lukaschenko persönlich angeht, so äußert sich die von der Machtstellung ungleiche Partnerschaft auf jeden Fall durch eine Verwandtschaft in der Weltsicht. Die exilrussische Politologin Olesja Sacharowa sieht bei beiden Herrschern darüber hinaus ähnliche politische Taktiken im Inneren. Im Bewusstsein, das eigene Land solle vom Westen in die Knie gezwungen werden, schüchterten beide Staatschefs die eigene Bevölkerung mit dem Gespenst chaotischer 1990er-Jahre ein und suchten im jeweils eigenen Land die "fünfte Kolonne des Westens".

Belarus sei auf dem Weg von einer Autokratie zum Totalitarismus, beschreibt auch der aus Minsk geflohene Politologie Artjom Schrajbman die Situation in seinem Heimatland. Er könnte damit genauso die innere Entwicklung Russlands seit dem Kriegsbeginn charakterisieren.

Nach Beginn der russischen Ukraine-Invasion seien zwischen beiden Staatschefs, wie Sacharowa es nennt, buchstäblich "Flitterwochen" ausgebrochen, mit ständigen Treffen, bei denen man danach vor allem die gegenseitige Einigkeit verkündet.

Lukaschenko will kein "dreieiniges" Volk

Doch ganz so harmonisch, wie es beide Seiten darstellen, ist das Verhältnis nicht. Putin verfolgt seit 2021 offensiv sein Konzept eines "dreieinigen" russischen Volkes, das aus Russen, Weißrussen und Ukrainern besteht. Das bedeutet aber nicht nur für die Ukrainer, dass er ihnen eine eigene Volkseigenschaft abspricht, sondern auch für die belorussische Bevölkerung.

Betont bedeckt hält sich zu solchen Ideen Lukaschenko - die Macht zu einem Widerspruch besitzt er nicht mehr, doch wirklich hingezogen zu dieser "Dreifaltigkeit" fühlt er sich nicht. Wie Sacharowa es formuliert, hat er sich damit abgefunden, Juniorpartner Russlands zu sein, doch er möchte, soweit er es noch vermag, ein unabhängiger Juniorpartner sein und spricht gerne von geistig nahen, aber unabhängigen Nationen und einer "gerechten Gemeinschaft" zwischen Russland und Belarus.

So blieb die beim Gipfel in Minsk demonstrierte Harmonie stellenweise recht künstlich. Das gilt nicht nur bei der viel zitierte Szene, als Putin vor Ort nach dem Betreten eines Gebäudes stark nach rechts schwenkte, Lukaschenko alleine stehen und sich von diesem auch nicht zu einem Kurswechsel bewegen ließ.

Ein Ergebnis, das verkündet wurde, war dann an Ende ein neuer Gaspreis für die Weißrussen, dessen Höhe ebenso ungenannt blieb wie weitere Teile der bilateralen Gespräche.

Was hinter dem Nebel steckt, beschäftigt alle

Auch russische Journalisten glaubten nicht, dass Gemeinplätze gegenüber dem Westen und eine Einigung über den Gaspreis die einzigen Inhalte der ernsten Gespräche hinter verschlossenen Türen gewesen sind. Die Journalisten flatterten "wie die Spatzen" um die mitgereisten russischen Außen- und Verteidigungsminister und versuchten ihnen Details der bilateralen Gespräche zu entlocken, beschreibt der Kommersant-Kolumnist Andrej Kolesnikow die Szenerie vor Ort.

Erfolg hatten sie dabei nicht, die beiden Minister hüllten sich in Schweigen, gingen "notfalls zum Rauchen", um den Fragen der Journalisten auszuweichen.

So wird die Zeit der Spekulationen auch nach dem Gipfeltreffen nicht vorbei sein. Sollte Putin Lukaschenko tatsächlich dazu zwingen, gegen den Willen von 90 Prozent der belorussischen Bevölkerung militärisch mit eigenen Truppen in den Ukraine-Krieg "einzusteigen", würde dies die Machtbasis des Weißrussen erheblich schwächen.

Der russische Journalist und Analyst Maxim Samorukow prophezeit für diesen Fall und belorussische Gefallene im Ukraine-Krieg sogar eine so weitgehende Destabilisierung in Minsk, dass Russland gezwungen wäre, endgültig die direkte Kontrolle über Weißrussland zu übernehmen, um die Situation zu retten.

Eine solche auch für den Kreml unvorteilhafte Situation, die große Energien binden würde, wäre ein Zeichen von Verzweiflung. Denn die aktuelle Situation – die russischen Truppen können in Belarus weitgehend schalten und walten wie sie wollen und Minsk markiert nur oberflächlich den "Neutralen" – wirkt für beide Seiten komfortabler, solange Russland auch ohne belorussische Soldaten den im Februar entfesselten Krieg gewinnen kann – oder zumindest überzeugt ist, dies zu können.