Syrien: Erst das Erdbeben, dann Islamisten-Terror

Kurdische Bewohner der Erdbebenregion sollen bei der Verteilung von Hilfsgütern benachteiligt werden. Foto: ANF

In Nordsyrien versuchen türkeinahe dschihadistische Milizen, von der Katastrophe zu profitieren – durch Handel mit geraubten Hilfsgütern und Schmuck von Toten.

Das Erdbeben vom 6. Februar hat auch im Nordwesten Syriens schwere Schäden angerichtet. Die Stadt Jindires im türkisch besetzten Kanton Afrin ist zu 80 Prozent zerstört. Aber auch im von Dschihadisten kontrollierten, arabisch geprägten Idlib und im kurdischen Viertel Sheik Massoud in Aleppo gibt es immense Schäden.

Ständige heftige Nachbeben bringen die noch stehenden schwer beschädigten Häuser zum Einsturz. Internationale Hilfe kommt spärlich an und wird teilweise von der islamistischen Syrischen Nationalen Armee (SNA), die von der Türkei finanziert wird und anderen Dschihadisten-Milizen geraubt.

Späte Hilfe kostet Menschenleben

In Jindires, etwa 20 Kilometer südwestlich von Afrin-City, starben mindestens 1.000 Menschen durch das Erdbeben, Tausende wurden verletzt. Etwa 5.000 Familien sollen obdachlos geworden sein. Zuletzt lebten rund 30.000 Menschen in der Stadt, das heißt, mehr als 24.000 Menschen sind allein in dieser Stadt obdachlos geworden. Internationale Hilfe kam erst nach zwei bis drei Wochen spärlich an.

Geschlossene türkische Grenzen sind ein Hauptgrund für die verspätete Hilfe. Egal, ob türkische Besatzer, Dschihadisten oder das syrische Regime: Das Erdbeben wird politisch instrumentalisiert und bei der Verteilung der Hilfsgüter wird wieder einmal die kurdische Bevölkerung besonders benachteiligt.

Die Zivilverwaltung von Afrin steht seit 2018 unter der Kontrolle des Gouverneurs von Hatay in der Türkei. Der Schutz und die Versorgung der Zivilbevölkerung fällt nach internationalem Recht damit automatisch in die Zuständigkeit der Türkei.

In Afrin herrschen seit der türkischen Militäroffensive "Operation Olivenzweig" im Jahr 2018 und der anschließenden Besatzung der Region, syrische Oppositionsgruppen, die unter türkischer Führung in der Syrischen Nationalen Armee (SNA) zusammengeschlossen wurden, sowie der syrische Ableger der al-Qaida, die Terrororganisation Hay’at Tahrir ash-Sham (HTS).

Der kurdische Politiker Ibrahim Murad, selbst aus Afrin stammend und zeitweise Vertreter der syrisch-kurdischen Selbstverwaltung in Deutschland, berichtet gegenüber Telepolis, was Augenzeugen vor Ort erzählen: Humanitäre Hilfe von offizieller Seite aus dem Ausland sei bisher nicht nach Jindires gelangt.

Die einzige Organisation, die mit einem Konvoi über die Türkei und den Grenzübergang Bab al-Hawa nach Jindires gelangt ist, ist die Barzani-Charity-Foundation aus dem nordirakischen kurdischen Autonomiegebiet, der sich einige Initiativen auch aus Deutschland angeschlossen haben. Die meisten Hilfeleistungen sind jedoch persönliche Initiativen der Kurden in Europa und der Welt, die Spenden sammeln und diese an kurdische Hilfsorganisationen überweisen.


Ibrahim Murad

Die kurdische Regionalregierung im Nordirak wird von dem feudalistisch-konservativen Barzani-Clan regiert und arbeitet eng mit Recep Tayyip Erdogans Regime in der Türkei zusammen. Demokratische Bewegungen sind ihm ebenso ein Dorn im Auge wie dem Erdogan-Clan. Korruption und Vetternwirtschaft, autokratische Herrschaft und die Bekämpfung demokratischer, multikultureller Bewegungen sind gemeinsame Merkmale.

