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20 Jahre WWW: Prinzipienschwemme im Cyberspace

Weltkarte, für die die Größe der Länder nach der Zahl der Internetbenutzer für das Jahr 1990 gestaltet wurde. Bild: www.worldmapper.org/2006 SASI Group (University of Sheffield) and Mark Newman (University of Michigan)/CC-Lizenz

Wie Regierungen Softlaw nutzen, um das Internet zu regulieren, und warum eine Internetdiplomatie des 21. Jahrhunderts entwickelt werden muss

Als am 6. August 1991 Tim Berners-Lee am CERN in Genf eine kurze Zusammenfassung seines WorldWideWeb-Projekts bei der alt.hypertext-Newsgroup veröffentlichte, hat das die Politik nicht weiter interessiert. Die Welt war mit dem Ende des kalten Krieges beschäftigt und die politisch Verantwortlichen hatten keine Ahnung, was das Internet ist oder werden könnte.

Zwanzig Jahre später sind immer mehr Regierungen dabei, die Folgen von Berners-Lee Erfindung unter Kontrolle zu bekommen. Das Jahr 2011 könnte als das "Jahr der staatlichen Internetprinzipien" in das Internet-Geschichtsbuch eingehen

Das Internet ist mittlerweile die Leiter der politischen Prioritäten hinauf geklettert und hat jetzt sogar die G8 erreicht. Als Obama, Medwedew, Sarkozy, Merkel, Cameron, Berlusconi, Harper, Kan und Barroso sich Ende Mai 2011 im französischen Badeort Deauville trafen, war Internetpolitik ein Topthema auf ihrer Tagesordnung.

Drei der 15 Seiten der Deauville-Erklärung [1] befassen sich mit dem Internet. Und als "Highlight" einigten sich die G8-Führer "auf einer Reihe von Grundsätzen, einschließlich der Freiheit, Achtung der Privatsphäre und des geistigen Eigentums, Multi-Stakeholder-Governance, Cybersicherheit ​​und Schutz vor Verbrechen". Die Erklärung betont ausdrücklich, dass eine solche Einigung "zum ersten Mal auf der Ebene der Staats- und Regierungschefs" getroffen wurde.

Aber es sind nicht nur die G8, die das Internet als Thema für große Politik entdeckt haben. Europarat, OECD, OSZE und NATO haben ähnliche Initiativen zur Ausarbeitung von Internet Prinzipien gestartet. US-Präsident Barack Obama hat 10 Prinzipien in seinem im Mai 2011 veröffentlichten Strategiepapier zur internationalen Politik im Cyberspace [2] vorgeschlagen. EU-Kommissarin Nelly Kroes bietet sieben Prinzipien [3] an für einen "Internet Compact", den sie Ende Juli 2011 in die Diskussion warf. Brasilien, Indien und Südafrika - im Namen der Gruppe der 77 - hatten schon die 65. UNO-Generalversammlung im Herbst 2010 aufgerufen, eine "neuen zwischenstaatlichen Internet-Plattform" zu schaffen die zu einem Art Internet-Weltvertrag führen könnte. Und ein G20-Treffen, an dem dann auch China teilnimmt, ist für November 2011 in Cannes geplant.

Was bedeutet diese Schwemme an Prinzipien für das Internet? Warum ein solcher Internet-Prinzipien-Hype? Und was wird rauskommen aus diesem staatlichen Prinzipien-Aktionismus?

1980er Jahre: Die Netiquette

Gehen wir zurück zur Geschichte. Das Internet war nie eine rechtsfreie Zone. Die Regeln waren aber meist technische Natur und entwickelten sich eher im Schatten staatlicher Regulierung. Im Gegensatz zur Erfindung von Telekommunikation und Rundfunk - die frühzeitig in einen ordnungspolitischen Rahmen nationaler Telekommunikations- und Rundfunk-Gesetze gedrängt wurden - hatte nach der Erfindung des TCP/IP-Protokolls niemand die Absicht, ein nationales Internetgesetz oder eine internationale Internetkonvention auszuarbeiten.

Die selbstregulierenden Mechanismen, die durch die Internet-Community - damals eine kleine Gruppe von Freaks und Geeks - eingeführt wurden, waren ausreichend, um die entstehende Netzwerke zu verwalten. Die RFCs (Request for Comment), 1969 von Steve Crocker gestartet, avancierten zum "Lawbook of the Internet". Sie formulierten die notwendigen Regeln um Stabilität und Flexibilität des Internet zu gewährleisten und auftretende Probleme in den Griff bekommen.

