Könnte es sein, dass nicht die Klima-Aktivisten "bekloppt" sind, sondern der Bundeskanzler?

Klimaaktivisten und Scholz – ein schwieriges Verhältnis. Bild: Leonhard Lenz

Ton gegen "Letzte Generation" und Mitstreiter verschärft sich. Das ist Ausdruck von Regierungsversagen. Welche Prioritäten nun gesetzt werden müssten. Ein Gastkommentar.

Bundeskanzler Scholz bezeichnete die Klebeaktionen der "Letzten Generation" als "völlig bekloppt". Hat er recht?

Man kann natürlich darüber streiten, ob die Aktionen dem Klimaschutz dienen. Unübersehbar ist aber, dass es den Aktivisten gelungen ist, das Thema Klima wieder in das öffentliche Bewusstsein zurückzubringen. Das allein ist ein historisches Verdienst der jungen Leute.

Denn die Politik hat es zugelassen, dass mit aufgeregten Debatten über Ukraine, Russlandsanktionen, Weiterbetrieb der Atomkraftwerke, "Trauzeugen-Affäre" die echten Überlebensfragen der Menschheit in den Hintergrund gedrängt wurden.

Dies zeigt entweder fehlendes Problembewusstsein der für unsere Zukunft Verantwortlichen oder – schlimmer noch – deren Verantwortungslosigkeit.

Tragisch ist, dass die Politik den Ernst der Lage immer noch nicht begriffen hat. Denn sonst würde sie nicht mit völlig unverhältnismäßigen Maßnahmen wie Präventivhaft, Hausdurchsuchungen, Beschlagnahmen und Homepagesperren gegen die Klimaaktivisten vorgehen.

Es scheint, dass die orientierungslose Politik der großen Parlamentsmehrheit mit blindem Aktionismus von ihrem jahrzehntelangen Versagen in der Klimapolitik ablenken will. Bei nüchterner Gesamtschau sind die Aktionen der "Letzten Generation" zwar nicht unmittelbar zielführend.

Aber es ist offensichtlich, dass die kritisierten Aktionen Zeichen von Hilflosigkeit und tiefer Verzweiflung derjenigen sind, die ihre Zukunft noch vor sich haben.

Trotz apokalyptischer Bedrohungsszenarien werden Klima- und Umweltprobleme immer noch wie Plagegeister behandelt, die man glaubt, durch beharrliches Wegschauen vertreiben zu können.

Es ist makaber: Wir sägen emsig an dem Ast, auf dem wir alle sitzen, und messen voll Stolz die wirtschaftliche Leistung des Sägens, ohne zu bedenken, dass der Ast, je fleißiger wir sägen, desto eher abbrechen wird. Wie naiv muss man sein, um angesichts dieser fatalen Fehlentwicklung kein Verständnis für die wachsende Ungeduld junger Menschen zu haben?

Verantwortliche sitzen in weichen Kabinettsstühlen

Ist es nicht grob ungerecht, junge Menschen, die auf Missstände aufmerksam machen, ins Gefängnis zu werfen und diejenigen, die das Malheur verursacht haben, auf weichen Kabinettsstühlen sitzenzulassen?

Das erinnert irgendwie an das Schicksal von Wikileaks-Gründer Julian Assange, der für seine Enthüllungen von US-Kriegsverbrechen seit Jahren im Knast sitzt, während die Verursacher der Verbrechen Pensionen und weltweites Ansehen genießen.

Ich bin 80 Jahre alt und habe viel Sympathie für Greta Thunberg und die Leute von "Fridays for Future", "Extinction Rebellion" und der "Letzten Generation". Wenn ich jung wäre und mich mit der heutigen Weltlage konfrontiert sähe, wäre ich wahrscheinlich Teil ihres kollektiven Aufbegehrens.

Deshalb habe ich kein Verständnis für einen Kanzler, der das Verhalten junger besorgter Menschen mit dem Begriff "bekloppt" abwertet.

Noch weniger Verständnis habe ich für arrivierte Politiker wie Merz und Söder, die ihren großmäuligen Parteifreund Dobrindt gewähren lassen, wenn er junge mutige Menschen, die für ihren verzweifelten Protest klaglos Freiheitsstrafen in Kauf nehmen, als "Klima-RAF" verunglimpft.

Wer solches sagt, zeigt, dass er entweder nicht Herr seiner Sinne ist, oder nur das Ziel verfolgt, andere zu verunglimpfen. Solche Leute sind Verleumder und gehören vor Gericht.

Schlussbemerkung: Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner denkwürdigen Entscheidung vom 24. März 2021 auf Klage der Generation Fridays for Future ausdrücklich betont, dass Art. 20a des Grundgesetzes eine staatliche Klimaschutzpflicht für künftige Generationen begründet.

Vor diesem Hintergrund bleibt die Hoffnung, dass die Gesellschaft baldmöglichst erkennt, dass nicht das Festkleben auf Autostraßen ein verabscheuungswürdiges Verbrechen ist, sondern der leichtfertige Umgang der politisch Verantwortlichen mit den Zukunftschancen der Menschheit.