Das kurdische Nachrichtenmagazin ANHA berichtete am 23. Februar, dass die nordirakische Barzani-Regierung keine nationalen oder internationalen Hilfslieferungen über den Grenzübergang Pêşxabûr/Semalka in das Gebiet der Autonomen Administration von Nord- und Nordostsyrien (AANES) passieren lässt.

Auch das syrische Regime verhindert immer wieder Hilfslieferungen aus dem Gebiet der AANES in die Enklave Sheba, wo hunderttausende vertriebene, überwiegend kurdische Familien aus Afrin in Zeltstätten oder verlassenen Häusern unter schwierigsten Bedingungen leben. Um nach Sheba zu gelangen, müssen die Fahrzeuge durch syrisches Regime-Gebiet, denn die einzige Zufahrtsstraße ist auf deren Territorium.

Fünf Tage musste ein Hilfskonvoi, bestehend aus sieben Lastwagen, beladen mit Arzneimitteln, Hilfsgütern und Säuglingsnahrung warten, um passieren zu dürfen. Ein Konvoi mit Hilfsgütern und medizinischem Personal vom Kurdischen Roten Halbmond (Heyva Sor a Kurdistane) konnte ebenfalls erst nach einer Woche zäher Verhandlungen und der Vermittlung internationaler Organisationen die Stadt Aleppo erreichen.

Das syrische Regime verlangte von den Konvois der Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien (AANES) und dem Kurdischen Roten Halbmond, 70 Prozent der Hilfsgüter an das Regime abzugeben. Fee Baumann vom Kurdischen Roten Halbmond berichtet in einem Interview mit der Menschenrechtsorganisation Medico Internatonal, dass sie auch dem Syrisch-Arabischen Roten Halbmond (SARC) angeboten haben zu kooperieren, um ihre Hilfe dort anbieten zu können, wo sie benötigt wird: "Wir haben das schon häufiger versucht, aber nicht besonders gute Erfahrungen gemacht. In der aktuellen Notsituation finden neue Gespräche statt, zurzeit über die UN als Vermittlerin", so Baumann.

Humanitäre Prinzipien sollten besonders in solchen Notlagen an erster Stelle stehen, betont sie. Leider seien Versuche der Kooperation an politischen Differenzen mit dem regimetreuen SARC gescheitert. Der Syrisch-Arabische Rote Halbmond lehne kurdische Organisationen prinzipiell ab. Dabei seien die Mitarbeitenden von Heyva Sor nicht einmal alle kurdischer Herkunft, sondern "ein breit aufgestelltes Team aus Araber:innen, Jesid:innen, Alevit:innen etc.".

Dass selbst in so seiner katastrophalen Notlage, wie nach diesem verheerenden Erdbeben die politischen Differenzen über der akuten Nothilfe stehen, ist fatal und zeigt, wie schwierig es im syrischen Kontext ist, Hilfe zu leisten.


Fee Baumann, Medico International

Ungleiche Verteilung der wenigen Hilfsgüter im Nordwesten Syriens

In den Sozialen Medien kursieren schockierende Aussagen und Videoclips, die zeigen, wie die noch verbliebene kurdische Bevölkerung bei der Verteilung der Hilfsgüter benachteiligt wird. Mitglieder der dort herrschenden Dschihadisten und die von der Türkei finanzierte "Syrische Nationale Armee" (SNA) sollen die nach der türkischen Besatzung 2018 anstelle der vertriebenen kurdischen Bevölkerung angesiedelten arabischen Familien bevorzugt haben.

Kurdische Opfer des Erdbebens seien von ihnen ihres Schmuckes beraubt worden. Ein Augenzeuge aus der Stadt Jindires im Kanton Afrin berichtet: "Stellen Sie sich vor, bewaffnete Männer der Fraktionen, die wussten, dass die Bewohner der eingestürzten Häuser Kurden waren, holten die Opfer unter den Trümmern heraus, wobei der Schmuck und das Gold sich noch auf den Körpern der weiblichen Opfer befand.