Ein Beispiel war die "Netiquette", die eine Reihe von ethischen Normen als Richtlinien für faires Internet-Verhalten von individuellen Nutzern definierte. Die Netiquette entstand in den frühen 1980er Jahren, als textbasierte Email, Telnet, Usenet, Gopher, Wais und FTP von Bildungs- und Forschungseinrichtungen den Internetverkehr dominierte.

Das WWW war ein Wendepunkt für das Internet. Innerhalb von ein paar Jahren explodierte die Zahl der Internetnutzer und erreichte 300 Millionen im Jahr 1995. Den Internetpionieren wurde schnell klar, dass sie etwas mit ihren internen Regeln machen müssen. Im Oktober 1995 veröffentliche Sally Hambridge von Intel ein neues RFC - das berühmten RFC 1855 [4] - das die "Netiquette im Internet" zusammenfassend beschrieb:

Today the community of Internet users includes people who are new to the environment. These "Newbies" are unfamiliar with the culture and don't need to know about transport and protocols. In order to bring these new users into the Internet culture quickly, this Guide offers a minimum set of behaviors which organizations and individuals may take and adapt for their own use.

Sally Hambridge

RFC 1855 enthält eine Reihe von guten Vorgaben wie das berühmte "Robustheitsprinzip", besser bekannt als "Postel's Law", vom RFC 761 [5]: " Be conservative in what you send; be liberal in what you accept." Aber RFC 1855 enthält auch Regeln wie "Keine unerwünschten Emails versenden" und "Achte die Urheberrechte".

Das Problem mit der Netiquette war, dass es keinen Vollstreckungsmechanismus hatte. Verantwortliche Nutzer respektierten die Regeln, aber unverantwortliches Verhalten blieb ungestraft. Das Schlimmste, was einem Ignoranten passieren konnte, war, dass er "geflamet" wurde und die Reputation in der Community verlor. Als Ende der 90er Jahre Kriminelle, Hassprediger, Pädophile, Vandalen und Terroristen das Netz zu besiedeln begannen stieß die "Netiquette" aber endgültig an ihre Grenzen.

Weltkarte zur Darstellung der Zahl der Internetbenutzer für das Jahr 2007. Bild: www.worldmapper.org/2006 SASI Group (University of Sheffield) and Mark Newman (University of Michigan)/CC-Lizenz [6]

Privatsektor oder Regierungen?

Insoweit war es verständlich, dass einige Regierungen bereits Mitte der 1990er Jahre über so etwas wie einen staatliche Rechtsrahmen für das Internet nachzudenken begannen. EU-Kommissar Martin Bangemann nutzte eine ITU-Konferenz in Genf im September 1997, um eine Deklaration über Grundprinzipien der Informationsgesellschaft [7] vorzuschlagen.

Bangemanns Idee fiel nicht auf fruchtbaren Boden. Die gerade entstehende Internetwirtschaft befürchtete, dass eine solche Regierungserklärung die freie, dynamisch und offene Entwicklung des Internet nicht fördern, sondern beschränken würde. Und die US-Regierung war in Sorge, dass eine UN-gesponserte Prinzipien-Erklärung die eher kontraproduktive politischen UNESCO-Debatte um eine "Neue Welt-Informations- und Kommunikationsordnung" (NWIKO) aus den 80er Jahren wiederbeleben könnte.

Der Privatsektor gründete daraufhin proaktiv den "Global Business Dialogue on eCommerce" (GBDe) und versprach, einen eigenen Selbst-Regulierungsmechanismus für das Internet zu erarbeiten. Und die US-Regierung nahm Kurs auf die Schaffung der Internet Corporation for Assigned Names and Numbers [8] (ICANN) die 1998 als privates Unternehmen gegründet wurde und ein Mandat zum Management der kritischen Internet-Ressourcen - Root Server, Domainnamen, IP-Adressen, Internet-Protokolle - bekam. Bei ICANN haben die Regierungen nur eine beratende Rolle.

