Was bringt die Wahlrechtsreform?

Deutschland hat das weltweit größte Parlament nach Chinas Volkskongress. Das soll sich seit Langem ändern. Nur wie?

Die Regierungskoalition hat einen Vorschlag zur Reform des Wahlrechts vorgelegt. Ziel ist es, den Bundestag auf seine derzeit gesetzlich vorgesehene Größe von 598 Abgeordneten zu bringen. Aktuell haben 736 Abgeordnete einen Sitz im Reichstagsgebäude.

Erreicht werden soll dies dadurch, dass ggf. nur noch so viele Abgeordnete über die Erststimme in den Bundestag einziehen, wie der Partei Sitze nach ihrem Zweitstimmenanteil zustehen. Damit wäre nicht mehr automatisch aus jedem Wahlkreis ein Abgeordneter in Berlin vertreten. CDU und CSU sind erwartbar gegen den Vorschlag, weil er ihre derzeitige Position verschlechtern würde.

2012 hatte das Bundesverfassungsgericht Regelungen in dem ein Jahr zuvor beschlossenen "Neunzehnte Gesetz zur Änderung des Bundeswahlgesetzes" für nichtig erklärt. Schon dieses Änderungsgesetz ging auf eine Entscheidung des Verfassungsgerichts zurück.

Doch zunächst zum ursprünglichen Problem. Mit der Erststimme werden bei Bundes- und Landtagswahlen unmittelbar Personen gewählt, nämlich für jeden Wahlkreis derjenige mit den meisten Stimmen. Das Verfahren nennt sich Mehrheitswahl (deutlicher wäre: Meiststimmenwahl). "The winner takes it all", würde man auf Englisch sagen. Bei sehr vielen Kandidaten kann jemand so auch mit recht kleinem Stimmanteil den Wahlkreis für sich entscheiden.

Holen von zehn Kandidaten acht jeweils zehn Prozent, einer nur neun und einer elf, gewinnt der Elf-Prozent-Kandidat den Wahlkreis. Die so bestimmten Wahlkreisabgeordneten sollen die Hälfte des Parlaments bilden, im Bund also 299 Sitze für derzeit 299 Bundestagswahlkreise.

Die andere Hälfte der Sitze wird über die Zweitstimme vergeben, mit der Parteien gewählt werden. Von diesen 299 Plätze werden in jedem Bundesland nach Größe eine bestimmte Anzahl vergeben, aufgeteilt auf die einzelnen Parteien nach ihrem Zweitstimmenergebnis, wobei Parteien, die weniger als fünf Prozent der Stimmen erhalten haben, unberücksichtigt bleiben. Deshalb ist der tatsächliche Anteil an Sitzen, den eine Partei erhält, in der Regel etwas größer als nach dem unmittelbaren Wahlergebnis.

Zur Veranschaulichung ein extremes Beispiel: Es kandidieren 21 Parteien. Davon erhalten 20 jeweils genau vier Prozent der Stimmen und eine Partei 20 Prozent. Da 20 Parteien an der Fünf-Prozent-Hürde scheitern, bekommt die 20-Prozent Partei 100 Prozent der Parlamentssitze.

Die Plätze, die eine Partei gewinnt, werden zunächst von ihren Wahlkreisgewinnern besetzt, der Rest wird dann über sogenannte Landeslisten gefüllt, die die Parteien zuvor intern aufgestellt haben.

Zu einer Verzerrung kommt es nun, wenn einer Partei nach der Zweistimme weniger Sitze zustehen, als sie bereits über die Erststimme errungen hat. Das passiert regelmäßig in Bayern.

Die CSU holte bei der letzten Bundestagswahl 2021 mit insgesamt nur 36,9 Prozent der Erststimmen 45 von 46 Wahlkreisen und hatte darüber bereits 45 Abgeordnete im Bundestag. Nach ihrem Zweitstimmenergebnis (31,7 Prozent) standen ihr jedoch überhaupt nur 34 Plätze zu. Damit nun die zusätzlich bereits über die Erststimme gewählten elf Abgeordneten (Überhangmandate) nicht zu einer Verhältnisverzerrung führen, erhalten die anderen Parteien Ausgleichsmandate.

Denn das Bundesverfassungsgericht sieht nachvollziehbarerweise die Zweitstimme als die demokratisch entscheidende an: Der Bundestag soll in seiner Zusammensetzung dem Verhältnis der gewählten Parteien entsprechen.

Die Überhang- und Ausgleichsmandate führen im aktuellen Bundestag dazu, dass dort 138 Abgeordnete mehr sitzen als eigentlich vorgesehen. Und verschiedene Modellrechnungen zeigen, es könnten sogar noch deutlich mehr werden.

Der Vorschlag der Ampel-Koalition sieht nun vor, sich nur noch am Zweitstimmenverhältnis zu orientieren, die daher auch "Hauptstimme" heißen soll. Damit werden also die 598 Sitze nach dem Verhältnis dieser Hauptstimmenanteile vergeben. Wie bisher werden die Sitze zunächst mit den Gewinnern der Wahlkreise eines Bundeslands besetzt. Gibt es danach jedoch mehr Gewinner, als der Partei nach dem Anteil an der Haupstimme zustehen, gehen die Kandidaten mit den schlechtesten Zustimmungswerten leer aus.

An diesem Vorschlag der Regierungskoalition wird kritisiert, dass damit nicht mehr jeder Wahlkreis im Bundestag vertreten wäre. Denn diese Abgeordneten werden regelmäßig nicht nur als Vertreter ihrer Partei, sondern auch ihrer Region angesehen, über die Bürger beispielsweise in den Sprechstunden in den Wahlkreisbüros ihre Anliegen einbringen können.

Verteidiger des Entwurfs halten dem entgegen, schon heute sei nicht immer jeder Wahlkreis vertreten. So hat der ehemalige SPD-Außenminister Heiko Maas zum Jahreswechsel sein Mandat niedergelegt. Er hatte den Wahlkreis Saarlouis gewonnen, der nun nicht mehr im Bundestag vertreten ist. Denn Nachrücker kommen über die Landeslisten, eine Neuwahl in Wahlkreisen gibt es nicht.

Dass selbst in Bayern nicht alle über Wahlkreise (bzw. dort konkret: Stimmkreise) mit der Erststimme Gewählte auch ins Parlament einziehen, musste der Berliner CSU-Abgeordnete Thomas Silberhorn erfahren, der den Reform-Vorschlag auf Twitter wie folgt kommentiert hatte:

#Wahlrechtsreform: #Ampel-Plan ist ein Paradigmenwechsel zu reinem Verhältniswahlrecht. Zweitstimme wird "Hauptstimme", Erststimme bloße Nebenstimme, ggf. ohne jeden Erfolgswert. Wo sonst auf der Welt kann man einen #Wahlkreis gewinnen, aber nicht ins Parlament kommen? @cducsubt

MdB Thomas Silberhorn am 17. Januar 2023 auf Twitter

Zahlreiche User wiesen ihn darauf hin, dass bei bayerischen Landtagswahlen nur diejenigen Wahlkreisgewinner auch ins Parlament kommen, deren Partei landesweit auf mindestens fünf Prozent der Stimmen kommt (Art. 14 Abs. 4 der Verfassung des Freistaats Bayern).