Einer der bewaffneten Männer behauptete, diese Familie gehöre zu ihm und dieses Haus sei seines, und dann nahm er die Leichen in sein Auto und fuhr sie nach Afrin. Auf dem Weg wurden den weiblichen Opfern all ihr Gold und Schmuck, wie Armreifen, Ohrringe und Halsketten ausgezogen. Dann übergab der bewaffnete Kämpfer die Leichen der Opfer einem Krankenhaus in Afrin und behauptete, er habe sie unter den Trümmern herausgeholt."

Auch aus Afrin-City gab es ähnliche Berichte. Abu Walat, ein kurdischer Bewohner der Stadt berichtete:

Nachdem das Gebäude wegen des Erdbebens einstürzte, zogen die Bewohner die Opfer unter den Trümmern heraus. Die erste Person, die herausgezogen wurde, war die Frau eines Mitglieds der Familie Darouzi, und sie trug Schmuck in der Hand. Einer der Bewaffneten nahm sie unter dem Vorwand mit, sie ins Krankenhaus zu bringen, aber die Leiche der Frau verschwand danach…

Nachdem ihre Fotos in WhatsApp-Gruppen veröffentlicht wurden, um sie identifizieren zu können, wurde festgestellt, dass sie in der Stadt Qibtan al-Jabal, nordwestlich von Aleppo, begraben wurde. Ihre Familie ging dorthin und brachte ihren Leichnam zurück, allerdings ohne jeglichen Schmuck am Körper.


Abu Walat, Augenzeiuge aus Afrin-City

Von der Türkei unterstützte Milizen rauben Hilfskonvois aus

Ibrahim Murad berichtet, pro-türkische Milizen entzögen der Bevölkerung vorsätzlich Hilfe: "Es gibt Informationen, die bestätigen, dass die Milizen einen Teil des Geldes und der Hilfsgüter beschlagnahmen, die als Hilfe für die Menschen ankommen, und die Hilfsgüter dann auf Märkten verkaufen.

Wie die syrische North Press Agency berichtete, umstellte am 10. Februar die Dschihadisten-Miliz Sultan Suleiman Shah mit bewaffneten Männern Hilfsgütertransporter der Barzani Charity Foundation (BCF) und zwang sie zur Herausgabe ihrer Ladung. Am 14. Februar überfiel Jaysh al-Sharqiya, eine Miliz der türkisch finanzierten SNA, die das Gebiet um die Stadt Jindires kontrolliert, einen weiteren Hilfskonvoi der BCF und beschlagnahmte alle Güter.

Am 15. Februar beschlagnahmte die Terrororganisation Hay’at Tahrir ash-Sham (HTS) vier Lastwagen mit Spenden, die von zivilgesellschaftlichen Organisationen und Stämmen aus den arabischen Regionen im Nordosten Syriens geschickt worden waren. Der Konvoi war für Jindires bestimmt, wurde aber von der HTS nach al-Dana in der Region Idlib umgeleitet.

Am 26. Februar soll die Hamza Division, eine weitere SNA- Miliz, ebenfalls Hilfsgüter beschlagnahmt und verkauft haben. An den Checkpoints der SNA werden vorbeifahrende Hilfskonvois zur Zahlung von Gebühren gezwungen. In der Nähe des türkischen Grenzübergangs Bab al-Hawa auf dem Weg nach Jindires erhebt die Dschihadistenmiliz Faylaq al-Sham (Nordsektor) für jeden in die Stadt einfahrenden Hilfskonvoi "Gebühren".

North Press berichtet weiter: "Die SNA-Fraktionen zwingen die in der Region tätigen Nichtregierungsorganisationen, mehr als 100 Teile jeder Art von Hilfsgütern, die an die betroffenen Menschen in Jindires im Umland von Afrin geschickt werden, zu reservieren, um sie später an ihre Kämpfer zu liefern".

Die Hilfsgüter sollen dann später in den von ihnen kontrollierten Städten mit einem hohen Aufschlag verkauft werden. Die Islamistenmiliz Sultan Muhammad al-Fateh stahl in Afrin 29 Nothilfezelte, die für 200 bis 300 Dollar pro Stück verkauft wurden. In der Stadt Baadina besetzten die Milizionäre Häuser, um sich als Erdbebenopfer auszugeben, die eine Entschädigung benötigen.