Nicht jeder war jedoch glücklich mit ICANN und dem Führungsanspruch des privaten Sektors. Als die UNO im Jahr 2002 den Weltgipfel zur Informationsgesellschaft [9] (WSIS) startete, argumentierte z.B. China, die Führung durch den Privatsektor sei zwar gut für ein Internet mit einer Million Nutzern gewesen, für ein Internet mit einer Milliarde Nutzern aber würde nun eine staatliche Führung benötigt.

Internet Governance rückte plötzlich ins Rampenlicht eines politischen Machtkampfes: USA vs. China, ICANN vs. ITU, "private sector leadership" vs. "governmental leadership".

Es brauchte drei Jahre kontroverser Verhandlungen und die intensive Arbeit einer UN Working Group on Internet Governance [10] (WGIG), die vom ehemaligen UN-Generalsekretär Kofi Annan 2004 eingesetzt wurde, bis ein Kompromiss erreicht wurde.

Die WGIG verwarf die Idee des Prinzips einer "one-stakeholder leadership" und schlug ein Multi-Stakeholder-Modell vor, bei dem Regierungen, Privatwirtschaft und Zivilgesellschaft - in ihren jeweiligen Rollen - eng zusammenarbeiten sollten. Die Ausarbeitung von "Prinzipien, Normen, Regeln, Entscheidungsverfahren und Programme zur weiteren Internetentwicklung" sollte "gemeinsam" (shared) erfolgen.

Die WGIG-Empfehlungen - einschließlich der Definition mit den Elementen "multistakeholder governance" und "shared decision making" - wurden in die Tunis-Agenda [11] übernommen und von den mehr als 150 Staats- und Regierungschefs, die am 2. WSIS-Gipfel teilnahmen, verabschiedet (Digitales Gewimmel im Cybersouks [12]). Die "Tunis-Agenda" enthält auch einen Beschluss zur Gründung des Internet Governance Forum [13] (IGF) sowie einige, allerdings sehr vage generelle Internet-Prinzipien wie Freiheit, Sicherheit und Stabilität, Gleichberechtigung und Souveränität von nationalen Regierungen in ihrer jeweiligen Länderdomain (ccTLD).

Das IGF wurde schnell der Platz, wo heftig über die Fortentwicklung der "Internet-Prinzipien" gestritten wurde. Beim 2. IGF in Rio de Janeiro (November 2007) formierte sich eine so genannte "Dynamic Coalition on Internet Rights and Principles". Diese "Dynamische Koalition der Willigen", an der einige Regierungen und Internet-Unternehmen, Akademiker und Aktivisten der Zivilgesellschaft teilnahmen, produzierte innerhalb von drei Jahren ein umfangreiches und gut durchdachtes Dokument mit einer eigenständigen Internet-Prinzipien-Erklärung. Erst unlängst beim 4. EURODIG in Belgrad war dieses Dokument, das z.B. Filtern und Blocken als Verletzung der Informationsfreiheit bezeichnet, Gegenstand heftiger Diskussionen

Das IGF hat keine Entscheidungsmacht. Ergebnisse der "Dynamischen Koalitionen" sind für die Partner und Teilnehmer des IGF nicht verbindlich. Sie sind aber Stoff zum Nachdenken und Inspiration zum Handeln.

Neuer Ansatz zur Internetpolitik

Tatsächlich löste das IGF einen Prozess des Überdenkens der Notwendigkeit für einen globalen Internet-Ordnungsrahmen aus. Während bald ein grober Konsens entstand, dass etwas "auf dem Papier" zu haben keine so eine schlechte Idee ist, vertiefte sich erneut der Streit zwischen den Gruppen, die eine rechtsverbindliche Internet-Konvention wollten und denen, die für eine eher weiche Lösung plädierten, für eine Art "Soft Law", eine völkerrechtlich unverbindliche allgemeine politische Erklärung mit generellen Grundsätzen und Richtlinien, die im Einzelfall helfen könne zu erkennen, was gutes und was schlechtes Verhalten im Internet ist.

Mit mehr als zwei Milliarden Internetnutzern ist das Netz nicht mehr ein Ort für Geeks und Freaks. Es spiegelt die Welt in ihrer Gesamtheit wider, mit all ihren Mängeln. Und da bedarf es schon ein paar von allen zu beachtende Grundregeln um das Internet und seine Freiheiten in seiner dynamischen Weiterentwicklung vor Missbrauch zu schützen.

