Was geschieht, wenn soziale Brennpunkte wirklich in Flammen stehen?

Ausgebrannter Reisebus, Berlin - nach Auskunft von Anwohnern durch Feuerwerkskörper. Bild: Krank-Hover/CC BY-SA 4.0

Seit dem Jahreswechsel wird wieder einmal über Jugendgewalt, Zuwanderung und Parallelgesellschaften diskutiert. Die Debatte zeugt von der Nervosität der politischen Klasse. Kommentar.

"Unfassbares" soll sich in der Silvesternacht in Frankfurt, Essen oder Hagen abgespielt haben, "schockierende Szenen" eines "Böllerkriegs", wie es ihn "in dieser Qualität noch nicht gab". So jedenfalls heißt es bei Welt, Süddeutscher Zeitung, Tagesschau und in den Talkshows.

"Gewalttäter" haben mit ihren "Silvesterkrawallen" "den Staat herausgefordert". Selbst "Helfer" seien angegriffen worden, mittlerweile eine gängige Sammelbezeichnung für Sanitäter, Feuerwehrleute und Polizisten – Uniformierte eben, "die für uns alle den Kopf hinhalten", wie der Bundespräsident sagt, auch wenn mancher Kopf im stabilen Helm eines Kampfanzugs steckt. Wie immer, Politiker und Journalisten zeigen sich betroffen: "Woher kommt die Gewalt?"

Die Bewohner der Viertel, wo die Armen und Zugewanderten leben, stellen sich eine andere Frage: Woher kommt die plötzliche Empfindsamkeit?

An jedem Silvester kommt es zu bewusster Selbst- und Fremdgefährdung und zu Vandalismus, werden Polizisten mit Feuerwerkskörpern und Flaschen beworfen. Selbst Brandstiftung und Barrikaden aus Mülltonnen sind nichts Neues, und sie waren dieses Jahr nicht häufiger als in vorangegangen.

Walla Krawalla

Einige Vertreter von Grünen und Linken sehen "Diskriminierungserfahrungen" von Migranten am Werk. Vertreter von AfD, CSU und CDU dagegen machen einen zu liberalen Umgang mit der Jugend verantwortlich. Letztlich glaubt das eine Lager, dass die Randalierer therapiert und umerzogen werden können, während das andere diesen Versuch für aussichtslos hält - wegen "Kultur"!

CDU-Chef Friedrich Merz sieht die Schuld bei notorisch respektlosen "arabischstämmigen jungen Männern", und der CDU-Bundestagsabgeordnete Stefan Heck meint: "Da hilft nicht der 13. Integrationskurs, da hilft nur noch der Staatsanwalt!"

Als die Berliner Polizei Zahlen über die an Silvester Verhafteten veröffentlichte – zwei Drittel hatten die deutsche Staatsbürgerschaft –, forderte die CDU-Fraktion der Hauptstadt ernsthaft eine Liste mit den Vornamen der Festgenommenen, um die Nationalität der Eltern herauszufinden.

Die heftigen Ausschreitungen in Sachsen und anderswo gingen völlig unter, obwohl beispielsweise in Borna bei Leipzig teils vermummte Jugendliche Polizisten beschossen.

Volksfest und Gewalt passen immer schon gut zueinander. Das Fest bietet eine günstige Gelegenheit, um Aggressionen auszuleben, ob bei einem Weinfest in der Provinz oder beim Oktoberfest oder eben an Silvester in einer Großstadt. Dass etwas üblich ist, macht es natürlich nicht besser und schon gar nicht gut, Menschenverachtung darf nicht beschönigt oder verharmlost werden.

Manche Hobby-Pyrotechniker nehmen schwere Verletzungen von anderen in Kauf, zielen beispielsweise mit Raketen in geöffnete Fenster, auf Passanten oder die Feuerwehr: "Doch nur Spaß!" Rituale der Dominanz, wie ein Autorennen in einem Wohnviertel, mischen sich mit der Wut auf die Verhältnisse. Der Wunsch, das alles in die Luft zu sprengen, ohne Gnade und ohne Unterschiede zu machen.

Gewalt ist Pfui

Die vermeintlichen Parallelgesellschaften einer sogenannten Mehrheitsgesellschaft einander gegenüberzustellen, ergibt keinen Sinn. Alle teilen haargenau dieselben Werte: ökonomischer Erfolg und Konsum, Macht und Durchsetzungsvermögen.

Drei bis vier Jahrzehnte Neoliberalismus haben Spuren hinterlassen, auch in den armen und migrantischen Stadtvierteln. Unterschiedliche Bevölkerungsgruppen leben für sich und sprachlos nebeneinander her. Gesten der Solidarität sind rar.

Bei Bertolt Brecht heißt es: "Der reißende Strom wird gewalttätig genannt. Aber das Flussbett, das ihn einengt, nennt keiner gewalttätig." Junge Menschen sehen einer langsamen, aber anhaltenden Verarmung entgegen, die sie mit besonderer Anstrengung ausgleichen sollen.

Sie sehen miserablen Arbeitsverhältnissen entgegen, einem ausgehöhlten Sozialwesen und heruntergewirtschafteten öffentlichen Diensten, einer ruinierten Umwelt, einer beängstigenden Zukunft. Niemanden kann es wundern, dass sich ihre Frustration irgendwie, irgendwo Bahn bricht, auch wenn es abstoßend aussehen mag.

Eine Präventiv-Staatsschutz-Debatte

Die Lebensverhältnisse und Zukunftsaussichten der jungen Generation tauchen in der Debatte nicht auf, sollen nicht auftauchen. Eben dazu dient die moralisierende Empörung und das Gerede über Anstand.

Das Ausmaß der Silvesterausschreitungen wird übertrieben, die ganze Sache aufgebauscht – aber warum? Man befürchtet, die Randalierer würden die staatliche Autorität herausfordern, statt einfach nur die Sau herauszulassen.

Auf Herausforderungen reagiert die politische Klasse zunehmend nervös. Sie spürt, dass die Legitimität ihrer Herrschaft schwindet. Das Silvester-Chaos bietet nur einen Anlass, um vorbeugend die Fronten auszutesten, sollten die sogenannten sozialen Brennpunkte einmal wirklich in Flammen stehen.