In Jindires begann die Miliz von Sultan Suleiman Shah, eingestürzte Häuser wohlhabender Einwohner zu plündern. Es sollen auch falsche Geflüchtetenlager in der Region Afrin von der SNA errichtet werden, um Spendengelder und Hilfsgüter von NGO’s dorthin zu leiten.

Die 2018 von der Türkei eingesetzten "lokalen Räte" in Afrin sollen Berichten zufolge zu den Profiteuren der kriminellen Machenschaften gehören. So soll beispielsweise das ‚Büro für Hilfe‘ der Stadtverwaltung von Afrin in Zusammenarbeit mit einem korrupten AFAD-Beamten über tausend Zelte an private Wiederverkäufer zu einem Preis von 700 Türkischen Lira (37 US-Dollar) pro Stück verkauft haben.

Türkei plant mit Katar den Wiederaufbau von Jindires

Am 18. Februar besuchte eine Delegation aus Katar mit dem Botschafter von Katar in der Türkei, Mohammed bin Nasser bin Jassim Al Thani, die Stadt Jindires. Der katarische Diplomat soll über den Grenzübergang Hamam (Hatayhamami) eingereist sein. "Für humanitäre Lieferungen ist dieser Grenzübergang auch zwei Wochen nach dem Beben noch geschlossen", berichtet Dr. Kamal Sido, Nahostexperte der ‚Gesellschaft für bedrohte Völker‘. "Nur Angehörige der türkischen Besatzungsmacht, Waffen und Munition dürfen passieren, nicht aber Hilfsgüter für die notleidende kurdische Bevölkerung."

Katar plant schon seit längerem gemeinsam mit der Türkei weitere Siedlungen für in der Türkei lebende, islamistische arabische und tschetschenische Familien zu bauen, die loyal gegenüber dem türkischen Staat sind. Beide Staaten unterstützen den radikalen sunnitischen Islam.

Sido berichtet über Pläne der Türkei und Katar, an der Stelle der zerstörten Kleinstadt Jindires eine neue Stadt mit dem Namen "Madinat Al Karama": "Für die lokale kurdische Bevölkerung sind diese Baupläne eine Katastrophe. Einige sprechen bereits von einem Genozid an der kurdischen Bevölkerung Afrins."

Unter dem Deckmantel humanitärer Hilfe würden tausende weitere arabische und turkmenische Familien in Afrin angesiedelt. Da die Türkei Afrin vollständig militärisch kontrolliere und keine unabhängigen Beobachter und Medien in die Region lasse, könne sie die ethnische Säuberung noch schneller vorantreiben, erklärte Sido. Seit der türkischen Besetzung Afrins sank der kurdische Bevölkerungsanteil dort von 97 auf unter 35 Prozent.

Seit März 2018 ist Katar mit der Organisation ‚Qatar Charity‘ in Afrin mit der Türkei beim Siedlungsbau aktiv. 100 neue Siedlungen wurden schon in den Regionen der vertriebenen oder ermordeten kurdischen Bewohner für geflüchtete arabische und turkmenische Familien aus der Türkei gebaut, die ursprünglich aus ganz anderen Regionen Syriens stammen.

Für die 300.000 vertriebenen Kurden aus der Region Afrin, die seit 2018 in etwa 40 Dörfern und fünf Lagern in der Sheba-Region leben, sind diese Siedlungen nicht gedacht. Diese Siedlungen sollen den demographischen Wandel, der Arabisierung der ehemals zu 97 Prozent kurdisch bewohnten Region beschleunigen.

In der Sheba-Region wurden durch das Erdbeben ca. tausend Häuser stark beschädigt, einige sind unbewohnbar geworden, drei Schulen wurden zerstört. Nun sind 20.000 vom Erdbeben betroffene Menschen aus Aleppo in die Region geflüchtet. Die Selbstverwaltung leistete mit 400 Zelten zur Unterbringung der betroffenen Familien und 25 Liter Heizöl für jede Familie Soforthilfe. 420 Zelte sollen in den Lagern von Sardam, al-Awda und Barkhodan aufgestellt werden, um Neuankömmlinge aufzunehmen, berichtet North Press.