Im Jahr 2011 ist das Internet nun im Mittelpunkt der Weltpolitik und der Weltwirtschaft gelandet. In den Vereinten Nationen argumentierten die G77-Länder schon 2008, dass es einen "missing link" im globalen Internet Governance Eco-System gibt und schlugen einen neuen zwischenstaatlichen Mechanismus vor mit der Option, daraus einen Internetvertrag zu entwickeln, der u.a. auch die Aufsicht über ICANN übernehmen könnte. 2009 berief die Reykjavik-Ministerkonferenz des Europarates eine "Crosse-Border-Internet-Expert Group" und gab ihr das Mandat, die Wünsch- und Machbarkeit eines juristischen Instruments für das Internet zu prüfen. 2010 schlug die US-Regierung der OECD vor "Prinzipien für eine globale Internet-Politik" auszuarbeiten. Und als Frankreich die G8-Präsidentschaft übernahm, kündigte Präsident Sarkozy im Januar 2011 an, dass das Internet die erste Priorität seiner G8-Präsidentschaft sein.

"Die Welt muss gemeinsam die Herausforderungen durch böswillige Akteure im Cyberspace erkennen" argumentierte US-Präsident Obama in seiner "Internationalen Strategie im Cyberspace" im Mai 2011.

Aktivitäten im Cyberspace haben Konsequenzen für unser reales Leben. Die Zukunft eines offenen, interoperablen, sicheren und zuverlässigen Cyberspace hängt davon ab, inwieweit es uns gelingt, rechtsstaatliche Prinzipien durchzusetzen um die Risiken des Internet zu reduzieren ohne die Vorteile und Freiheiten des Internet zu minimieren.

Barack Obama

Paradigmenwechsel

Was wir hier sehen, ist ein weitreichender Paradigmen-Wechsel. Die politisch unlösbare Kontroverse "No Law vs. Hard Law" scheint sich unter dem Einfluss des Multistakeholder-Modells in der Option eines neuen "Soft Law" aufzulösen. De facto ist das eine Art Widerbelebung der "Netiquette", die sich diesmal aber nicht nur an die Internet-Community, sondern an alle Regierungen, Unternehmen und die Zivilgesellschaft wendet.

Ein solcher Soft-Law-Ansatz könnte tatsächlich zweierlei tun: Er erlaubt die Fortsetzung der Flexibilität und der Freiheit des Internet, die es braucht für seine weitere Entwicklung, und ermöglicht ein höheres Maß an Sicherheit und Stabilität, was wiederum nötig ist, um das Vertrauen der nächsten Milliarde von Internetnnutzern und der nächsten Generation vom Internet-Unternehmer zu bekommen.

Der Soft-Law-Ansatz ermöglicht es auch über den klassischen zwischenstaatlichen Mechanismus völkerrechtlicher Verträge hinausgehen und innovative Partnerschaften und Kooperationen zwischen staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren bei der Entwicklung politisch-rechtlichen Rahmenbedingungen zu ermöglichen.

Einige gute historische Parallele bietet die Allgemeine Menschenrechtserklärung der UN von 1948. Nach dem 2. Weltkrieg musste man was tun, um Menschenrechte zu fördern. Eleanor Roosevelt, die dem Ausschuss zur Ausarbeitung von Instrumenten zum Schutz der Menschenrechte vorstand, empfahl damals auch, zunächst einen Soft-Law Ansatz zu wählen um schnell zu Ergebnissen zu gelangen. Die Menschenrechtsdeklaration von 1948 ist rechtlich nicht bindend. Es dauerte weitere 18 Jahre ehe die beiden rechtlich verbindlichen Menschenrechtskonventionen unterzeichnet wurden (1966) und weitere 20 Jahre, bis die überwältigende Mehrheit der UN-Mitgliedsstaaten den Vertrag auch ratifiziert hatte.

Die juristisch unverbindliche Form der Menschenrechtsdeklaration von 1948 hat aber ihrer politischen Bedeutung nicht geschadet. Individuen können zwar diese Rechte nicht vor einem Gericht einklagen. Wie die "Netiquette" vor 20 Jahren, reduziert sich das Einklageverfahren auf "naming and shaming". Das aber ist gar nicht so wirkungslos, wie eben auch die Menschenrechtserklärung gezeigt hat. Es ist leider wahr, dass nach wie vor dauernd Menschenrechte verletzt werden, aber in der Regel wollen Regierungen vermeiden, an den internationalen Pranger gestellt zu werden.

Im Prinzip sind also "Prinzipien" gut. Sie geben Orientierung und liefern Kriterien zur Beurteilung individuellen und kollektiven Verhaltens im Cyberspace. Und natürlich ist es viel einfacher, einen Konsens rund um unverbindliche Grundsätze zu erreichen als sich auf rechtlich verbindliche Normen zu einigen.

Noch ist der ganze Prozess, der möglicherweise zu einer Internet-Deklaration führen könnte, eher nebulös. Aber nach dem der Europarat (im Juni 2011) und die OECD (im Juli 2011) Dokumente angenommen, die Regierungen der USA, der EU und der G8 sich zu Internet-Prinzipien geäußert und Indien, Brasilien und Südafrika ihren Vorschlag zur Schaffung einer neuen Regierungsplattform bei der ECOSOC Tagung Ende Juli 2011 in Genf bekräftigt haben, ist es sinnvoll, einmal detaillierter in die verschiedenen Vorschläge zu schauen.

Ein erster kurzer Vergleich all dieser neuen Dokumente führt zu drei interessanten Schlussfolgerungen die verdeutlichen, dass auf der Ebene allgemeiner Prinzipien die verschiedenen Ansätze gar nicht so weit voneinander entfernt sind:

  1. Alle Parteien unterstützen das Multi-Stakeholder Internet Governance Modell.
  2. Alle Parteien unterstützen die historisch gewachsenen Architektur des offenen Internet (E2E).
  3. Alle Parteien identifizieren Menschenrechte, Sicherheit, Wirtschaftswachstum und Entwicklung als die wichtigsten Bereiche für eine globale Internetpolitik.

Das neue magische Viereck

Der Teufel liegt natürlich aber im Detail. Und selbst der Soft Law-Ansatz ist voller Landminen, da Regierungen und Organisationen ziemlich unterschiedliche Vorstellungen haben, wie die Architektur einer globalen Internet-Prinzipien Deklaration aussehen sollte. Für die einen - z.B. die USA und NATO - steht die Sicherheit des Internet an oberster Stelle, für die anderen - der Europarat - die Menschenrechte und die individuellen Freiheiten. Die Gruppe der 77 sieht Entwicklung als oberstes Prinzip und die OECD hat die Entwicklung der Internetwirtschaft und der Schutz des geistigen Eigentums ganz oben auf ihrer Prioritätenliste.

Das Problem ist, dass in einem Konfliktfall, bei dem legitime Interessen aber unterschiedliche Wertvorstellungen aufeinanderprallen, unterschiedliche Institutionen zu sich widersprechenden Lösungen für das gleiche Problem kommen.

Dabei bedeutet die Menschenrechts-Priorisierung des Europarates ja keineswegs, dass der Europarat Sicherheit, Wirtschaftlichkeit und Entwicklung als Nebensächlichkeit ansieht. Und die OECD und die US-Regierung ignorieren nicht Menschenrechte und Entwicklung wenn sie der Sicherheit und der Wirtschaftlichkeit Vorrang geben. Und wenn die G 77 Entwicklung in den Vordergrund stellt, ist das ja kein Plädoyer gegen die Internetsicherheit .

Die Schwierigkeit ist, die im Einzelfall konfligierenden Interessen und Werte fair gegeneinander abzuwägen. Niemand wird da einen Schlüssel für eine Patentlösung haben oder den Königsweg kennen. Das Risiko ist auch hier die Extremlösung. Wer der Cybersicherheit individuelle Menschenrechte und Freiheiten opfert unterminiert genauso die Stabilität und das weitere Wachstum das Internet wie derjenige, der unter Berufung auf individuelle Freiheiten die Strafverfolgung von Kriminellen oder den Schutz von geistigem Eigentum im Internet ablehnt.

Den Mittelweg zu finden, ist eine außerordentlich komplizierte Herausforderung, die an Komplexität kaum zu übertreffen ist. Wir werden in der Zukunft sehen, dass es bei der Internet-Kontroverse nicht nur um einen Kampf zwischen (demokratischen und weniger demokratischen) Regierungen geht oder zwischen staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren, sondern dass dies eine grundlegende Auseinandersetzung ist zwischen Sicherheits-, Wirtschafts- und Menschenrechts- und Entwicklungsaktivisten in Regierungen, Unternehmen und in der Zivilgesellschaft. Es entsteht praktisch ein magisches Viereck, in dem Menschenrechte, Sicherheit, Wirtschaftswachstum und Entwicklung im Cyberspace neu gegen- und miteinander ausgewogen werden müssen. Das ist viel Stoff für neue politische Konflikte deren Ausgang noch ziemlich offen ist.

Die Verhandlungen um die OECD-Grundsätze [14] waren eine erstes Beispiel dafür, wie schwierig es ist, in einer Multistakeholder-Umgebung einen Konsensus zu finden. Die OECD, eine zwischenstaatliche Organisation, hatte sich bei ihrer Ministerkonferenz 2007 in Seoul diesem Multi-Stakeholder-Modell geöffnet und Privatsektor, technische Gemeinschaft und Zivilgesellschaft eingeladen, beratende Ausschüssen zu bilden, um die OECD bei der Entwicklung von Internetpolitiken zu beraten. In der letzten Phase der OECD-Verhandlungen im Juli 2011 widersprach nun der Beratungsausschuss der Zivilgesellschaft (CSISAC [15]) zwei Prinzipien. CSISAC, die rund 100 NGOs und Nutzerorganisationen vertritt, war der Ansicht, dass die OECD-Grundsätze den Wirtschaftsinteressen von Unternehmen zu Lasten der Menschenrechte individueller Nutzer Vorrang geben, insbesondere im Hinblick auf zwei der 15e OECD-Grundsätze, und zwar die zum Schutz geistigen Eigentums und der Haftung für Internet Service Provider. Die OECD-Regierungen, einschließlich der US-Regierung, unternahmen große Anstrengungen, um CSISAC zum Einlenken zu bewegen. Der Konflikt war aber nicht überbrückbar und CSISAC entschied, der OECD-Deklaration die Unterstützung zu verweigern.

Der Europarat hat noch keinen internen Multi-Stakeholder-Mechanismus. Er organisierte aber im April 2011 in Strasbourg eine hochrangige Multi-Stakeholder-Konferenz vor der Ausarbeitung der endgültigen Fassung seiner Internet-Prinzipienerklärung [16]. Während dieser Konferenz wurde deutlich, dass die nicht-staatlichen Akteure eine Menge der Ideen des Europarates unterstützen. Sie verwarfen aber die Idee, ein Dokument, das von Regierungen angenommen wurde, lediglich zu unterzeichnen. Sie forderten eine gleichberechtigte Partnerschaft in einem offenen und transparenten Bottom-up-Prozess bei der endgültigen Formulierung von Internet-Softlaw. Der Europarat, der sehr offen für das Multi-Stakeholder-Modell ist, erwägt nun die Fortsetzung der Diskussion im Jahr 2012 und überlegt, wie er die zwischenstaatlichen "Internet Governance Prinzipien-Erklärung" in ein Multi-Stakeholder "Framework of Commitments" (FOC) bewerkstelligen kann.

Aufbruch in politisches Neuland

Die Komplexität wird noch komplizierter, denn selbst dort, wo es Übereinstimmung in der Wortwahl gibt, gibt es tiefen Unterschiede im Verständnis. Das trifft insbesondere auf das vage definierte Grundprinzip "Multistakeholder Governance" zu. Einige Regierungen haben erkannt, dass dieses Prinzip weit über die etablierten Verfahren politischen Entscheidungsfindung zwischen Regierungen hinausgehen, für andere Regierungen aber ist Multistakeholderismus lediglich ein Lippenbekenntnis, ein schöner aktueller Slogan der den Kernbereich traditioneller staatlicher Politikentwicklung nicht berührt.

Das wird nicht funktionieren. In der WGIG-Definition, die mehr als 150 Regierungschefs als Grundlage für Internet Governance 2005 akzeptiert haben, wird ausdrücklich festgeschrieben, dass Politikentwicklung (auch zur Erarbeitung von Normen und Prinzipien) sowie Entscheidungsfindung als gemeinsame Aufgabe aller Stakeholder gesehen wird. Die nichtstaatlichen Stakeholder also auszusperren, wenn Entscheidungen gefällt werden, kann da nicht angehen. Internet Governance ist keine "Master-Slave-Beziehung", in der die Regierungen diktieren, was die technische Community, der Privatsektor und die Zivilgesellschaft zu machen haben. Multistakeholder ist nicht Diktat, sondern Dialog, eine neue Partnerschaft, in der alle Interessengruppen, einschließlich der Regierungen, auf gleicher Augenhöhe und in ihren jeweiligen Rollen miteinander kommunizieren, koordinieren und kollaborieren.

Mit anderen Worten: Die Werkzeuge der Diplomatie des 20. Jahrhunderts, wo Regierungen hinter verschlossenen Türen Deals aushandelten, die allenfalls noch von individuellen Lobbyinteressen großer Unternehmen beeinflusst waren, sind nicht mehr hinreichend, um die Probleme der Internetwelt des 21. Jahrhunderts zu meistern. Was gebraucht wird, ist eine neue Internetdiplomatie des 21. Jahrhunderts. Und das braucht neue Instrumente und Formen der Interaktion zwischen staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren.

Keine Frage, das ist schwierig. Für Regierungen ist es sicherlich neu, dass sie sich bemühen müssen, um eine zivilgesellschaftliche Gruppe wie CSISAC an Bord zu holen (wie im OECD-Fall) oder dass sie mit Entscheidungen, die sie nicht mögen (wie in Fall von ICANNs Entscheidung zu neuen gTLDs) leben müssen.

Aber einen Weg zurück zu einer klassischen Politik von oben ist weitgehend versperrt oder nur um den Preis einer Zerstörung des Internet zu haben. Es gibt keinen anderen Weg, als sich vorwärts in ein noch unerschlossenes politisches Terrain zu bewegen. Was wir brauchen, ist Innovation und Kreativität nicht nur bei der Entwicklung neuer Internet-Anwendung und Dienstleistungen, sondern auch in der Internetpolitik.

Es ist wahr, das Multistakeholder-Prinzip ist noch nicht definiert. Und auch das Verfahren, wie die Stakeholder bei der Entwicklung von Politiken, ihrer Verabschiedung und ihrer Exekution zusammenarbeiten, ist noch nicht geschrieben. Multi-Stakeholder-Governance ist ein Schritt in politisches Neuland.

Man braucht keine prophetischen Gaben um vorauszusehen, dass Internet Governance eines der wichtigsten politischen Schlachtfelder in den 2010er Jahren wird. Bereits in der zweiten Hälfte des Jahres 2011 wird die Auseinandersetzung fortgesetzt: Im September 2011 findet der 6. IGF in Nairobi statt, im Oktober 2011 startet der 2. Ausschuss der 66. UN-Generalversammlung seine Internetdiskussion in New York und im November 2011 treffen sich die Führer der G20, darunter auch China, Brasilien, Indien, Südafrika und andere G77-Mitglieder, in Cannes.

Wolfgang Kleinwächter ist Professor für Internetpolitik und -regulierung an der Universität Aarhus. Er war Mitglied der UN Working Group on Internet Governance (WGIG) und leitet die Cross-Border Internet Expert Group des Europarates. Er äußert hier seine persönlichen Ansichten.


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Links in diesem Artikel:
[1] http://www.g20-g8.com/g8-g20/g8/english/the-2011-summit/declarations-and-reports/declarations/renewed-commitment-for-freedom-and-democracy.1314.html
[2] http://www.whitehouse.gov/sites/default/files/rss_viewer/international_strategy_for_cyberspace.pdf
[3] http://blogs.ec.europa.eu/neelie-kroes/i-propose-a-compact-for-the-internet/
[4] http://www.ietf.org/rfc/rfc1855.txt
[5] http://tools.ietf.org/html/rfc761
[6] http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/
[7] http://cfi.au.dk/fileadmin/www.cfi.au.dk/publikationer/cfis_skriftserie/003_kleinwachter.pdf
[8] http://icann.org/
[9] http://www.itu.int/wsis/index.html
[10] http://www.wgig.org/
[11] http://www.itu.int/wsis/documents/doc_multi.asp?lang=en&id=2267|0
[12] https://www.heise.de/tp/features/Digitales-Gewimmel-im-Cybersouks-3403718.html
[13] http://www.intgovforum.org/
[14] http://www.oecd.org/dataoecd/40/21/48289796.pdf
[15] http://csisac.org/
[16] http://www.coe.int/t/dghl/standardsetting/media-dataprotection/conf-internet-freedom/Internet%20Governance%20Principles.pdf